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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Polnische Klagen. Auswärtige Politik.
Ein solcher Landtag, so zahlreich, so stark an Talenten, so tief bewegt von
den Ideen einer unruhigen Zeit, mußte gradezu übergreifen, er mußte
Alles was des Vaterlandes Wohl und Wehe berührte zu besprechen suchen.
Nach dem Patente sollte er sich nur mit inneren Angelegenheiten befassen;
die Einverleibung Krakaus aber und die langjährige Unterbrechung des
Handelsverkehres mit dem revolutionären Spanien hatten in mehreren
Provinzen, zumal in Schlesien, Handel und Wandel schwer geschädigt, und
wie konnte man diese Landesbeschwerden erörtern ohne die europäische
Politik zu berühren? Minister Canitz erkannte das selbst und versicherte
den Ständen, eine taktvolle Besprechung der auswärtigen Angelegenheiten
solle ihnen nicht verboten werden. Wie wenig ahnte er die Wirkung seiner
leichthin gesprochenen Worte! Alles jubelte; man nahm an, die Krone
wolle den Ständen freiwillig ein neues Recht gewähren. Auch der Mar-
schall der Curie der drei Stände, Rochow-Stülpe theilte diese Meinung. Er
hatte vor Kurzem noch in der Verfassungscommission alle reichsständischen
Pläne des Königs hartnäckig bekämpft, er war nachher gleichwohl zum
Landtagsmarschall ernannt worden und bemühte sich mit großer Selbst-
verleugnung, sein schwieriges Amt unparteiisch zu handhaben. Jetzt er-
klärte er einfach: bisher hätte er alle Petitionen über auswärtige Politik
als unstatthaft zurückgewiesen, nunmehr würde er sie zulassen.

Darüber geriethen nun der Hof und das gesammte conservative Lager
in begreifliche Aufregung. Der Prinz von Preußen bestürmte seinen könig-
lichen Bruder mit ernsten Vorstellungen. Ohnehin kein Freund des sarka-
stischen Canitz, lebte er ganz in den Gedanken preußischer Großmachtspolitik;
und wohin trieb man, wenn dieser Landtag, der nur zu berathen hatte, also
keinerlei Verantwortlichkeit trug, die europäische Politik der Krone jeder-
zeit durch leichtfertige Petitionen stören durfte? Der alte Welfe, der dem
preußischen Minister als einem Gegner des hannoverschen Staatsstreichs
noch von seiner Gesandtschaftszeit her grollte, schrieb hämisch: "Habe mich
nicht geirrt auf Dummheit des Canitz."*) Am Berliner Hofe sagte man
laut: Canitz verdiene an demselben Stricke gehenkt zu werden, den er
sich selber durch seine Rede gedreht hätte. König Friedrich Wilhelm wollte
diesen Minister, der ihm besonders werth war, nicht fallen lassen; er
fühlte auch, daß man dem Landtage die auswärtige Politik nicht gänz-
lich verschließen konnte. Aber so lange er selbst in königlicher Weisheit
noch nichts geändert hatte, sollten ihm die Stände keinen Schritt weit
über die gewährten Rechte hinausgehen. Darum nannte er (20. Mai)
die Rede des Landtagsmarschalls "funest" und sagte: "Das ist gegen mein
Gesetz vom 3. Febr. und muß coute que coute reparirt werden."**) Nach
einem großen Ministerrathe sah sich Canitz genöthigt, vor dem Landtage

*) Knyphausen's Bericht, 22. Mai 1847, mit Randbemerkung König Ernst
August's.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 20. Mai 1847.

Polniſche Klagen. Auswärtige Politik.
Ein ſolcher Landtag, ſo zahlreich, ſo ſtark an Talenten, ſo tief bewegt von
den Ideen einer unruhigen Zeit, mußte gradezu übergreifen, er mußte
Alles was des Vaterlandes Wohl und Wehe berührte zu beſprechen ſuchen.
Nach dem Patente ſollte er ſich nur mit inneren Angelegenheiten befaſſen;
die Einverleibung Krakaus aber und die langjährige Unterbrechung des
Handelsverkehres mit dem revolutionären Spanien hatten in mehreren
Provinzen, zumal in Schleſien, Handel und Wandel ſchwer geſchädigt, und
wie konnte man dieſe Landesbeſchwerden erörtern ohne die europäiſche
Politik zu berühren? Miniſter Canitz erkannte das ſelbſt und verſicherte
den Ständen, eine taktvolle Beſprechung der auswärtigen Angelegenheiten
ſolle ihnen nicht verboten werden. Wie wenig ahnte er die Wirkung ſeiner
leichthin geſprochenen Worte! Alles jubelte; man nahm an, die Krone
wolle den Ständen freiwillig ein neues Recht gewähren. Auch der Mar-
ſchall der Curie der drei Stände, Rochow-Stülpe theilte dieſe Meinung. Er
hatte vor Kurzem noch in der Verfaſſungscommiſſion alle reichsſtändiſchen
Pläne des Königs hartnäckig bekämpft, er war nachher gleichwohl zum
Landtagsmarſchall ernannt worden und bemühte ſich mit großer Selbſt-
verleugnung, ſein ſchwieriges Amt unparteiiſch zu handhaben. Jetzt er-
klärte er einfach: bisher hätte er alle Petitionen über auswärtige Politik
als unſtatthaft zurückgewieſen, nunmehr würde er ſie zulaſſen.

