Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite
Verhandlungen der vier Mächte. H. v. Bülow.

Um die Verwirrung zu vollenden sendete Metternich von Zeit zu Zeit
übellaunige Depeschen; der konnte sich gar nicht darüber trösten, daß die
Entscheidung nicht mehr in seinen Händen lag und fürchtete immer, Ruß-
lands kopflose Politik würde sich in den englischen Netzen verfangen.*)
Auch der türkische Gesandte Shekib Pascha vermehrte die Mißklänge dieses
seltsamen Concerts; er gehorchte blindlings den Rathschlägen des österreichi-
schen Bevollmächtigten Neumann, der ausdrücklich beauftragt war sich seiner
zu bemächtigen (s'emparer).**) Da Lord Ponsonby die Pforte, trotz ihrer
Niederlage, beständig zur Erneuerung des Krieges drängte, so zeigte sich
der Türke sehr zuversichtlich und beschwor die Mächte um baldige Ver-
urtheilung des ägyptischen Rebellen.***)

Die Verwicklung ward unerträglich, beinahe lächerlich. Der preußi-
sche Gesandte Heinrich von Bülow, der zu Anfang März 1840 nach langem
Urlaub wieder in London eingetroffen war, schrieb im Juni, nachdem er
sich viele Wochen hindurch vergeblich um die Aussöhnung der Streiten-
den bemüht hatte, ganz verzweifelt: "Was ist unter solchen Umständen
von dem Fortgang der hiesigen Verhandlungen zu erwarten? Schimpf
und Schande! Man thäte besser sie abzubrechen."+) Endlich einigten
sich die Gesandten der drei Ostmächte zu einem letzten Versuche; sie ver-
langten von Palmerston vertrauliche Berathungen ohne Frankreich, das
man vorläufig doch nicht gewinnen könne. Seit dem 21. Juni ver-
sammelten sich nunmehr die Gesandten der vier Mächte, hinter Guizot's
Rücken, zu regelmäßigen Sonntagssitzungen bei Palmerston; die Stille
des englischen Sabbaths kam dem Geheimniß zu statten. Der europäische
Congreß, zu dem man Frankreich förmlich eingeladen hatte, verwandelte
sich also in eine geheime Conferenz der Vier. Dies hinterrückige, aller-
dings durch Frankreichs Haltung mitverschuldete Verfahren mußte den
französischen Stolz tief verletzten sobald es ruchbar ward. Die Gefahr
eines europäischen Krieges rückte so nahe, daß der friedfertige Minister Wer-
ther schwer erschrocken dem Gesandten Bülow sein Befremden aussprach und
ihm nochmals einschärfte, auf jeden Fall der Krone Preußen die so oft aus-
bedungene Neutralität vorzubehalten.++) Die Vier einigten sich in ihren
Sonntagssitzungen über die Grundzüge eines Vertrags zur Rettung des
Sultans, aber zum förmlichen Abschluß gelangte man noch immer nicht,
weil Palmerston der Zustimmung seines Cabinets nicht sicher war.+++)

Vergeblich mahnte Metternich in mehreren Depeschen: die Türkei könne
den Zustand der Ungewißheit nicht länger mehr ertragen; komme man

*) Maltzan's Bericht, 2. Jan. Metternich an Trauttmansdorff, 7. März 1840.
**) Maltzan's Bericht, 3. März 1840.
***) Shekib Pascha's identische Noten an die Gesandten der fünf Mächte, 2. Juni 1840.
+) Bülow's Berichte, 3. März ff. 12. Juni 1840.
++) Werther, Weisung an Bülow, 16. Juli 1840.
+++) Bülow's Berichte, 23. 30. Juni 1840.
Verhandlungen der vier Mächte. H. v. Bülow.

