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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Magyarische Bewegung.
das katholische Herrscherhaus nochmals lebendig; man entsann sich wieder
der schrecklichen Zeiten, da halb Ungarn gerufen hatte: lieber türkisch
als österreichisch. Gut kaiserlich dachte nur noch ein Theil der Magnaten
und des hohen Clerus; dazu noch mit halbem Herzen die Kroaten und
die siebenbürgischen Sachsen. Zu allem Unglück starb im Januar 1847
der greise Palatinus Erzherzog Joseph, den die Hofburg von langeher wie
einen anderen Rebellen Rakoczy beargwöhnte; er hatte, seit einem halben
Jahrhundert in Ungarn heimisch, mit bescheidenem Talent aber ehrlichem
Wohlwollen die nationalen Gegensätze doch noch leidlich unter der Glocke
gehalten. Als Nachfolger war nur sein Sohn Erzherzog Stephan möglich,
ein liebenswürdiger, gutherziger, in allen erdenklichen Wissenschaften als
Dilettant bewanderter junger Herr. Viele hielten ihn, da das kaiser-
liche Haus an Talenten so arm war, für einen großen Staatsmann und
dachten ihm dereinst die Stelle des kläglichen Triumvirn Erzherzogs Ludwig
zu; doch er geizte nach Volksgunst, es war kein fester Kern in ihm, und
nicht ohne schwere Besorgniß ließ Metternich den Unerfahrenen in dies
Chaos nationaler Leidenschaften hinüberziehen. Im November 1847 wurde
der Reichstag durch den traurigen Kaiser-König zum ersten male in ma-
gyarischer Sprache eröffnet; aber obwohl der König sich zu mehreren ver-
ständigen Reformen erbot, so begann doch Kossuth sofort einen wüthenden
Kampf gegen das bettelhafte Privilegium der adlichen Steuerfreiheit, und
die Mehrheit des Hauses zeigte sich der Krone entschieden feindlich. In
halbbarbarischen Ländern verbreiten sich die Gedanken des Widerstandes
mit geheimnißvoller Schnelligkeit; Ungarn war, ohne daß man es zu Wien
noch ahnte, im Frühjahr 1848 schon ebenso reif für einen großen Auf-
stand, wie späterhin im Sommer 1866.

Was vermochte der Hof den gewaltigen centrifugalen Kräften aller dieser
Nationen entgegenzustellen, die noch dazu, mit einziger Ausnahme der Ma-
gyaren, sämmtlich sehnsuchtsvoll nach den Stammgenossen jenseits der
Reichsgrenzen hinüberschauten? Wahrhaftig nicht die deutsche Bildung,
die, im geselligen Leben allezeit unentbehrlich, doch unter dieser Regierung
ihre eigenste Kraft niemals frei entfalten durfte. Noch weniger die Bu-
reaukratie. Sie wurde von Metternich belobt, weil sie keinen solchen "Ueber-
fluß an schoflen Elementen" enthielte wie das preußische Beamtenthum;
und allerdings konnten die k. k. Hof- und Gubernialräthe unmöglich irgend
eines eigenen Gedankens verdächtigt werden, doch wer durfte sich in Tagen
der Gefahr auf dies seelenlose, nachlässige, bestechliche Schreibervolk ver-
lassen? Die kräftigste Stütze des Reichs blieb das Heer, das sich auch
unter Metternich's unmilitärischem Regimente den alten Stolz bewahrte.
Zumal die deutschen Offiziere, die aus den Kleinstaaten und aus Preußens
katholischen Provinzen noch immer herbeikamen, kannten keine andere Hei-
math als die schwarzgelben Fahnen; nur auf die magyarischen und einige
der polnischen Regimenter ließ sich nicht mehr mit Sicherheit rechnen.


