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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.

Auf diesem Heere ruhte für jetzt Oesterreichs ganze Zukunft. Das
zeigte sich nirgends greller als in Italien, das schon seit Jahren that-
sächlich nur durch einen beständigen Belagerungszustand im Zaume ge-
halten werden konnte. Ein erhebender Anblick, wie nunmehr die beiden
großen Nationen Mitteleuropas zu gleicher Zeit der Erfüllung ihrer Ge-
schicke, dem leuchtenden Ziele der nationalen Einheit zustrebten, beide
durchdrungen von dem stolzen Gefühle, daß sie den Idealismus in der
Menschheit vertraten. Diesseits wie jenseits der Alpen zeigte die natio-
nale Bewegung manche verwandte Züge: die gleiche jugendliche Be-
geisterung und die gleiche phantastische Unklarheit. Die Macht und die
Berechtigung der republikanischen Erinnerungen in diesem classischen Lande
der Städte erschwerte den Italienern mehr als den Deutschen, die Wahn-
gebilde des Radicalismus zu durchschauen, der hier noch immer in Mazzini
einen unvergleichlich kühnen und geistvollen Apostel besaß. Andererseits
konnten sie schneller als die Deutschen den letzten Grund ihrer Leiden er-
kennen. Deutschland litt unter einer verhüllten Fremdherrschaft, deren tiefe
Unwahrheit erst von wenigen hellen Köpfen ganz gewürdigt wurde. Italien
schmachtete unter dem Drucke einer auswärtigen Macht, welche der alten
Cultur der Halbinsel immer fremd bleiben mußte; unter allen seinen Fürsten-
geschlechtern war nur eines, das Haus Savoyen italienisch. Jeder Patriot
hörte mit brennender Scham die Mahnung Caesar Balbo's: die Unab-
hängigkeit ist für eine Nation was die Schamhaftigkeit für ein Weib --
bis endlich Giusti Allen aus dem Herzen sang: Delenda Carthago! Wir
wollen keine Oesterreicher!

Seit die Tricolore des Königreichs Italien die Parteifarben der Car-
bonari ganz verdrängt und die ernsten, thatkräftigen Stämme des Nordens,
Piemontesen und Lombarden, den hitzköpfigen Südländern die Leitung
der nationalen Politik aus der Hand genommen hatten, begannen die
Köpfe sich zu ernüchtern. Piemont, das geschmähte Böotien der Halb-
insel war endlich erwacht und schenkte den Italienern ihre wirksamsten
politischen Schriftsteller. Der Abbate Gioberti predigte in seinem Buche
vom Primat Italiens eine neue welfische Lehre: er feierte das von allen
Patrioten seit Dante's und Machiavell's Zeiten verwünschte Papstthum
als eine gloria italiana, genau so wie viele deutsche Enthusiasten, König
Friedrich Wilhelm voran, den natürlichen Feind der nationalen Einheit,
das Haus Oesterreich noch immer als das heilige Erzhaus verehrten.
Dennoch förderten diese traumhaften neoguelfischen Doktrinen die politische
Erziehung der Nation: sie zeigten doch zum ersten male die Möglichkeit,
daß Italien auf gesetzlichem Wege, ohne gewaltsamen Umsturz, durch einen
Fürstenbund unter dem Primat des Papstes, wieder erstarken könne. Da-
rum mochten auch die beiden tapferen piemontesischen Edelleute, die jetzt
über Italiens Hoffnungen schrieben, den Gedanken des phantastischen
Abbate nicht gradehin widersprechen: Graf Cäsar Balbo mahnte mit alt-

V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.

Auf dieſem Heere ruhte für jetzt Oeſterreichs ganze Zukunft. Das
zeigte ſich nirgends greller als in Italien, das ſchon ſeit Jahren that-
ſächlich nur durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand im Zaume ge-
halten werden konnte. Ein erhebender Anblick, wie nunmehr die beiden
großen Nationen Mitteleuropas zu gleicher Zeit der Erfüllung ihrer Ge-
ſchicke, dem leuchtenden Ziele der nationalen Einheit zuſtrebten, beide
durchdrungen von dem ſtolzen Gefühle, daß ſie den Idealismus in der
Menſchheit vertraten. Dieſſeits wie jenſeits der Alpen zeigte die natio-
nale Bewegung manche verwandte Züge: die gleiche jugendliche Be-
geiſterung und die gleiche phantaſtiſche Unklarheit. Die Macht und die
Berechtigung der republikaniſchen Erinnerungen in dieſem claſſiſchen Lande
der Städte erſchwerte den Italienern mehr als den Deutſchen, die Wahn-
gebilde des Radicalismus zu durchſchauen, der hier noch immer in Mazzini
einen unvergleichlich kühnen und geiſtvollen Apoſtel beſaß. Andererſeits
konnten ſie ſchneller als die Deutſchen den letzten Grund ihrer Leiden er-
kennen. Deutſchland litt unter einer verhüllten Fremdherrſchaft, deren tiefe
Unwahrheit erſt von wenigen hellen Köpfen ganz gewürdigt wurde. Italien
ſchmachtete unter dem Drucke einer auswärtigen Macht, welche der alten
Cultur der Halbinſel immer fremd bleiben mußte; unter allen ſeinen Fürſten-
geſchlechtern war nur eines, das Haus Savoyen italieniſch. Jeder Patriot
hörte mit brennender Scham die Mahnung Caeſar Balbo’s: die Unab-
hängigkeit iſt für eine Nation was die Schamhaftigkeit für ein Weib —
bis endlich Giuſti Allen aus dem Herzen ſang: Delenda Carthago! Wir
wollen keine Oeſterreicher!

