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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Kriegsrufe der Franzosen.
fieber wiederkehren lassen (il veut la faire tourner en Thiers).*) Aber
den Krieg gegen Frankreich wünschte auch er keineswegs.

Wie wenig ahnte die Diplomatie in ihren feinen Berechnungen von
der elementarischen Macht des französischen Nationalstolzes. Schon längst
empfanden die Franzosen mit gerechtem Unmuth, daß ihr Land seit der
Julirevolution in Europa weniger galt als unter den Bourbonen, ihr
Bürgerkönig sich würdelos um die Gunst der Ostmächte bewarb. Die
Nation begann der Herrschaft des Großcapitals müde zu werden; Lamar-
tine sprach nur das Herzensgeheimniß der großen Mehrzahl seiner Lands-
leute aus, als er sagte: la France s'ennuie. Und nun ward der Liebling
der Franzosen, der aufgeklärte, von der Pariser Presse vergötterte Refor-
mator des Orients durch einen offenbar ungerechten Schiedsspruch Eu-
ropas, ohne Frankreichs Vorwissen, verurtheilt, durch ein hinterhaltiges
Verfahren, das noch tiefer verletzen mußte als ein offener Bruch. Als
die Nachrichten aus London allmählich bekannt wurden, bemächtigte sich
der Nation eine furchtbare Aufregung, die allen Höfen ganz uner-
wartet kam; nur das Petersburger Cabinet hatte mit dem Scharfblicke
des Hasses Alles vorausgesehen. Die Franzosen wähnten wieder von
einer Coalition bedroht zu sein; nach ihrer nationalen Ueberlieferung,
die in Thiers' Geschichtswerken einen so beredten Ausdruck fand, waren ja
die Kriege des napoleonischen Zeitalters allesammt nicht durch Frankreich
verschuldet worden, sondern durch die Herrschsucht der europäischen Coali-
tionen. Da sie sich zur See den Briten nicht gewachsen fühlten, zu
Lande aber den Sieg erhofften, so erklang durch das Land lauter und
lauter der Ruf: An den Rhein, an den Rhein! Mit einem male erfuhr
Europa, daß Frankreich in einem Vierteljahrhundert noch immer nicht ge-
lernt hatte, den Eintagsbau des napoleonischen Weltreichs als unwieder-
bringlich verloren anzuerkennen.

Thiers selbst sprach anfangs noch mit Mäßigung, da er weder an die
Ausführung der geplanten Zwangsmaßregeln des Vierbundes noch an eine
mögliche Niederlage Mehemed Ali's glaubte. Er verhehlte den Mächten
nicht, daß er den Frieden für gefährdet halte, mißbilligte offen die Feind-
seligkeit wider den Aegypter und behielt sich Weiteres vor.**) Doch war
er zu sehr Franzose um der nationalen Stimmung auf die Dauer zu wider-
stehen. Die öffentliche Meinung erhitzte sich von Tag zu Tage. Da die
englische Presse einen unleidlich anmaßenden Ton anschlug und kurzweg die
Unterwerfung Frankreichs unter die Befehle des Vierbundes forderte, so
antworteten die Pariser Zeitungen mit revolutionären Drohungen, und selbst
der Herzog von Broglie, der friedfertige Doktrinär meinte, jetzt müsse

*) Metternich an Werther, 5. Aug. 1840.
**) Arnim's Bericht 23. Juli; Thiers' Denkschrift zur Antwort auf Palmerston's
Schreiben, 15. Juli 1840.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 6

Kriegsrufe der Franzoſen.
fieber wiederkehren laſſen (il veut la faire tourner en Thiers).*) Aber
den Krieg gegen Frankreich wünſchte auch er keineswegs.

Wie wenig ahnte die Diplomatie in ihren feinen Berechnungen von
der elementariſchen Macht des franzöſiſchen Nationalſtolzes. Schon längſt
empfanden die Franzoſen mit gerechtem Unmuth, daß ihr Land ſeit der
Julirevolution in Europa weniger galt als unter den Bourbonen, ihr
Bürgerkönig ſich würdelos um die Gunſt der Oſtmächte bewarb. Die
Nation begann der Herrſchaft des Großcapitals müde zu werden; Lamar-
tine ſprach nur das Herzensgeheimniß der großen Mehrzahl ſeiner Lands-
leute aus, als er ſagte: la France s’ennuie. Und nun ward der Liebling
der Franzoſen, der aufgeklärte, von der Pariſer Preſſe vergötterte Refor-
mator des Orients durch einen offenbar ungerechten Schiedsſpruch Eu-
ropas, ohne Frankreichs Vorwiſſen, verurtheilt, durch ein hinterhaltiges
Verfahren, das noch tiefer verletzen mußte als ein offener Bruch. Als
die Nachrichten aus London allmählich bekannt wurden, bemächtigte ſich
der Nation eine furchtbare Aufregung, die allen Höfen ganz uner-
wartet kam; nur das Petersburger Cabinet hatte mit dem Scharfblicke
des Haſſes Alles vorausgeſehen. Die Franzoſen wähnten wieder von
einer Coalition bedroht zu ſein; nach ihrer nationalen Ueberlieferung,
die in Thiers’ Geſchichtswerken einen ſo beredten Ausdruck fand, waren ja
die Kriege des napoleoniſchen Zeitalters alleſammt nicht durch Frankreich
verſchuldet worden, ſondern durch die Herrſchſucht der europäiſchen Coali-
tionen. Da ſie ſich zur See den Briten nicht gewachſen fühlten, zu
Lande aber den Sieg erhofften, ſo erklang durch das Land lauter und
lauter der Ruf: An den Rhein, an den Rhein! Mit einem male erfuhr
Europa, daß Frankreich in einem Vierteljahrhundert noch immer nicht ge-
lernt hatte, den Eintagsbau des napoleoniſchen Weltreichs als unwieder-
bringlich verloren anzuerkennen.

