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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.

Noch im Jahre 1833 hatte der Reichstag die Frage aufgeworfen, ob
nicht zur Besprechung der großen gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen
eine Notabelnversammlung aus Ungarn und den deutsch-böhmischen
Kronländern einberufen werden sollte; die Staatsconferenz war jedoch
über diesen Vorschlag, der für die Einheit des Kaiserstaates vielleicht
folgenreich werden konnte, mit gewohntem Stumpfsinn hinweggegangen,
und seitdem zog Ungarn ganz seines eigenen Weges. Ungarn war nicht,
sondern wird erst, so sagte der gefeierte "größte der Ungarn", Graf Stephan
Szechenyi. Mit bestimmter politischer Absicht und mit bewunderungs-
würdiger Thatkraft, so wie einst die Holländer ihren Seemannsdialekt
zur Schriftsprache ausgebildet hatten, suchten die Magyaren durch eine
rührige Literatur, durch Schulen, Theater, Zeitungen, durch zahllose ge-
meinnützige Unternehmungen ihr unfertiges Volksthum zu der Höhe der
Culturvölker emporzuheben, das deutsche Ofen ward bald von dem ma-
gyarisch-jüdischen Pesth weit überflügelt. Der ungarische Parlamentaris-
mus erlebte seine Blüthezeit. Große Rednertalente traten auf: neben
Szechenyi der geistreiche politische Schriftsteller Graf Eötvös, dann der
schlichte kleine Landedelmann Franz Deak, der bald allgemein als das
gute Gewissen der Nation verehrt wurde, und, Alle übertobend, der feurige
Demagog Ludwig Kossuth. Drei Ziele standen der nationalen Partei
mehr oder minder deutlich vor Augen: Herrschaft des Magyarenthums,
Selbständigkeit der Stephanskrone neben den westlichen Kronländern, end-
lich Umwandlung der schwerfälligen avitischen Ständeverfassung in ein
modernes Repräsentativsystem. Auf dem Reichstage von 1843 errang sie,
wesentlich durch Kossuth's Verdienst, den entscheidenden Erfolg: die neu-
trale lateinische Staatssprache, die seit Jahrhunderten die Völkerschaften
der Stephanskrone in erträglichem Frieden beisammen gehalten hatte, wurde
beseitigt und durch die Sprache des magyarischen Herrenvolkes ersetzt. Die
gute Zeit war dahin, da der Bauer den Edelmann mit dem altgewohnten:
bonum matutinum domine! begrüßte. Obgleich das Deutsche sich nach dem
unzerstörbaren Rechte der überlegenen Bildung noch immer als die all-
gemeine Verkehrssprache behauptete, so sollten doch die Deutschen, die
Slaven, die Rumänier sich fortan einer ihnen ganz unbekannten, erst halb
entwickelten Amtssprache bedienen, und im Reichstage konnte die wort-
und bilderreiche nationale Beredsamkeit, die bisher durch das schwerfällige
Latein doch einigermaßen gedämpft worden war, sich fortan in der eigen-
thümlich rollenden, polternden Heftigkeit magyarischer Sprechweise ganz
ungezügelt ergehen.

Ein Krater nationaler Zwietracht that sich auf, die nichtmagyarische
Mehrheit des Königreichs fühlte sich tödlich beleidigt, der Agramer Sonder-
landtag verlangte für sich sofort die kroatische Sprache. Die siegestrunkenen
Magyaren aber eilten vorwärts, von einer nationalen Forderung zur
anderen. In dem streng calvinischen Kleinadel ward der alte Haß gegen

V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.

Noch im Jahre 1833 hatte der Reichstag die Frage aufgeworfen, ob
nicht zur Beſprechung der großen gemeinſamen wirthſchaftlichen Intereſſen
eine Notabelnverſammlung aus Ungarn und den deutſch-böhmiſchen
Kronländern einberufen werden ſollte; die Staatsconferenz war jedoch
über dieſen Vorſchlag, der für die Einheit des Kaiſerſtaates vielleicht
folgenreich werden konnte, mit gewohntem Stumpfſinn hinweggegangen,
und ſeitdem zog Ungarn ganz ſeines eigenen Weges. Ungarn war nicht,
ſondern wird erſt, ſo ſagte der gefeierte „größte der Ungarn“, Graf Stephan
Szechenyi. Mit beſtimmter politiſcher Abſicht und mit bewunderungs-
würdiger Thatkraft, ſo wie einſt die Holländer ihren Seemannsdialekt
zur Schriftſprache ausgebildet hatten, ſuchten die Magyaren durch eine
rührige Literatur, durch Schulen, Theater, Zeitungen, durch zahlloſe ge-
meinnützige Unternehmungen ihr unfertiges Volksthum zu der Höhe der
Culturvölker emporzuheben, das deutſche Ofen ward bald von dem ma-
gyariſch-jüdiſchen Peſth weit überflügelt. Der ungariſche Parlamentaris-
mus erlebte ſeine Blüthezeit. Große Rednertalente traten auf: neben
Szechenyi der geiſtreiche politiſche Schriftſteller Graf Eötvös, dann der
ſchlichte kleine Landedelmann Franz Deak, der bald allgemein als das
gute Gewiſſen der Nation verehrt wurde, und, Alle übertobend, der feurige
Demagog Ludwig Koſſuth. Drei Ziele ſtanden der nationalen Partei
mehr oder minder deutlich vor Augen: Herrſchaft des Magyarenthums,
Selbſtändigkeit der Stephanskrone neben den weſtlichen Kronländern, end-
lich Umwandlung der ſchwerfälligen avitiſchen Ständeverfaſſung in ein
modernes Repräſentativſyſtem. Auf dem Reichstage von 1843 errang ſie,
weſentlich durch Koſſuth’s Verdienſt, den entſcheidenden Erfolg: die neu-
trale lateiniſche Staatsſprache, die ſeit Jahrhunderten die Völkerſchaften
der Stephanskrone in erträglichem Frieden beiſammen gehalten hatte, wurde
beſeitigt und durch die Sprache des magyariſchen Herrenvolkes erſetzt. Die
gute Zeit war dahin, da der Bauer den Edelmann mit dem altgewohnten:
bonum matutinum domine! begrüßte. Obgleich das Deutſche ſich nach dem
unzerſtörbaren Rechte der überlegenen Bildung noch immer als die all-
gemeine Verkehrsſprache behauptete, ſo ſollten doch die Deutſchen, die
Slaven, die Rumänier ſich fortan einer ihnen ganz unbekannten, erſt halb
entwickelten Amtsſprache bedienen, und im Reichstage konnte die wort-
und bilderreiche nationale Beredſamkeit, die bisher durch das ſchwerfällige
Latein doch einigermaßen gedämpft worden war, ſich fortan in der eigen-
thümlich rollenden, polternden Heftigkeit magyariſcher Sprechweiſe ganz
ungezügelt ergehen.

