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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
entgegensetzen, daß vielleicht die Türkei selbst darüber in Trümmer gehen
könnte. Palmerston kannte die augenblickliche Lage besser, er versprach sich
einen raschen Erfolg von den Zwangsmaßregeln gegen den Aegypter. Die
Verhandlungen zogen sich durch mehrere Monate ohne Entscheidung dahin.
Unterdessen klagten die Gesandten der drei Ostmächte laut und lauter
über die "subversive" Politik der Tuilerien, die Londoner Regierungsblätter
sprachen von Frankreich in einem anmaßenden Tone, der von drüben
ebenso kräftig erwidert wurde. Palmerston fühlte sich durch den hart-
näckigen Widerspruch der Franzosen schwer gereizt und sagte in einem
Artikel seines Morning Chronicle drohend: England würde sich gezwungen
sehen den alten Vierbund der conservativen Mächte zu erneuern. Brunnow,
der mit seiner glatten, kühlen Freundlichkeit dem ungestümen Lord immer
überlegen blieb, half in der Stille nach. Mehr und mehr befreundeten
sich die Gesandten mit der russischen Ansicht, daß man die orientalische
Frage auch zu Vieren, ohne Frankreichs Mitwirkung, lösen könne.

Dennoch zauderte Palmerston noch lange. Die schwache, von Lord
Melbourne sehr schlaff geleitete Whig-Regierung hatte sich längst über-
lebt. Schon vor'm Jahre war sie durch das Parlament gestürzt und nur
durch den lächerlichen Zwischenfall der sogenannten Schlafstubenfrage vor-
läufig wieder aufgerichtet worden. Damals hatte die junge Königin zum
ersten male etwas gezeigt was einem politischen Willen ähnlich sah und
sich entschieden geweigert ihre whiggistischen Hofdamen, wie die Torys
verlangten, zu entlassen. Nur dieser persönlichen Vorliebe der Monarchin
verdankten die Whigs die Wiederherstellung ihrer Herrschaft, welche schon
seit Jahren nicht mehr auf eine feste Mehrheit im Parlamente zählen
konnte. Und dies altersmüde Cabinet war über die Fragen der großen
Politik keineswegs eines Sinnes. Die Lords Holland, Clarendon, Grenville,
viele andere der nächsten Freunde und Amtsgenossen Palmerston's hielten
einen Bruch mit Frankreich für rein undenkbar; auf der entente cor-
diale
oder ihrem Namen beruhte ja die ganze Stellung, welche England
während des letzten Jahrzehntes in Europa eingenommen hatte. Selbst
unter den Torys war die Meinung weit verbreitet, daß die Quadrupel-
allianz der liberalen Weststaaten den Weltfrieden, das Gleichgewicht Euro-
pas aufrecht erhalten habe und nimmermehr durch die Erneuerung des
alten conservativen Vierbundes ersetzt werden dürfe. Also wurde Pal-
merston zwischen den verschiedensten Bedenken hin und her geschleudert
und gelangte immer wieder zu dem Schlusse: man müsse die Dinge hin-
zuhalten suchen.*) Er hoffte kaum noch den Tuilerienhof umzustimmen
und wollte doch den Bruch vermeiden. Noch am 11. Juni schrieb er
dem drängenden österreichischen Bevollmächtigten Neumann: "Ich ziehe
eine zeitweilige Verzögerung einem sofortigen schlechten Ende vor."**)


*) Bülow's Berichte, 26. Mai, 26. Juni 1840.
**) Palmerston an Neumann, 11. Juni 1840.

V. 2. Die Kriegsgefahr.
entgegenſetzen, daß vielleicht die Türkei ſelbſt darüber in Trümmer gehen
könnte. Palmerſton kannte die augenblickliche Lage beſſer, er verſprach ſich
einen raſchen Erfolg von den Zwangsmaßregeln gegen den Aegypter. Die
Verhandlungen zogen ſich durch mehrere Monate ohne Entſcheidung dahin.
Unterdeſſen klagten die Geſandten der drei Oſtmächte laut und lauter
über die „ſubverſive“ Politik der Tuilerien, die Londoner Regierungsblätter
ſprachen von Frankreich in einem anmaßenden Tone, der von drüben
ebenſo kräftig erwidert wurde. Palmerſton fühlte ſich durch den hart-
näckigen Widerſpruch der Franzoſen ſchwer gereizt und ſagte in einem
Artikel ſeines Morning Chronicle drohend: England würde ſich gezwungen
ſehen den alten Vierbund der conſervativen Mächte zu erneuern. Brunnow,
der mit ſeiner glatten, kühlen Freundlichkeit dem ungeſtümen Lord immer
überlegen blieb, half in der Stille nach. Mehr und mehr befreundeten
ſich die Geſandten mit der ruſſiſchen Anſicht, daß man die orientaliſche
Frage auch zu Vieren, ohne Frankreichs Mitwirkung, löſen könne.