Thiers ſelbſt ſprach anfangs noch mit Mäßigung, da er weder an die
Ausführung der geplanten Zwangsmaßregeln des Vierbundes noch an eine
mögliche Niederlage Mehemed Ali’s glaubte. Er verhehlte den Mächten
nicht, daß er den Frieden für gefährdet halte, mißbilligte offen die Feind-
ſeligkeit wider den Aegypter und behielt ſich Weiteres vor.**) Doch war
er zu ſehr Franzoſe um der nationalen Stimmung auf die Dauer zu wider-
ſtehen. Die öffentliche Meinung erhitzte ſich von Tag zu Tage. Da die
engliſche Preſſe einen unleidlich anmaßenden Ton anſchlug und kurzweg die
Unterwerfung Frankreichs unter die Befehle des Vierbundes forderte, ſo
antworteten die Pariſer Zeitungen mit revolutionären Drohungen, und ſelbſt
der Herzog von Broglie, der friedfertige Doktrinär meinte, jetzt müſſe

*) Metternich an Werther, 5. Aug. 1840.
**) Arnim’s Bericht 23. Juli; Thiers’ Denkſchrift zur Antwort auf Palmerſton’s
Schreiben, 15. Juli 1840.
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[81/0095] Kriegsrufe der Franzoſen. fieber wiederkehren laſſen (il veut la faire tourner en Thiers). *) Aber den Krieg gegen Frankreich wünſchte auch er keineswegs. Wie wenig ahnte die Diplomatie in ihren feinen Berechnungen von der elementariſchen Macht des franzöſiſchen Nationalſtolzes. Schon längſt empfanden die Franzoſen mit gerechtem Unmuth, daß ihr Land ſeit der Julirevolution in Europa weniger galt als unter den Bourbonen, ihr Bürgerkönig ſich würdelos um die Gunſt der Oſtmächte bewarb. Die Nation begann der Herrſchaft des Großcapitals müde zu werden; Lamar- tine ſprach nur das Herzensgeheimniß der großen Mehrzahl ſeiner Lands- leute aus, als er ſagte: la France s’ennuie. Und nun ward der Liebling der Franzoſen, der aufgeklärte, von der Pariſer Preſſe vergötterte Refor- mator des Orients durch einen offenbar ungerechten Schiedsſpruch Eu- ropas, ohne Frankreichs Vorwiſſen, verurtheilt, durch ein hinterhaltiges Verfahren, das noch tiefer verletzen mußte als ein offener Bruch. Als die Nachrichten aus London allmählich bekannt wurden, bemächtigte ſich der Nation eine furchtbare Aufregung, die allen Höfen ganz uner- wartet kam; nur das Petersburger Cabinet hatte mit dem Scharfblicke des Haſſes Alles vorausgeſehen. Die Franzoſen wähnten wieder von einer Coalition bedroht zu ſein; nach ihrer nationalen Ueberlieferung, die in Thiers’ Geſchichtswerken einen ſo beredten Ausdruck fand, waren ja die Kriege des napoleoniſchen Zeitalters alleſammt nicht durch Frankreich verſchuldet worden, ſondern durch die Herrſchſucht der europäiſchen Coali- tionen. Da ſie ſich zur See den Briten nicht gewachſen fühlten, zu Lande aber den Sieg erhofften, ſo erklang durch das Land lauter und lauter der Ruf: An den Rhein, an den Rhein! Mit einem male erfuhr Europa, daß Frankreich in einem Vierteljahrhundert noch immer nicht ge- lernt hatte, den Eintagsbau des napoleoniſchen Weltreichs als unwieder- bringlich verloren anzuerkennen. Thiers ſelbſt ſprach anfangs noch mit Mäßigung, da er weder an die Ausführung der geplanten Zwangsmaßregeln des Vierbundes noch an eine mögliche Niederlage Mehemed Ali’s glaubte. Er verhehlte den Mächten nicht, daß er den Frieden für gefährdet halte, mißbilligte offen die Feind- ſeligkeit wider den Aegypter und behielt ſich Weiteres vor. **) Doch war er zu ſehr Franzoſe um der nationalen Stimmung auf die Dauer zu wider- ſtehen. Die öffentliche Meinung erhitzte ſich von Tag zu Tage. Da die engliſche Preſſe einen unleidlich anmaßenden Ton anſchlug und kurzweg die Unterwerfung Frankreichs unter die Befehle des Vierbundes forderte, ſo antworteten die Pariſer Zeitungen mit revolutionären Drohungen, und ſelbſt der Herzog von Broglie, der friedfertige Doktrinär meinte, jetzt müſſe *) Metternich an Werther, 5. Aug. 1840. **) Arnim’s Bericht 23. Juli; Thiers’ Denkſchrift zur Antwort auf Palmerſton’s Schreiben, 15. Juli 1840. v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 6

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/95>, abgerufen am 23.11.2024.