Ein Krater nationaler Zwietracht that ſich auf, die nichtmagyariſche
Mehrheit des Königreichs fühlte ſich tödlich beleidigt, der Agramer Sonder-
landtag verlangte für ſich ſofort die kroatiſche Sprache. Die ſiegestrunkenen
Magyaren aber eilten vorwärts, von einer nationalen Forderung zur
anderen. In dem ſtreng calviniſchen Kleinadel ward der alte Haß gegen

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[714/0728] V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution. Noch im Jahre 1833 hatte der Reichstag die Frage aufgeworfen, ob nicht zur Beſprechung der großen gemeinſamen wirthſchaftlichen Intereſſen eine Notabelnverſammlung aus Ungarn und den deutſch-böhmiſchen Kronländern einberufen werden ſollte; die Staatsconferenz war jedoch über dieſen Vorſchlag, der für die Einheit des Kaiſerſtaates vielleicht folgenreich werden konnte, mit gewohntem Stumpfſinn hinweggegangen, und ſeitdem zog Ungarn ganz ſeines eigenen Weges. Ungarn war nicht, ſondern wird erſt, ſo ſagte der gefeierte „größte der Ungarn“, Graf Stephan Szechenyi. Mit beſtimmter politiſcher Abſicht und mit bewunderungs- würdiger Thatkraft, ſo wie einſt die Holländer ihren Seemannsdialekt zur Schriftſprache ausgebildet hatten, ſuchten die Magyaren durch eine rührige Literatur, durch Schulen, Theater, Zeitungen, durch zahlloſe ge- meinnützige Unternehmungen ihr unfertiges Volksthum zu der Höhe der Culturvölker emporzuheben, das deutſche Ofen ward bald von dem ma- gyariſch-jüdiſchen Peſth weit überflügelt. Der ungariſche Parlamentaris- mus erlebte ſeine Blüthezeit. Große Rednertalente traten auf: neben Szechenyi der geiſtreiche politiſche Schriftſteller Graf Eötvös, dann der ſchlichte kleine Landedelmann Franz Deak, der bald allgemein als das gute Gewiſſen der Nation verehrt wurde, und, Alle übertobend, der feurige Demagog Ludwig Koſſuth. Drei Ziele ſtanden der nationalen Partei mehr oder minder deutlich vor Augen: Herrſchaft des Magyarenthums, Selbſtändigkeit der Stephanskrone neben den weſtlichen Kronländern, end- lich Umwandlung der ſchwerfälligen avitiſchen Ständeverfaſſung in ein modernes Repräſentativſyſtem. Auf dem Reichstage von 1843 errang ſie, weſentlich durch Koſſuth’s Verdienſt, den entſcheidenden Erfolg: die neu- trale lateiniſche Staatsſprache, die ſeit Jahrhunderten die Völkerſchaften der Stephanskrone in erträglichem Frieden beiſammen gehalten hatte, wurde beſeitigt und durch die Sprache des magyariſchen Herrenvolkes erſetzt. Die gute Zeit war dahin, da der Bauer den Edelmann mit dem altgewohnten: bonum matutinum domine! begrüßte. Obgleich das Deutſche ſich nach dem unzerſtörbaren Rechte der überlegenen Bildung noch immer als die all- gemeine Verkehrsſprache behauptete, ſo ſollten doch die Deutſchen, die Slaven, die Rumänier ſich fortan einer ihnen ganz unbekannten, erſt halb entwickelten Amtsſprache bedienen, und im Reichstage konnte die wort- und bilderreiche nationale Beredſamkeit, die bisher durch das ſchwerfällige Latein doch einigermaßen gedämpft worden war, ſich fortan in der eigen- thümlich rollenden, polternden Heftigkeit magyariſcher Sprechweiſe ganz ungezügelt ergehen. Ein Krater nationaler Zwietracht that ſich auf, die nichtmagyariſche Mehrheit des Königreichs fühlte ſich tödlich beleidigt, der Agramer Sonder- landtag verlangte für ſich ſofort die kroatiſche Sprache. Die ſiegestrunkenen Magyaren aber eilten vorwärts, von einer nationalen Forderung zur anderen. In dem ſtreng calviniſchen Kleinadel ward der alte Haß gegen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/728>, abgerufen am 22.11.2024.