Dennoch zauderte Palmerſton noch lange. Die ſchwache, von Lord
Melbourne ſehr ſchlaff geleitete Whig-Regierung hatte ſich längſt über-
lebt. Schon vor’m Jahre war ſie durch das Parlament geſtürzt und nur
durch den lächerlichen Zwiſchenfall der ſogenannten Schlafſtubenfrage vor-
läufig wieder aufgerichtet worden. Damals hatte die junge Königin zum
erſten male etwas gezeigt was einem politiſchen Willen ähnlich ſah und
ſich entſchieden geweigert ihre whiggiſtiſchen Hofdamen, wie die Torys
verlangten, zu entlaſſen. Nur dieſer perſönlichen Vorliebe der Monarchin
verdankten die Whigs die Wiederherſtellung ihrer Herrſchaft, welche ſchon
ſeit Jahren nicht mehr auf eine feſte Mehrheit im Parlamente zählen
konnte. Und dies altersmüde Cabinet war über die Fragen der großen
Politik keineswegs eines Sinnes. Die Lords Holland, Clarendon, Grenville,
viele andere der nächſten Freunde und Amtsgenoſſen Palmerſton’s hielten
einen Bruch mit Frankreich für rein undenkbar; auf der entente cor-
diale
oder ihrem Namen beruhte ja die ganze Stellung, welche England
während des letzten Jahrzehntes in Europa eingenommen hatte. Selbſt
unter den Torys war die Meinung weit verbreitet, daß die Quadrupel-
allianz der liberalen Weſtſtaaten den Weltfrieden, das Gleichgewicht Euro-
pas aufrecht erhalten habe und nimmermehr durch die Erneuerung des
alten conſervativen Vierbundes erſetzt werden dürfe. Alſo wurde Pal-
merſton zwiſchen den verſchiedenſten Bedenken hin und her geſchleudert
und gelangte immer wieder zu dem Schluſſe: man müſſe die Dinge hin-
zuhalten ſuchen.*) Er hoffte kaum noch den Tuilerienhof umzuſtimmen
und wollte doch den Bruch vermeiden. Noch am 11. Juni ſchrieb er
dem drängenden öſterreichiſchen Bevollmächtigten Neumann: „Ich ziehe
eine zeitweilige Verzögerung einem ſofortigen ſchlechten Ende vor.“**)


*) Bülow’s Berichte, 26. Mai, 26. Juni 1840.
**) Palmerſton an Neumann, 11. Juni 1840.
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[74/0088] V. 2. Die Kriegsgefahr. entgegenſetzen, daß vielleicht die Türkei ſelbſt darüber in Trümmer gehen könnte. Palmerſton kannte die augenblickliche Lage beſſer, er verſprach ſich einen raſchen Erfolg von den Zwangsmaßregeln gegen den Aegypter. Die Verhandlungen zogen ſich durch mehrere Monate ohne Entſcheidung dahin. Unterdeſſen klagten die Geſandten der drei Oſtmächte laut und lauter über die „ſubverſive“ Politik der Tuilerien, die Londoner Regierungsblätter ſprachen von Frankreich in einem anmaßenden Tone, der von drüben ebenſo kräftig erwidert wurde. Palmerſton fühlte ſich durch den hart- näckigen Widerſpruch der Franzoſen ſchwer gereizt und ſagte in einem Artikel ſeines Morning Chronicle drohend: England würde ſich gezwungen ſehen den alten Vierbund der conſervativen Mächte zu erneuern. Brunnow, der mit ſeiner glatten, kühlen Freundlichkeit dem ungeſtümen Lord immer überlegen blieb, half in der Stille nach. Mehr und mehr befreundeten ſich die Geſandten mit der ruſſiſchen Anſicht, daß man die orientaliſche Frage auch zu Vieren, ohne Frankreichs Mitwirkung, löſen könne. Dennoch zauderte Palmerſton noch lange. Die ſchwache, von Lord Melbourne ſehr ſchlaff geleitete Whig-Regierung hatte ſich längſt über- lebt. Schon vor’m Jahre war ſie durch das Parlament geſtürzt und nur durch den lächerlichen Zwiſchenfall der ſogenannten Schlafſtubenfrage vor- läufig wieder aufgerichtet worden. Damals hatte die junge Königin zum erſten male etwas gezeigt was einem politiſchen Willen ähnlich ſah und ſich entſchieden geweigert ihre whiggiſtiſchen Hofdamen, wie die Torys verlangten, zu entlaſſen. Nur dieſer perſönlichen Vorliebe der Monarchin verdankten die Whigs die Wiederherſtellung ihrer Herrſchaft, welche ſchon ſeit Jahren nicht mehr auf eine feſte Mehrheit im Parlamente zählen konnte. Und dies altersmüde Cabinet war über die Fragen der großen Politik keineswegs eines Sinnes. Die Lords Holland, Clarendon, Grenville, viele andere der nächſten Freunde und Amtsgenoſſen Palmerſton’s hielten einen Bruch mit Frankreich für rein undenkbar; auf der entente cor- diale oder ihrem Namen beruhte ja die ganze Stellung, welche England während des letzten Jahrzehntes in Europa eingenommen hatte. Selbſt unter den Torys war die Meinung weit verbreitet, daß die Quadrupel- allianz der liberalen Weſtſtaaten den Weltfrieden, das Gleichgewicht Euro- pas aufrecht erhalten habe und nimmermehr durch die Erneuerung des alten conſervativen Vierbundes erſetzt werden dürfe. Alſo wurde Pal- merſton zwiſchen den verſchiedenſten Bedenken hin und her geſchleudert und gelangte immer wieder zu dem Schluſſe: man müſſe die Dinge hin- zuhalten ſuchen. *) Er hoffte kaum noch den Tuilerienhof umzuſtimmen und wollte doch den Bruch vermeiden. Noch am 11. Juni ſchrieb er dem drängenden öſterreichiſchen Bevollmächtigten Neumann: „Ich ziehe eine zeitweilige Verzögerung einem ſofortigen ſchlechten Ende vor.“ **) *) Bülow’s Berichte, 26. Mai, 26. Juni 1840. **) Palmerſton an Neumann, 11. Juni 1840.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/88>, abgerufen am 28.03.2024.