Empirie, er braucht sich doch nur zum Theil dar- auf zu verlassen; er kann jenes Zeugniss berichti- gen. Die Krankheitssymptome sind Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung; was ihnen zum Grunde liegt, oder die Krankheit selbst, entzieht sich den Sinnen, und dies ist das Unbekannte, was der Dogmatiker sucht; die veranlassenden Ur- sachen der letztern lassen sich wieder durch Beobach- tungen ausmachen. Die Krankheitssymptome, die Krankheit selbst, und deren veranlassenden Ursa- chen machen also eine Kette von Ursachen und Wirkungen aus, worin der Dogmatiker das erste und letzte Glied kennt, oder wenigstens zu er- kennen im Stande ist, und das mittlere aufsucht. Ist das erste Glied anders, so muss auch das letz- te anders seyn, und umgekehrt. Mangelhafte Kenntniss des erstern kann folglich der Dogmatiker durch genauere Untersuchung des letztern, und mangelhafte Kenntniss des letztern durch sorgfäl- tigere Erforschung des erstern berichtigen. Uebri- gens muss auch das grösste Genie bey der Empirie unter der Last der unzähligen zerstreuten Thatsa- chen erliegen. Nur dann assimilirt sich das Man- nichfaltige dem Geiste, nur dann bleibt es ihm im- mer gegenwärtig, wenn er Einheit darin erblickt. Und diese Einheit findet er nur beym Dogmatismus.
Nach dem bisher Vorgetragenen lässt sich nicht weiter zweifeln, dass medicinische Praxis ohne al-
len
Empirie, er braucht sich doch nur zum Theil dar- auf zu verlassen; er kann jenes Zeugniſs berichti- gen. Die Krankheitssymptome sind Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung; was ihnen zum Grunde liegt, oder die Krankheit selbst, entzieht sich den Sinnen, und dies ist das Unbekannte, was der Dogmatiker sucht; die veranlassenden Ur- sachen der letztern lassen sich wieder durch Beobach- tungen ausmachen. Die Krankheitssymptome, die Krankheit selbst, und deren veranlassenden Ursa- chen machen also eine Kette von Ursachen und Wirkungen aus, worin der Dogmatiker das erste und letzte Glied kennt, oder wenigstens zu er- kennen im Stande ist, und das mittlere aufsucht. Ist das erste Glied anders, so muſs auch das letz- te anders seyn, und umgekehrt. Mangelhafte Kenntniſs des erstern kann folglich der Dogmatiker durch genauere Untersuchung des letztern, und mangelhafte Kenntniſs des letztern durch sorgfäl- tigere Erforschung des erstern berichtigen. Uebri- gens muſs auch das gröſste Genie bey der Empirie unter der Last der unzähligen zerstreuten Thatsa- chen erliegen. Nur dann assimilirt sich das Man- nichfaltige dem Geiste, nur dann bleibt es ihm im- mer gegenwärtig, wenn er Einheit darin erblickt. Und diese Einheit findet er nur beym Dogmatismus.
Nach dem bisher Vorgetragenen läſst sich nicht weiter zweifeln, daſs medicinische Praxis ohne al-
len
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0156"n="136"/>
Empirie, er braucht sich doch nur zum Theil dar-<lb/>
auf zu verlassen; er kann jenes Zeugniſs berichti-<lb/>
gen. Die Krankheitssymptome sind Gegenstände<lb/>
der sinnlichen Wahrnehmung; was ihnen zum<lb/>
Grunde liegt, oder die Krankheit selbst, entzieht<lb/>
sich den Sinnen, und dies ist das Unbekannte,<lb/>
was der Dogmatiker sucht; die veranlassenden Ur-<lb/>
sachen der letztern lassen sich wieder durch Beobach-<lb/>
tungen ausmachen. Die Krankheitssymptome, die<lb/>
Krankheit selbst, und deren veranlassenden Ursa-<lb/>
chen machen also eine Kette von Ursachen und<lb/>
Wirkungen aus, worin der Dogmatiker das erste<lb/>
und letzte Glied kennt, oder wenigstens zu er-<lb/>
kennen im Stande ist, und das mittlere aufsucht.<lb/>
Ist das erste Glied anders, so muſs auch das letz-<lb/>
te anders seyn, und umgekehrt. Mangelhafte<lb/>
Kenntniſs des erstern kann folglich der Dogmatiker<lb/>
durch genauere Untersuchung des letztern, und<lb/>
mangelhafte Kenntniſs des letztern durch sorgfäl-<lb/>
tigere Erforschung des erstern berichtigen. Uebri-<lb/>
gens muſs auch das gröſste Genie bey der Empirie<lb/>
unter der Last der unzähligen zerstreuten Thatsa-<lb/>
chen erliegen. Nur dann assimilirt sich das Man-<lb/>
nichfaltige dem Geiste, nur dann bleibt es ihm im-<lb/>
mer gegenwärtig, wenn er Einheit darin erblickt.<lb/>
Und diese Einheit findet er nur beym Dogmatismus.</p><lb/><p>Nach dem bisher Vorgetragenen läſst sich nicht<lb/>
weiter zweifeln, daſs medicinische Praxis ohne al-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">len</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[136/0156]
Empirie, er braucht sich doch nur zum Theil dar-
auf zu verlassen; er kann jenes Zeugniſs berichti-
gen. Die Krankheitssymptome sind Gegenstände
der sinnlichen Wahrnehmung; was ihnen zum
Grunde liegt, oder die Krankheit selbst, entzieht
sich den Sinnen, und dies ist das Unbekannte,
was der Dogmatiker sucht; die veranlassenden Ur-
sachen der letztern lassen sich wieder durch Beobach-
tungen ausmachen. Die Krankheitssymptome, die
Krankheit selbst, und deren veranlassenden Ursa-
chen machen also eine Kette von Ursachen und
Wirkungen aus, worin der Dogmatiker das erste
und letzte Glied kennt, oder wenigstens zu er-
kennen im Stande ist, und das mittlere aufsucht.
Ist das erste Glied anders, so muſs auch das letz-
te anders seyn, und umgekehrt. Mangelhafte
Kenntniſs des erstern kann folglich der Dogmatiker
durch genauere Untersuchung des letztern, und
mangelhafte Kenntniſs des letztern durch sorgfäl-
tigere Erforschung des erstern berichtigen. Uebri-
gens muſs auch das gröſste Genie bey der Empirie
unter der Last der unzähligen zerstreuten Thatsa-
chen erliegen. Nur dann assimilirt sich das Man-
nichfaltige dem Geiste, nur dann bleibt es ihm im-
mer gegenwärtig, wenn er Einheit darin erblickt.
Und diese Einheit findet er nur beym Dogmatismus.
Nach dem bisher Vorgetragenen läſst sich nicht
weiter zweifeln, daſs medicinische Praxis ohne al-
len
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/156>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.