Um die Verwirrung zu vollenden ſendete Metternich von Zeit zu Zeit
übellaunige Depeſchen; der konnte ſich gar nicht darüber tröſten, daß die
Entſcheidung nicht mehr in ſeinen Händen lag und fürchtete immer, Ruß-
lands kopfloſe Politik würde ſich in den engliſchen Netzen verfangen.*)
Auch der türkiſche Geſandte Shekib Paſcha vermehrte die Mißklänge dieſes
ſeltſamen Concerts; er gehorchte blindlings den Rathſchlägen des öſterreichi-
ſchen Bevollmächtigten Neumann, der ausdrücklich beauftragt war ſich ſeiner
zu bemächtigen (s’emparer).**) Da Lord Ponſonby die Pforte, trotz ihrer
Niederlage, beſtändig zur Erneuerung des Krieges drängte, ſo zeigte ſich
der Türke ſehr zuverſichtlich und beſchwor die Mächte um baldige Ver-
urtheilung des ägyptiſchen Rebellen.***)

Die Verwicklung ward unerträglich, beinahe lächerlich. Der preußi-
ſche Geſandte Heinrich von Bülow, der zu Anfang März 1840 nach langem
Urlaub wieder in London eingetroffen war, ſchrieb im Juni, nachdem er
ſich viele Wochen hindurch vergeblich um die Ausſöhnung der Streiten-
den bemüht hatte, ganz verzweifelt: „Was iſt unter ſolchen Umſtänden
von dem Fortgang der hieſigen Verhandlungen zu erwarten? Schimpf
und Schande! Man thäte beſſer ſie abzubrechen.“†) Endlich einigten
ſich die Geſandten der drei Oſtmächte zu einem letzten Verſuche; ſie ver-
langten von Palmerſton vertrauliche Berathungen ohne Frankreich, das
man vorläufig doch nicht gewinnen könne. Seit dem 21. Juni ver-
ſammelten ſich nunmehr die Geſandten der vier Mächte, hinter Guizot’s
Rücken, zu regelmäßigen Sonntagsſitzungen bei Palmerſton; die Stille
des engliſchen Sabbaths kam dem Geheimniß zu ſtatten. Der europäiſche
Congreß, zu dem man Frankreich förmlich eingeladen hatte, verwandelte
ſich alſo in eine geheime Conferenz der Vier. Dies hinterrückige, aller-
dings durch Frankreichs Haltung mitverſchuldete Verfahren mußte den
franzöſiſchen Stolz tief verletzten ſobald es ruchbar ward. Die Gefahr
eines europäiſchen Krieges rückte ſo nahe, daß der friedfertige Miniſter Wer-
ther ſchwer erſchrocken dem Geſandten Bülow ſein Befremden ausſprach und
ihm nochmals einſchärfte, auf jeden Fall der Krone Preußen die ſo oft aus-
bedungene Neutralität vorzubehalten.††) Die Vier einigten ſich in ihren
Sonntagsſitzungen über die Grundzüge eines Vertrags zur Rettung des
Sultans, aber zum förmlichen Abſchluß gelangte man noch immer nicht,
weil Palmerſton der Zuſtimmung ſeines Cabinets nicht ſicher war.†††)

Vergeblich mahnte Metternich in mehreren Depeſchen: die Türkei könne
den Zuſtand der Ungewißheit nicht länger mehr ertragen; komme man

