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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
der Krieg der Propaganda von Neuem beginnen. Schon am 5. August
sah sich Thiers genöthigt, durch königliche Ordonnanz einen außerordent-
lichen Credit von 56 Mill. fr. zu verlangen; bald darauf folgten neue
Anleihen und Truppenaushebungen, Alles trieb dem Kampfe zu.

Mit steigender Angst betrachtete Ludwig Philipp dies kriegerische
Treiben seines verhaßten Ministers. Auch er hatte Augenblicke, da er
die beschämende Stellung seines Landes bitter empfand und zornig sagte,
er würde wohl die rothe Mütze aufsetzen müssen. Indeß solche Wallungen
gingen rasch vorrüber. Der kluge Kaufmann wußte wohl, daß seine ille-
gitime Dynastie einen siegreichen Feldherrn ebenso wenig ertragen konnte wie
eine Niederlage. Der Ruf nach der Rheingrenze ließ ihn kalt, und wie ein
Axiom wiederholte er den Satz: wer den allgemeinen Krieg anfängt, unter-
liegt unfehlbar. Er wünschte den Frieden um jeden Preis und sagte schon
in den ersten Tagen zu dem österreichischen Botschafter: lieber wolle er
sein Ministerium zerschmettern als seine friedlichen Bahnen verlassen.
Ihm graute vor dem Radikalismus, der unausbleiblich durch den Krieg em-
porkommen müsse; er wollte gar nicht begreifen, wie man seine harmlosen
Absichten so sehr verkennen, wie man ihn der Gefahr aussetzen könne von
der Revolution überfluthet zu werden, und beschwor den jüngeren Werther,
als den Vertreter der friedfertigsten Großmacht, für eine Verständigung
zu wirken: Europa sitzt auf einem Pulverfasse so lange Frankreich ver-
einsamt dasteht!*) Eben in diesen schwülen Wochen landete Prinz Ludwig
Napoleon mit einer Handvoll Getreuer bei Boulogne und wagte einen
zweiten Aufstandsversuch. Das Unternehmen scheiterte sofort, der kühne
Abenteurer schien dem Fluche der Lächerlichkeit zu verfallen. Dem Könige
aber war übel zu Muthe; er ahnte, wie leicht sein geraubter Thron einem
andern Räuber anheimfallen konnte.

Die beiden deutschen Großmächte versäumten nicht, den Bürgerkönig
in seinen löblichen Ansichten zu bestärken. Friedrich Wilhelm ließ --
nicht ohne die halb unbewußte Selbsttäuschung rhetorischer Ueberschwäng-
lichkeit -- inbrünstig versichern, seine persönlichen Gefühle für Ludwig
Philipp seien ebenso unwandelbar wie seine Freundschaft für Frankreich.
Metternich aber hielt für gerathen, dem ängstlichen Orleans das Schreckge-
spenst der Revolution vorzuhalten: wolle Thiers den Krieg, so müsse er die
Politik des Convents treiben, seinen eigenen König entthronen und Mehemed
Ali auf den Herrschersitz der Sultane erheben.**)

Mit diesen Friedensmahnungen der deutschen Mächte stimmte die
Haltung Rußlands und Englands wenig überein. Czar Nikolaus be-
hauptete in Stambul, wie einst seine Großmutter in Warschau, eine

*) Werther d. J., Berichte aus Paris, 26. Juli, 26. Aug. 1840.
**) Minister Werther, vertrauliche Weisung an Werther d. J., 8. Aug. Metternich,
vertrauliche Weisung an Apponyi, 4. Aug. 1840.

V. 2. Die Kriegsgefahr.
der Krieg der Propaganda von Neuem beginnen. Schon am 5. Auguſt
ſah ſich Thiers genöthigt, durch königliche Ordonnanz einen außerordent-
lichen Credit von 56 Mill. fr. zu verlangen; bald darauf folgten neue
Anleihen und Truppenaushebungen, Alles trieb dem Kampfe zu.

Mit ſteigender Angſt betrachtete Ludwig Philipp dies kriegeriſche
Treiben ſeines verhaßten Miniſters. Auch er hatte Augenblicke, da er
die beſchämende Stellung ſeines Landes bitter empfand und zornig ſagte,
er würde wohl die rothe Mütze aufſetzen müſſen. Indeß ſolche Wallungen
gingen raſch vorrüber. Der kluge Kaufmann wußte wohl, daß ſeine ille-
gitime Dynaſtie einen ſiegreichen Feldherrn ebenſo wenig ertragen konnte wie
eine Niederlage. Der Ruf nach der Rheingrenze ließ ihn kalt, und wie ein
Axiom wiederholte er den Satz: wer den allgemeinen Krieg anfängt, unter-
liegt unfehlbar. Er wünſchte den Frieden um jeden Preis und ſagte ſchon
in den erſten Tagen zu dem öſterreichiſchen Botſchafter: lieber wolle er
ſein Miniſterium zerſchmettern als ſeine friedlichen Bahnen verlaſſen.
Ihm graute vor dem Radikalismus, der unausbleiblich durch den Krieg em-
porkommen müſſe; er wollte gar nicht begreifen, wie man ſeine harmloſen
Abſichten ſo ſehr verkennen, wie man ihn der Gefahr ausſetzen könne von
der Revolution überfluthet zu werden, und beſchwor den jüngeren Werther,
als den Vertreter der friedfertigſten Großmacht, für eine Verſtändigung
zu wirken: Europa ſitzt auf einem Pulverfaſſe ſo lange Frankreich ver-
einſamt daſteht!*) Eben in dieſen ſchwülen Wochen landete Prinz Ludwig
Napoleon mit einer Handvoll Getreuer bei Boulogne und wagte einen
zweiten Aufſtandsverſuch. Das Unternehmen ſcheiterte ſofort, der kühne
Abenteurer ſchien dem Fluche der Lächerlichkeit zu verfallen. Dem Könige
aber war übel zu Muthe; er ahnte, wie leicht ſein geraubter Thron einem
andern Räuber anheimfallen konnte.