Magyariſche Bewegung.
das katholiſche Herrſcherhaus nochmals lebendig; man entſann ſich wieder
der ſchrecklichen Zeiten, da halb Ungarn gerufen hatte: lieber türkiſch
als öſterreichiſch. Gut kaiſerlich dachte nur noch ein Theil der Magnaten
und des hohen Clerus; dazu noch mit halbem Herzen die Kroaten und
die ſiebenbürgiſchen Sachſen. Zu allem Unglück ſtarb im Januar 1847
der greiſe Palatinus Erzherzog Joſeph, den die Hofburg von langeher wie
einen anderen Rebellen Rakoczy beargwöhnte; er hatte, ſeit einem halben
Jahrhundert in Ungarn heimiſch, mit beſcheidenem Talent aber ehrlichem
Wohlwollen die nationalen Gegenſätze doch noch leidlich unter der Glocke
gehalten. Als Nachfolger war nur ſein Sohn Erzherzog Stephan möglich,
ein liebenswürdiger, gutherziger, in allen erdenklichen Wiſſenſchaften als
Dilettant bewanderter junger Herr. Viele hielten ihn, da das kaiſer-
liche Haus an Talenten ſo arm war, für einen großen Staatsmann und
dachten ihm dereinſt die Stelle des kläglichen Triumvirn Erzherzogs Ludwig
zu; doch er geizte nach Volksgunſt, es war kein feſter Kern in ihm, und
nicht ohne ſchwere Beſorgniß ließ Metternich den Unerfahrenen in dies
Chaos nationaler Leidenſchaften hinüberziehen. Im November 1847 wurde
der Reichstag durch den traurigen Kaiſer-König zum erſten male in ma-
gyariſcher Sprache eröffnet; aber obwohl der König ſich zu mehreren ver-
ſtändigen Reformen erbot, ſo begann doch Koſſuth ſofort einen wüthenden
Kampf gegen das bettelhafte Privilegium der adlichen Steuerfreiheit, und
die Mehrheit des Hauſes zeigte ſich der Krone entſchieden feindlich. In
halbbarbariſchen Ländern verbreiten ſich die Gedanken des Widerſtandes
mit geheimnißvoller Schnelligkeit; Ungarn war, ohne daß man es zu Wien
noch ahnte, im Frühjahr 1848 ſchon ebenſo reif für einen großen Auf-
ſtand, wie ſpäterhin im Sommer 1866.

Was vermochte der Hof den gewaltigen centrifugalen Kräften aller dieſer
Nationen entgegenzuſtellen, die noch dazu, mit einziger Ausnahme der Ma-
gyaren, ſämmtlich ſehnſuchtsvoll nach den Stammgenoſſen jenſeits der
Reichsgrenzen hinüberſchauten? Wahrhaftig nicht die deutſche Bildung,
die, im geſelligen Leben allezeit unentbehrlich, doch unter dieſer Regierung
ihre eigenſte Kraft niemals frei entfalten durfte. Noch weniger die Bu-
reaukratie. Sie wurde von Metternich belobt, weil ſie keinen ſolchen „Ueber-
fluß an ſchoflen Elementen“ enthielte wie das preußiſche Beamtenthum;
und allerdings konnten die k. k. Hof- und Gubernialräthe unmöglich irgend
eines eigenen Gedankens verdächtigt werden, doch wer durfte ſich in Tagen
der Gefahr auf dies ſeelenloſe, nachläſſige, beſtechliche Schreibervolk ver-
laſſen? Die kräftigſte Stütze des Reichs blieb das Heer, das ſich auch
unter Metternich’s unmilitäriſchem Regimente den alten Stolz bewahrte.