*) Maltzan’s Bericht, 2. Jan. Metternich an Trauttmansdorff, 7. März 1840.
**) Maltzan’s Bericht, 3. März 1840.
***) Shekib Paſcha’s identiſche Noten an die Geſandten der fünf Mächte, 2. Juni 1840.
†) Bülow’s Berichte, 3. März ff. 12. Juni 1840.
††) Werther, Weiſung an Bülow, 16. Juli 1840.
†††) Bülow’s Berichte, 23. 30. Juni 1840.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0089" n="75"/>
          <fw place="top" type="header">Verhandlungen der vier Mächte. H. v. Bülow.</fw><lb/>
          <p>Um die Verwirrung zu vollenden &#x017F;endete Metternich von Zeit zu Zeit<lb/>
übellaunige Depe&#x017F;chen; der konnte &#x017F;ich gar nicht darüber trö&#x017F;ten, daß die<lb/>
Ent&#x017F;cheidung nicht mehr in &#x017F;einen Händen lag und fürchtete immer, Ruß-<lb/>
lands kopflo&#x017F;e Politik würde &#x017F;ich in den engli&#x017F;chen Netzen verfangen.<note place="foot" n="*)">Maltzan&#x2019;s Bericht, 2. Jan. Metternich an Trauttmansdorff, 7. März 1840.</note><lb/>
Auch der türki&#x017F;che Ge&#x017F;andte Shekib Pa&#x017F;cha vermehrte die Mißklänge die&#x017F;es<lb/>
&#x017F;elt&#x017F;amen Concerts; er gehorchte blindlings den Rath&#x017F;chlägen des ö&#x017F;terreichi-<lb/>
&#x017F;chen Bevollmächtigten Neumann, der ausdrücklich beauftragt war &#x017F;ich &#x017F;einer<lb/>
zu bemächtigen (<hi rendition="#aq">s&#x2019;emparer</hi>).<note place="foot" n="**)">Maltzan&#x2019;s Bericht, 3. März 1840.</note> Da Lord Pon&#x017F;onby die Pforte, trotz ihrer<lb/>
Niederlage, be&#x017F;tändig zur Erneuerung des Krieges drängte, &#x017F;o zeigte &#x017F;ich<lb/>
der Türke &#x017F;ehr zuver&#x017F;ichtlich und be&#x017F;chwor die Mächte um baldige Ver-<lb/>
urtheilung des ägypti&#x017F;chen Rebellen.<note place="foot" n="***)">Shekib Pa&#x017F;cha&#x2019;s identi&#x017F;che Noten an die Ge&#x017F;andten der fünf Mächte, 2. Juni 1840.</note></p><lb/>
          <p>Die Verwicklung ward unerträglich, beinahe lächerlich. Der preußi-<lb/>
&#x017F;che Ge&#x017F;andte Heinrich von Bülow, der zu Anfang März 1840 nach langem<lb/>
Urlaub wieder in London eingetroffen war, &#x017F;chrieb im Juni, nachdem er<lb/>
&#x017F;ich viele Wochen hindurch vergeblich um die Aus&#x017F;öhnung der Streiten-<lb/>
den bemüht hatte, ganz verzweifelt: &#x201E;Was i&#x017F;t unter &#x017F;olchen Um&#x017F;tänden<lb/>
von dem Fortgang der hie&#x017F;igen Verhandlungen zu erwarten? Schimpf<lb/>
und Schande! Man thäte be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ie abzubrechen.&#x201C;<note place="foot" n="&#x2020;)">Bülow&#x2019;s Berichte, 3. März ff. 12. Juni 1840.</note> Endlich einigten<lb/>
&#x017F;ich die Ge&#x017F;andten der drei O&#x017F;tmächte zu einem letzten Ver&#x017F;uche; &#x017F;ie ver-<lb/>
langten von Palmer&#x017F;ton vertrauliche Berathungen ohne Frankreich, das<lb/>
man vorläufig doch nicht gewinnen könne. Seit dem 21. Juni ver-<lb/>
&#x017F;ammelten &#x017F;ich nunmehr die Ge&#x017F;andten der vier Mächte, hinter Guizot&#x2019;s<lb/>
Rücken, zu regelmäßigen Sonntags&#x017F;itzungen bei Palmer&#x017F;ton; die Stille<lb/>
des engli&#x017F;chen Sabbaths kam dem Geheimniß zu &#x017F;tatten. Der europäi&#x017F;che<lb/>
Congreß, zu dem man Frankreich förmlich eingeladen hatte, verwandelte<lb/>
&#x017F;ich al&#x017F;o in eine geheime Conferenz der Vier. Dies hinterrückige, aller-<lb/>
dings durch Frankreichs Haltung mitver&#x017F;chuldete Verfahren mußte den<lb/>
franzö&#x017F;i&#x017F;chen Stolz tief verletzten &#x017F;obald es ruchbar ward. Die Gefahr<lb/>
eines europäi&#x017F;chen Krieges rückte &#x017F;o nahe, daß der friedfertige Mini&#x017F;ter Wer-<lb/>
ther &#x017F;chwer er&#x017F;chrocken dem Ge&#x017F;andten Bülow &#x017F;ein Befremden aus&#x017F;prach und<lb/>
ihm nochmals ein&#x017F;chärfte, auf jeden Fall der Krone Preußen die &#x017F;o oft aus-<lb/>
