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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Die deutsche Nation und der Offene Brief.
ließ. Zugleich setzte Samwer wieder seine scharfe Feder ein. Dirckinck-
Holmfeld, der Historiograph Wegener und die anderen dänischen Publi-
cisten sahen sich bald in die Enge getrieben; sie merkten selbst, wie wenig
die Erbhuldigung des Jahres 1721 bedeutete, und suchten andere Aus-
flüchte. Mit Maulwurfs-Eifer gruben diese Demokraten die unterlassenen
Lehensmuthungen der Sonderburger Linie aus, ja sie wollten den jungen
augustenburgischen Prinzen sogar die Ebenbürtigkeit bestreiten, weil der Her-
zog und sein Bruder zwei Gräfinnen Danneskiold geehelicht hatten; und doch
wußte Jedermann, daß die Frage der Mißheirath allein nach den Haus-
gesetzen und dem Hausbrauche jeder einzelnen Dynastie beurtheilt werden
darf, und grade im Hause Holstein-Oldenburg waren Ehen mit Frauen vom
niederen Adel von jeher häufig vorgekommen. In Schleswigholstein ließ
sich Niemand durch solche Fechterkünste beirren. Das Land hielt zusammen
wie eine große Familie, die ihr Hausrecht wahrt, der gemeinsame Kampf
führte alle Stände in ungewohnter Herzlichkeit einander näher; und wenn
die deutschen Nachbarn früherhin manchmal gutmüthig über den Hahnen-
schritt der holsteinischen Normalmenschen gespottet hatten, so freuten sich
jetzt alle an dem schönen Einmuth ihrer Nordmark.

Der Offene Brief regte die öffentliche Meinung in ganz Deutschland
so mächtig auf wie vor sechs Jahren das Kriegsgeschrei der Franzosen.
Damals aber hatte die Nation einem ebenbürtigen Feinde die stolze Stirn
geboten; jetzt fühlte sie sich bitterlich beschämt, da ein winziger Nachbar
deutsches Recht mit Füßen trat ohne nach Deutschland auch nur zu fragen,
und Geibel nahm Allen das Wort vom Munde als er sang:

Mich will's bedünken fast gleich einem Schwanke,
Daß dieses Inselreich, das kleine, schwache,
Aufbäumend wie ein zorn'ger Meeresdrache
Sich wider uns erhebt zu grimmem Zanke.

In einer Masse von Flugschriften und Gedichten, von Versammlungen
und Reden entlud sich der Sturm. Die Heidelberger Gelehrten gingen
voran, sie sendeten schon im Juli an W. Beseler eine von Gervinus
verfaßte Adresse: "es giebt keine größere politische und nationale Sünde
als die Selbstversäumniß." Da der ernste nationale Machtkampf zunächst
in der Gestalt einer staatsrechtlich-historischen Streitfrage erschien, so trat
das Professorenthum wieder für einige Zeit in den Vordergrund des
deutschen Lebens. Hälschner in Bonn und viele andere Historiker und Ju-
risten erörterten den Erbfolgekampf in gelehrten Streitschriften; der Berliner
Helwing vertheidigte sogar die wohlgemeinte, aber ganz haltlose Behaup-
tung, daß die Erbfolge in den Herzogthümern dem Hause Brandenburg
gebühre. Großes Aufsehen erregte General Radowitz durch sein Schriftchen:
Wer erbt in Schleswig? Er verfocht ohne jeden Vorbehalt die Rechts-
anschauung der Schleswigholsteiner, da er durch seine Verwandten, die
Reventlows, die transalbingischen Verhältnisse gründlich kennen gelernt

37*

Die deutſche Nation und der Offene Brief.
ließ. Zugleich ſetzte Samwer wieder ſeine ſcharfe Feder ein. Dirckinck-
Holmfeld, der Hiſtoriograph Wegener und die anderen däniſchen Publi-
ciſten ſahen ſich bald in die Enge getrieben; ſie merkten ſelbſt, wie wenig
die Erbhuldigung des Jahres 1721 bedeutete, und ſuchten andere Aus-
flüchte. Mit Maulwurfs-Eifer gruben dieſe Demokraten die unterlaſſenen
Lehensmuthungen der Sonderburger Linie aus, ja ſie wollten den jungen
auguſtenburgiſchen Prinzen ſogar die Ebenbürtigkeit beſtreiten, weil der Her-
zog und ſein Bruder zwei Gräfinnen Danneſkiold geehelicht hatten; und doch
wußte Jedermann, daß die Frage der Mißheirath allein nach den Haus-
geſetzen und dem Hausbrauche jeder einzelnen Dynaſtie beurtheilt werden
darf, und grade im Hauſe Holſtein-Oldenburg waren Ehen mit Frauen vom
niederen Adel von jeher häufig vorgekommen. In Schleswigholſtein ließ
ſich Niemand durch ſolche Fechterkünſte beirren. Das Land hielt zuſammen
wie eine große Familie, die ihr Hausrecht wahrt, der gemeinſame Kampf
führte alle Stände in ungewohnter Herzlichkeit einander näher; und wenn
die deutſchen Nachbarn früherhin manchmal gutmüthig über den Hahnen-
ſchritt der holſteiniſchen Normalmenſchen geſpottet hatten, ſo freuten ſich
jetzt alle an dem ſchönen Einmuth ihrer Nordmark.