Zumal die deutſchen Offiziere, die aus den Kleinſtaaten und aus Preußens
katholiſchen Provinzen noch immer herbeikamen, kannten keine andere Hei-
math als die ſchwarzgelben Fahnen; nur auf die magyariſchen und einige
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[715/0729] Magyariſche Bewegung. das katholiſche Herrſcherhaus nochmals lebendig; man entſann ſich wieder der ſchrecklichen Zeiten, da halb Ungarn gerufen hatte: lieber türkiſch als öſterreichiſch. Gut kaiſerlich dachte nur noch ein Theil der Magnaten und des hohen Clerus; dazu noch mit halbem Herzen die Kroaten und die ſiebenbürgiſchen Sachſen. Zu allem Unglück ſtarb im Januar 1847 der greiſe Palatinus Erzherzog Joſeph, den die Hofburg von langeher wie einen anderen Rebellen Rakoczy beargwöhnte; er hatte, ſeit einem halben Jahrhundert in Ungarn heimiſch, mit beſcheidenem Talent aber ehrlichem Wohlwollen die nationalen Gegenſätze doch noch leidlich unter der Glocke gehalten. Als Nachfolger war nur ſein Sohn Erzherzog Stephan möglich, ein liebenswürdiger, gutherziger, in allen erdenklichen Wiſſenſchaften als Dilettant bewanderter junger Herr. Viele hielten ihn, da das kaiſer- liche Haus an Talenten ſo arm war, für einen großen Staatsmann und dachten ihm dereinſt die Stelle des kläglichen Triumvirn Erzherzogs Ludwig zu; doch er geizte nach Volksgunſt, es war kein feſter Kern in ihm, und nicht ohne ſchwere Beſorgniß ließ Metternich den Unerfahrenen in dies Chaos nationaler Leidenſchaften hinüberziehen. Im November 1847 wurde der Reichstag durch den traurigen Kaiſer-König zum erſten male in ma- gyariſcher Sprache eröffnet; aber obwohl der König ſich zu mehreren ver- ſtändigen Reformen erbot, ſo begann doch Koſſuth ſofort einen wüthenden Kampf gegen das bettelhafte Privilegium der adlichen Steuerfreiheit, und die Mehrheit des Hauſes zeigte ſich der Krone entſchieden feindlich. In halbbarbariſchen Ländern verbreiten ſich die Gedanken des Widerſtandes mit geheimnißvoller Schnelligkeit; Ungarn war, ohne daß man es zu Wien noch ahnte, im Frühjahr 1848 ſchon ebenſo reif für einen großen Auf- ſtand, wie ſpäterhin im Sommer 1866. Was vermochte der Hof den gewaltigen centrifugalen Kräften aller dieſer Nationen entgegenzuſtellen, die noch dazu, mit einziger Ausnahme der Ma- gyaren, ſämmtlich ſehnſuchtsvoll nach den Stammgenoſſen jenſeits der Reichsgrenzen hinüberſchauten? Wahrhaftig nicht die deutſche Bildung, die, im geſelligen Leben allezeit unentbehrlich, doch unter dieſer Regierung ihre eigenſte Kraft niemals frei entfalten durfte. Noch weniger die Bu- reaukratie. Sie wurde von Metternich belobt, weil ſie keinen ſolchen „Ueber- fluß an ſchoflen Elementen“ enthielte wie das preußiſche Beamtenthum; und allerdings konnten die k. k. Hof- und Gubernialräthe unmöglich irgend eines eigenen Gedankens verdächtigt werden, doch wer durfte ſich in Tagen der Gefahr auf dies ſeelenloſe, nachläſſige, beſtechliche Schreibervolk ver- laſſen? Die kräftigſte Stütze des Reichs blieb das Heer, das ſich auch unter Metternich’s unmilitäriſchem Regimente den alten Stolz bewahrte. Zumal die deutſchen Offiziere, die aus den Kleinſtaaten und aus Preußens katholiſchen Provinzen noch immer herbeikamen, kannten keine andere Hei- math als die ſchwarzgelben Fahnen; nur auf die magyariſchen und einige der polniſchen Regimenter ließ ſich nicht mehr mit Sicherheit rechnen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 715. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/729>, abgerufen am 22.11.2024.