bedungene Neutralität vorzubehalten.<note place="foot" n="&#x2020;&#x2020;)">Werther, Wei&#x017F;ung an Bülow, 16. Juli 1840.</note> Die Vier einigten &#x017F;ich in ihren<lb/>
Sonntags&#x017F;itzungen über die Grundzüge eines Vertrags zur Rettung des<lb/>
Sultans, aber zum förmlichen Ab&#x017F;chluß gelangte man noch immer nicht,<lb/>
weil Palmer&#x017F;ton der Zu&#x017F;timmung &#x017F;eines Cabinets nicht &#x017F;icher war.<note place="foot" n="&#x2020;&#x2020;&#x2020;)">Bülow&#x2019;s Berichte, 23. 30. Juni 1840.</note></p><lb/>
          <p>Vergeblich mahnte Metternich in mehreren Depe&#x017F;chen: die Türkei könne<lb/>
den Zu&#x017F;tand der Ungewißheit nicht länger mehr ertragen; komme man<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0089] Verhandlungen der vier Mächte. H. v. Bülow. Um die Verwirrung zu vollenden ſendete Metternich von Zeit zu Zeit übellaunige Depeſchen; der konnte ſich gar nicht darüber tröſten, daß die Entſcheidung nicht mehr in ſeinen Händen lag und fürchtete immer, Ruß- lands kopfloſe Politik würde ſich in den engliſchen Netzen verfangen. *) Auch der türkiſche Geſandte Shekib Paſcha vermehrte die Mißklänge dieſes ſeltſamen Concerts; er gehorchte blindlings den Rathſchlägen des öſterreichi- ſchen Bevollmächtigten Neumann, der ausdrücklich beauftragt war ſich ſeiner zu bemächtigen (s’emparer). **) Da Lord Ponſonby die Pforte, trotz ihrer Niederlage, beſtändig zur Erneuerung des Krieges drängte, ſo zeigte ſich der Türke ſehr zuverſichtlich und beſchwor die Mächte um baldige Ver- urtheilung des ägyptiſchen Rebellen. ***) Die Verwicklung ward unerträglich, beinahe lächerlich. Der preußi- ſche Geſandte Heinrich von Bülow, der zu Anfang März 1840 nach langem Urlaub wieder in London eingetroffen war, ſchrieb im Juni, nachdem er ſich viele Wochen hindurch vergeblich um die Ausſöhnung der Streiten- den bemüht hatte, ganz verzweifelt: „Was iſt unter ſolchen Umſtänden von dem Fortgang der hieſigen Verhandlungen zu erwarten? Schimpf und Schande! Man thäte beſſer ſie abzubrechen.“ †) Endlich einigten ſich die Geſandten der drei Oſtmächte zu einem letzten Verſuche; ſie ver- langten von Palmerſton vertrauliche Berathungen ohne Frankreich, das man vorläufig doch nicht gewinnen könne. Seit dem 21. Juni ver- ſammelten ſich nunmehr die Geſandten der vier Mächte, hinter Guizot’s Rücken, zu regelmäßigen Sonntagsſitzungen bei Palmerſton; die Stille des engliſchen Sabbaths kam dem Geheimniß zu ſtatten. Der europäiſche Congreß, zu dem man Frankreich förmlich eingeladen hatte, verwandelte ſich alſo in eine geheime Conferenz der Vier. Dies hinterrückige, aller- dings durch Frankreichs Haltung mitverſchuldete Verfahren mußte den franzöſiſchen Stolz tief verletzten ſobald es ruchbar ward. Die Gefahr eines europäiſchen Krieges rückte ſo nahe, daß der friedfertige Miniſter Wer- ther ſchwer erſchrocken dem Geſandten Bülow ſein Befremden ausſprach und ihm nochmals einſchärfte, auf jeden Fall der Krone Preußen die ſo oft aus- bedungene Neutralität vorzubehalten. ††) Die Vier einigten ſich in ihren Sonntagsſitzungen über die Grundzüge eines Vertrags zur Rettung des Sultans, aber zum förmlichen Abſchluß gelangte man noch immer nicht, weil Palmerſton der Zuſtimmung ſeines Cabinets nicht ſicher war. †††) Vergeblich mahnte Metternich in mehreren Depeſchen: die Türkei könne den Zuſtand der Ungewißheit nicht länger mehr ertragen; komme man *) Maltzan’s Bericht, 2. Jan. Metternich an Trauttmansdorff, 7. März 1840. **) Maltzan’s Bericht, 3. März 1840. ***) Shekib Paſcha’s identiſche Noten an die Geſandten der fünf Mächte, 2. Juni 1840. †) Bülow’s Berichte, 3. März ff. 12. Juni 1840. ††) Werther, Weiſung an Bülow, 16. Juli 1840. †††) Bülow’s Berichte, 23. 30. Juni 1840.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/89
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/89>, abgerufen am 23.11.2024.