Darüber geriethen nun der Hof und das geſammte conſervative Lager
in begreifliche Aufregung. Der Prinz von Preußen beſtürmte ſeinen könig-
lichen Bruder mit ernſten Vorſtellungen. Ohnehin kein Freund des ſarka-
ſtiſchen Canitz, lebte er ganz in den Gedanken preußiſcher Großmachtspolitik;
und wohin trieb man, wenn dieſer Landtag, der nur zu berathen hatte, alſo
keinerlei Verantwortlichkeit trug, die europäiſche Politik der Krone jeder-
zeit durch leichtfertige Petitionen ſtören durfte? Der alte Welfe, der dem
preußiſchen Miniſter als einem Gegner des hannoverſchen Staatsſtreichs
noch von ſeiner Geſandtſchaftszeit her grollte, ſchrieb hämiſch: „Habe mich
nicht geirrt auf Dummheit des Canitz.“*) Am Berliner Hofe ſagte man
laut: Canitz verdiene an demſelben Stricke gehenkt zu werden, den er
ſich ſelber durch ſeine Rede gedreht hätte. König Friedrich Wilhelm wollte
dieſen Miniſter, der ihm beſonders werth war, nicht fallen laſſen; er
fühlte auch, daß man dem Landtage die auswärtige Politik nicht gänz-
lich verſchließen konnte. Aber ſo lange er ſelbſt in königlicher Weisheit
noch nichts geändert hatte, ſollten ihm die Stände keinen Schritt weit
über die gewährten Rechte hinausgehen. Darum nannte er (20. Mai)
die Rede des Landtagsmarſchalls „funeſt“ und ſagte: „Das iſt gegen mein
Geſetz vom 3. Febr. und muß coute que coute reparirt werden.“**) Nach
einem großen Miniſterrathe ſah ſich Canitz genöthigt, vor dem Landtage

*) Knyphauſen’s Bericht, 22. Mai 1847, mit Randbemerkung König Ernſt
Auguſt’s.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 20. Mai 1847.
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[637/0651] Polniſche Klagen. Auswärtige Politik. Ein ſolcher Landtag, ſo zahlreich, ſo ſtark an Talenten, ſo tief bewegt von den Ideen einer unruhigen Zeit, mußte gradezu übergreifen, er mußte Alles was des Vaterlandes Wohl und Wehe berührte zu beſprechen ſuchen. Nach dem Patente ſollte er ſich nur mit inneren Angelegenheiten befaſſen; die Einverleibung Krakaus aber und die langjährige Unterbrechung des Handelsverkehres mit dem revolutionären Spanien hatten in mehreren Provinzen, zumal in Schleſien, Handel und Wandel ſchwer geſchädigt, und wie konnte man dieſe Landesbeſchwerden erörtern ohne die europäiſche Politik zu berühren? Miniſter Canitz erkannte das ſelbſt und verſicherte den Ständen, eine taktvolle Beſprechung der auswärtigen Angelegenheiten ſolle ihnen nicht verboten werden. Wie wenig ahnte er die Wirkung ſeiner leichthin geſprochenen Worte! Alles jubelte; man nahm an, die Krone wolle den Ständen freiwillig ein neues Recht gewähren. Auch der Mar- ſchall der Curie der drei Stände, Rochow-Stülpe theilte dieſe Meinung. Er hatte vor Kurzem noch in der Verfaſſungscommiſſion alle reichsſtändiſchen Pläne des Königs hartnäckig bekämpft, er war nachher gleichwohl zum Landtagsmarſchall ernannt worden und bemühte ſich mit großer Selbſt- verleugnung, ſein ſchwieriges Amt unparteiiſch zu handhaben. Jetzt er- klärte er einfach: bisher hätte er alle Petitionen über auswärtige Politik als unſtatthaft zurückgewieſen, nunmehr würde er ſie zulaſſen. Darüber geriethen nun der Hof und das geſammte conſervative Lager in begreifliche Aufregung. Der Prinz von Preußen beſtürmte ſeinen könig- lichen Bruder mit ernſten Vorſtellungen. Ohnehin kein Freund des ſarka- ſtiſchen Canitz, lebte er ganz in den Gedanken preußiſcher Großmachtspolitik; und wohin trieb man, wenn dieſer Landtag, der nur zu berathen hatte, alſo keinerlei Verantwortlichkeit trug, die europäiſche Politik der Krone jeder- zeit durch leichtfertige Petitionen ſtören durfte? Der alte Welfe, der dem preußiſchen Miniſter als einem Gegner des hannoverſchen Staatsſtreichs noch von ſeiner Geſandtſchaftszeit her grollte, ſchrieb hämiſch: „Habe mich nicht geirrt auf Dummheit des Canitz.“ *) Am Berliner Hofe ſagte man laut: Canitz verdiene an demſelben Stricke gehenkt zu werden, den er ſich ſelber durch ſeine Rede gedreht hätte. König Friedrich Wilhelm wollte dieſen Miniſter, der ihm beſonders werth war, nicht fallen laſſen; er fühlte auch, daß man dem Landtage die auswärtige Politik nicht gänz- lich verſchließen konnte. Aber ſo lange er ſelbſt in königlicher Weisheit noch nichts geändert hatte, ſollten ihm die Stände keinen Schritt weit über die gewährten Rechte hinausgehen. Darum nannte er (20. Mai) die Rede des Landtagsmarſchalls „funeſt“ und ſagte: „Das iſt gegen mein Geſetz vom 3. Febr. und muß coute que coute reparirt werden.“ **) Nach einem großen Miniſterrathe ſah ſich Canitz genöthigt, vor dem Landtage *) Knyphauſen’s Bericht, 22. Mai 1847, mit Randbemerkung König Ernſt Auguſt’s. **) König Friedrich Wilhelm an Thile, 20. Mai 1847.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/651>, abgerufen am 22.11.2024.