in einem andern Falle anwenden zu können, müs- sen beyde völlig mit einander übereinstimmen. Aber in der lebenden Natur giebt es keine zwey Fälle, wobey eine solche Uebereinstimmung statt findet. Sie wechselt unaufhörlich ihre Gestalten, und nimmt nie die vorigen wieder an, und nir- gends thut sie dies mehr, als in Krankheiten. Der Empiriker kann daher blos nach dem Grundsatze handeln, dass einerley Ursache in Fällen, die in ei- nigen Stücken übereinstimmen, ähnliche Wirkun- gen hervorbringen wird, das heisst, sich blos durch Analogie in seiner Praxis leiten lassen. Analogie kann indess nie unmittelbar, sondern nur mittelbar durch entscheidende Versuche, die sie veranlasst, zur Gewissheit führen. Aber der Arzt soll und darf keine Versuche anstellen; er soll Ge- wissheit haben, um zu handeln, und nicht han- deln, um Gewissheit zu erhalten. Was bleibt also von der Kunst des Empirikers übrig?
Ganz anders ist es mit dem Dogmatiker. Zwar bedarf auch er, so gut wie der Empiriker, einer Kenntniss der Symptome der Krankheit, die er hei- len soll; zwar stehn auch ihm bey Erwerbung die- ser Kenntniss die nehmlichen Hindernisse im We- ge, womit dieser zu kämpfen hat. Auch er muss sich auf das trügliche Zeugniss des Kranken und des Gefühls verlassen. Aber, und dies ist der Hauptvorzug des Dogmatismus vor der rationellen
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in einem andern Falle anwenden zu können, müs- sen beyde völlig mit einander übereinstimmen. Aber in der lebenden Natur giebt es keine zwey Fälle, wobey eine solche Uebereinstimmung statt findet. Sie wechselt unaufhörlich ihre Gestalten, und nimmt nie die vorigen wieder an, und nir- gends thut sie dies mehr, als in Krankheiten. Der Empiriker kann daher blos nach dem Grundsatze handeln, daſs einerley Ursache in Fällen, die in ei- nigen Stücken übereinstimmen, ähnliche Wirkun- gen hervorbringen wird, das heiſst, sich blos durch Analogie in seiner Praxis leiten lassen. Analogie kann indeſs nie unmittelbar, sondern nur mittelbar durch entscheidende Versuche, die sie veranlaſst, zur Gewiſsheit führen. Aber der Arzt soll und darf keine Versuche anstellen; er soll Ge- wiſsheit haben, um zu handeln, und nicht han- deln, um Gewiſsheit zu erhalten. Was bleibt also von der Kunst des Empirikers übrig?
Ganz anders ist es mit dem Dogmatiker. Zwar bedarf auch er, so gut wie der Empiriker, einer Kenntniſs der Symptome der Krankheit, die er hei- len soll; zwar stehn auch ihm bey Erwerbung die- ser Kenntniſs die nehmlichen Hindernisse im We- ge, womit dieser zu kämpfen hat. Auch er muſs sich auf das trügliche Zeugniſs des Kranken und des Gefühls verlassen. Aber, und dies ist der Hauptvorzug des Dogmatismus vor der rationellen
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in einem andern Falle anwenden zu können, müs-
sen beyde völlig mit einander übereinstimmen.
Aber in der lebenden Natur giebt es keine zwey
Fälle, wobey eine solche Uebereinstimmung statt
findet. Sie wechselt unaufhörlich ihre Gestalten,
und nimmt nie die vorigen wieder an, und nir-
gends thut sie dies mehr, als in Krankheiten. Der
Empiriker kann daher blos nach dem Grundsatze
handeln, daſs einerley Ursache in Fällen, die in ei-
nigen Stücken übereinstimmen, ähnliche Wirkun-
gen hervorbringen wird, das heiſst, sich blos
durch Analogie in seiner Praxis leiten lassen.
Analogie kann indeſs nie unmittelbar, sondern nur
mittelbar durch entscheidende Versuche, die sie
veranlaſst, zur Gewiſsheit führen. Aber der Arzt
soll und darf keine Versuche anstellen; er soll Ge-
wiſsheit haben, um zu handeln, und nicht han-
deln, um Gewiſsheit zu erhalten. Was bleibt also
von der Kunst des Empirikers übrig?
Ganz anders ist es mit dem Dogmatiker. Zwar
bedarf auch er, so gut wie der Empiriker, einer
Kenntniſs der Symptome der Krankheit, die er hei-
len soll; zwar stehn auch ihm bey Erwerbung die-
ser Kenntniſs die nehmlichen Hindernisse im We-
ge, womit dieser zu kämpfen hat. Auch er muſs
sich auf das trügliche Zeugniſs des Kranken und
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/155>, abgerufen am 04.12.2024.
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