Die beiden deutſchen Großmächte verſäumten nicht, den Bürgerkönig
in ſeinen löblichen Anſichten zu beſtärken. Friedrich Wilhelm ließ —
nicht ohne die halb unbewußte Selbſttäuſchung rhetoriſcher Ueberſchwäng-
lichkeit — inbrünſtig verſichern, ſeine perſönlichen Gefühle für Ludwig
Philipp ſeien ebenſo unwandelbar wie ſeine Freundſchaft für Frankreich.
Metternich aber hielt für gerathen, dem ängſtlichen Orleans das Schreckge-
ſpenſt der Revolution vorzuhalten: wolle Thiers den Krieg, ſo müſſe er die
Politik des Convents treiben, ſeinen eigenen König entthronen und Mehemed
Ali auf den Herrſcherſitz der Sultane erheben.**)

Mit dieſen Friedensmahnungen der deutſchen Mächte ſtimmte die
Haltung Rußlands und Englands wenig überein. Czar Nikolaus be-
hauptete in Stambul, wie einſt ſeine Großmutter in Warſchau, eine

*) Werther d. J., Berichte aus Paris, 26. Juli, 26. Aug. 1840.
**) Miniſter Werther, vertrauliche Weiſung an Werther d. J., 8. Aug. Metternich,
vertrauliche Weiſung an Apponyi, 4. Aug. 1840.
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[82/0096] V. 2. Die Kriegsgefahr. der Krieg der Propaganda von Neuem beginnen. Schon am 5. Auguſt ſah ſich Thiers genöthigt, durch königliche Ordonnanz einen außerordent- lichen Credit von 56 Mill. fr. zu verlangen; bald darauf folgten neue Anleihen und Truppenaushebungen, Alles trieb dem Kampfe zu. Mit ſteigender Angſt betrachtete Ludwig Philipp dies kriegeriſche Treiben ſeines verhaßten Miniſters. Auch er hatte Augenblicke, da er die beſchämende Stellung ſeines Landes bitter empfand und zornig ſagte, er würde wohl die rothe Mütze aufſetzen müſſen. Indeß ſolche Wallungen gingen raſch vorrüber. Der kluge Kaufmann wußte wohl, daß ſeine ille- gitime Dynaſtie einen ſiegreichen Feldherrn ebenſo wenig ertragen konnte wie eine Niederlage. Der Ruf nach der Rheingrenze ließ ihn kalt, und wie ein Axiom wiederholte er den Satz: wer den allgemeinen Krieg anfängt, unter- liegt unfehlbar. Er wünſchte den Frieden um jeden Preis und ſagte ſchon in den erſten Tagen zu dem öſterreichiſchen Botſchafter: lieber wolle er ſein Miniſterium zerſchmettern als ſeine friedlichen Bahnen verlaſſen. Ihm graute vor dem Radikalismus, der unausbleiblich durch den Krieg em- porkommen müſſe; er wollte gar nicht begreifen, wie man ſeine harmloſen Abſichten ſo ſehr verkennen, wie man ihn der Gefahr ausſetzen könne von der Revolution überfluthet zu werden, und beſchwor den jüngeren Werther, als den Vertreter der friedfertigſten Großmacht, für eine Verſtändigung zu wirken: Europa ſitzt auf einem Pulverfaſſe ſo lange Frankreich ver- einſamt daſteht! *) Eben in dieſen ſchwülen Wochen landete Prinz Ludwig Napoleon mit einer Handvoll Getreuer bei Boulogne und wagte einen zweiten Aufſtandsverſuch. Das Unternehmen ſcheiterte ſofort, der kühne Abenteurer ſchien dem Fluche der Lächerlichkeit zu verfallen. Dem Könige aber war übel zu Muthe; er ahnte, wie leicht ſein geraubter Thron einem andern Räuber anheimfallen konnte. Die beiden deutſchen Großmächte verſäumten nicht, den Bürgerkönig in ſeinen löblichen Anſichten zu beſtärken. Friedrich Wilhelm ließ — nicht ohne die halb unbewußte Selbſttäuſchung rhetoriſcher Ueberſchwäng- lichkeit — inbrünſtig verſichern, ſeine perſönlichen Gefühle für Ludwig Philipp ſeien ebenſo unwandelbar wie ſeine Freundſchaft für Frankreich. Metternich aber hielt für gerathen, dem ängſtlichen Orleans das Schreckge- ſpenſt der Revolution vorzuhalten: wolle Thiers den Krieg, ſo müſſe er die Politik des Convents treiben, ſeinen eigenen König entthronen und Mehemed Ali auf den Herrſcherſitz der Sultane erheben. **) Mit dieſen Friedensmahnungen der deutſchen Mächte ſtimmte die Haltung Rußlands und Englands wenig überein. Czar Nikolaus be- hauptete in Stambul, wie einſt ſeine Großmutter in Warſchau, eine *) Werther d. J., Berichte aus Paris, 26. Juli, 26. Aug. 1840. **) Miniſter Werther, vertrauliche Weiſung an Werther d. J., 8. Aug. Metternich, vertrauliche Weiſung an Apponyi, 4. Aug. 1840.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/96>, abgerufen am 23.11.2024.