Seit die Tricolore des Königreichs Italien die Parteifarben der Car-
bonari ganz verdrängt und die ernſten, thatkräftigen Stämme des Nordens,
Piemonteſen und Lombarden, den hitzköpfigen Südländern die Leitung
der nationalen Politik aus der Hand genommen hatten, begannen die
Köpfe ſich zu ernüchtern. Piemont, das geſchmähte Böotien der Halb-
inſel war endlich erwacht und ſchenkte den Italienern ihre wirkſamſten
politiſchen Schriftſteller. Der Abbate Gioberti predigte in ſeinem Buche
vom Primat Italiens eine neue welfiſche Lehre: er feierte das von allen
Patrioten ſeit Dante’s und Machiavell’s Zeiten verwünſchte Papſtthum
als eine gloria italiana, genau ſo wie viele deutſche Enthuſiaſten, König
Friedrich Wilhelm voran, den natürlichen Feind der nationalen Einheit,
das Haus Oeſterreich noch immer als das heilige Erzhaus verehrten.
Dennoch förderten dieſe traumhaften neoguelfiſchen Doktrinen die politiſche
Erziehung der Nation: ſie zeigten doch zum erſten male die Möglichkeit,
daß Italien auf geſetzlichem Wege, ohne gewaltſamen Umſturz, durch einen
Fürſtenbund unter dem Primat des Papſtes, wieder erſtarken könne. Da-
rum mochten auch die beiden tapferen piemonteſiſchen Edelleute, die jetzt
über Italiens Hoffnungen ſchrieben, den Gedanken des phantaſtiſchen
Abbate nicht gradehin widerſprechen: Graf Cäſar Balbo mahnte mit alt-

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[716/0730] V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution. Auf dieſem Heere ruhte für jetzt Oeſterreichs ganze Zukunft. Das zeigte ſich nirgends greller als in Italien, das ſchon ſeit Jahren that- ſächlich nur durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand im Zaume ge- halten werden konnte. Ein erhebender Anblick, wie nunmehr die beiden großen Nationen Mitteleuropas zu gleicher Zeit der Erfüllung ihrer Ge- ſchicke, dem leuchtenden Ziele der nationalen Einheit zuſtrebten, beide durchdrungen von dem ſtolzen Gefühle, daß ſie den Idealismus in der Menſchheit vertraten. Dieſſeits wie jenſeits der Alpen zeigte die natio- nale Bewegung manche verwandte Züge: die gleiche jugendliche Be- geiſterung und die gleiche phantaſtiſche Unklarheit. Die Macht und die Berechtigung der republikaniſchen Erinnerungen in dieſem claſſiſchen Lande der Städte erſchwerte den Italienern mehr als den Deutſchen, die Wahn- gebilde des Radicalismus zu durchſchauen, der hier noch immer in Mazzini einen unvergleichlich kühnen und geiſtvollen Apoſtel beſaß. Andererſeits konnten ſie ſchneller als die Deutſchen den letzten Grund ihrer Leiden er- kennen. Deutſchland litt unter einer verhüllten Fremdherrſchaft, deren tiefe Unwahrheit erſt von wenigen hellen Köpfen ganz gewürdigt wurde. Italien ſchmachtete unter dem Drucke einer auswärtigen Macht, welche der alten Cultur der Halbinſel immer fremd bleiben mußte; unter allen ſeinen Fürſten- geſchlechtern war nur eines, das Haus Savoyen italieniſch. Jeder Patriot hörte mit brennender Scham die Mahnung Caeſar Balbo’s: die Unab- hängigkeit iſt für eine Nation was die Schamhaftigkeit für ein Weib — bis endlich Giuſti Allen aus dem Herzen ſang: Delenda Carthago! Wir wollen keine Oeſterreicher! Seit die Tricolore des Königreichs Italien die Parteifarben der Car- bonari ganz verdrängt und die ernſten, thatkräftigen Stämme des Nordens, Piemonteſen und Lombarden, den hitzköpfigen Südländern die Leitung der nationalen Politik aus der Hand genommen hatten, begannen die Köpfe ſich zu ernüchtern. Piemont, das geſchmähte Böotien der Halb- inſel war endlich erwacht und ſchenkte den Italienern ihre wirkſamſten politiſchen Schriftſteller. Der Abbate Gioberti predigte in ſeinem Buche vom Primat Italiens eine neue welfiſche Lehre: er feierte das von allen Patrioten ſeit Dante’s und Machiavell’s Zeiten verwünſchte Papſtthum als eine gloria italiana, genau ſo wie viele deutſche Enthuſiaſten, König Friedrich Wilhelm voran, den natürlichen Feind der nationalen Einheit, das Haus Oeſterreich noch immer als das heilige Erzhaus verehrten. Dennoch förderten dieſe traumhaften neoguelfiſchen Doktrinen die politiſche Erziehung der Nation: ſie zeigten doch zum erſten male die Möglichkeit, daß Italien auf geſetzlichem Wege, ohne gewaltſamen Umſturz, durch einen Fürſtenbund unter dem Primat des Papſtes, wieder erſtarken könne. Da- rum mochten auch die beiden tapferen piemonteſiſchen Edelleute, die jetzt über Italiens Hoffnungen ſchrieben, den Gedanken des phantaſtiſchen Abbate nicht gradehin widerſprechen: Graf Cäſar Balbo mahnte mit alt-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 716. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/730>, abgerufen am 01.05.2024.