Der Offene Brief regte die öffentliche Meinung in ganz Deutſchland
ſo mächtig auf wie vor ſechs Jahren das Kriegsgeſchrei der Franzoſen.
Damals aber hatte die Nation einem ebenbürtigen Feinde die ſtolze Stirn
geboten; jetzt fühlte ſie ſich bitterlich beſchämt, da ein winziger Nachbar
deutſches Recht mit Füßen trat ohne nach Deutſchland auch nur zu fragen,
und Geibel nahm Allen das Wort vom Munde als er ſang:

Mich will’s bedünken faſt gleich einem Schwanke,
Daß dieſes Inſelreich, das kleine, ſchwache,
Aufbäumend wie ein zorn’ger Meeresdrache
Sich wider uns erhebt zu grimmem Zanke.

In einer Maſſe von Flugſchriften und Gedichten, von Verſammlungen
und Reden entlud ſich der Sturm. Die Heidelberger Gelehrten gingen
voran, ſie ſendeten ſchon im Juli an W. Beſeler eine von Gervinus
verfaßte Adreſſe: „es giebt keine größere politiſche und nationale Sünde
als die Selbſtverſäumniß.“ Da der ernſte nationale Machtkampf zunächſt
in der Geſtalt einer ſtaatsrechtlich-hiſtoriſchen Streitfrage erſchien, ſo trat
das Profeſſorenthum wieder für einige Zeit in den Vordergrund des
deutſchen Lebens. Hälſchner in Bonn und viele andere Hiſtoriker und Ju-
riſten erörterten den Erbfolgekampf in gelehrten Streitſchriften; der Berliner
Helwing vertheidigte ſogar die wohlgemeinte, aber ganz haltloſe Behaup-
tung, daß die Erbfolge in den Herzogthümern dem Hauſe Brandenburg
gebühre. Großes Aufſehen erregte General Radowitz durch ſein Schriftchen:
Wer erbt in Schleswig? Er verfocht ohne jeden Vorbehalt die Rechts-
anſchauung der Schleswigholſteiner, da er durch ſeine Verwandten, die
Reventlows, die transalbingiſchen Verhältniſſe gründlich kennen gelernt

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[579/0593] Die deutſche Nation und der Offene Brief. ließ. Zugleich ſetzte Samwer wieder ſeine ſcharfe Feder ein. Dirckinck- Holmfeld, der Hiſtoriograph Wegener und die anderen däniſchen Publi- ciſten ſahen ſich bald in die Enge getrieben; ſie merkten ſelbſt, wie wenig die Erbhuldigung des Jahres 1721 bedeutete, und ſuchten andere Aus- flüchte. Mit Maulwurfs-Eifer gruben dieſe Demokraten die unterlaſſenen Lehensmuthungen der Sonderburger Linie aus, ja ſie wollten den jungen auguſtenburgiſchen Prinzen ſogar die Ebenbürtigkeit beſtreiten, weil der Her- zog und ſein Bruder zwei Gräfinnen Danneſkiold geehelicht hatten; und doch wußte Jedermann, daß die Frage der Mißheirath allein nach den Haus- geſetzen und dem Hausbrauche jeder einzelnen Dynaſtie beurtheilt werden darf, und grade im Hauſe Holſtein-Oldenburg waren Ehen mit Frauen vom niederen Adel von jeher häufig vorgekommen. In Schleswigholſtein ließ ſich Niemand durch ſolche Fechterkünſte beirren. Das Land hielt zuſammen wie eine große Familie, die ihr Hausrecht wahrt, der gemeinſame Kampf führte alle Stände in ungewohnter Herzlichkeit einander näher; und wenn die deutſchen Nachbarn früherhin manchmal gutmüthig über den Hahnen- ſchritt der holſteiniſchen Normalmenſchen geſpottet hatten, ſo freuten ſich jetzt alle an dem ſchönen Einmuth ihrer Nordmark. Der Offene Brief regte die öffentliche Meinung in ganz Deutſchland ſo mächtig auf wie vor ſechs Jahren das Kriegsgeſchrei der Franzoſen. Damals aber hatte die Nation einem ebenbürtigen Feinde die ſtolze Stirn geboten; jetzt fühlte ſie ſich bitterlich beſchämt, da ein winziger Nachbar deutſches Recht mit Füßen trat ohne nach Deutſchland auch nur zu fragen, und Geibel nahm Allen das Wort vom Munde als er ſang: Mich will’s bedünken faſt gleich einem Schwanke, Daß dieſes Inſelreich, das kleine, ſchwache, Aufbäumend wie ein zorn’ger Meeresdrache Sich wider uns erhebt zu grimmem Zanke. In einer Maſſe von Flugſchriften und Gedichten, von Verſammlungen und Reden entlud ſich der Sturm. Die Heidelberger Gelehrten gingen voran, ſie ſendeten ſchon im Juli an W. Beſeler eine von Gervinus verfaßte Adreſſe: „es giebt keine größere politiſche und nationale Sünde als die Selbſtverſäumniß.“ Da der ernſte nationale Machtkampf zunächſt in der Geſtalt einer ſtaatsrechtlich-hiſtoriſchen Streitfrage erſchien, ſo trat das Profeſſorenthum wieder für einige Zeit in den Vordergrund des deutſchen Lebens. Hälſchner in Bonn und viele andere Hiſtoriker und Ju- riſten erörterten den Erbfolgekampf in gelehrten Streitſchriften; der Berliner Helwing vertheidigte ſogar die wohlgemeinte, aber ganz haltloſe Behaup- tung, daß die Erbfolge in den Herzogthümern dem Hauſe Brandenburg gebühre. Großes Aufſehen erregte General Radowitz durch ſein Schriftchen: Wer erbt in Schleswig? Er verfocht ohne jeden Vorbehalt die Rechts- anſchauung der Schleswigholſteiner, da er durch ſeine Verwandten, die Reventlows, die transalbingiſchen Verhältniſſe gründlich kennen gelernt 37*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/593>, abgerufen am 22.11.2024.