V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
verhindern.*) Dem Gesandten Liebermann, der freilich mit seiner recht- haberischen Taktlosigkeit den Erbosten nicht zu beschwichtigen verstand, zeigte er deutlich seine üble Laune; dem getreuen Rauch aber sagte er bitter: der wilde Russenhaß, der sich überall in Deutschland bekundet, macht mir jede Freundlichkeit gegen den Zollverein unmöglich.**)
Endlich fühlte er, daß er mit solchem Trotze nicht weiter kam. Die Verhandlungen begannen von Neuem, und die preußische Regierung ent- deckte einen Ausweg, der dem Czaren erlaubte, sich ohne förmlichen Wider- ruf zurückzuziehen. Liebermann mußte vorschlagen, der Kaiser brauche seinen Ukas nicht aufzuheben, er brauche nur zu befehlen, die preußischen Ursprungsscheine sollten genügen, wenn sie die einfache Versicherung enthielten, daß die eingeführten Waaren aus dem freien Verkehre des Inlands -- und dies bedeutete: aus dem Zollvereine -- herstammten. Darauf erwiderte Cancrin mit einem Tugendstolze, der aus russischem Munde hoch ergötzlich klang: dieser Vorschlag ist etwas jesuitisch.***) Je- doch begann er bald einzusehen, daß dieser unsittliche Vorschlag ihm eine goldene Brücke baute. Im September 1843 kam Nikolaus selbst nach Preußen und fühlte sich ganz entzückt, als bei den Manövern zwei Armee- corps und 17 Reiterregimenter in den schönen neuen Helmen und Waffen- röcken vor ihm erschienen. Hier wurde nochmals wegen des Grenzverkehrs mit ihm verhandelt+), und nun endlich, im Januar 1844, bewilligte er die von Preußen geforderte freiere Fassung der Ursprungsscheine; die Waaren aus dem Zollvereine wurden mithin, ohne daß man es förmlich aussprach, den preußischen gleich gestellt. Nachdem Preußen also den nächsten Zweck erreicht hatte, schrieb der König seinem Schwager zärtlich: "Du hast eine gute und große That vollbracht, indem Du die neue Form der Zollscheine anordnetest für die Waaren, welche, nach Deinen Wohlthaten vom vorigen Jahre, Deine Grenzen zu überschreiten wagen. Darum bin ich nicht mehr gezwungen, auf diese Wohlthaten für meine Unterthanen zu verzichten. Auch Deine Stellung, theuerster Freund, ist Deutschland gegenüber jetzt eine andere geworden, sie ist jetzt gut, sie ist was sie sein soll; und viele Dinge, die ich im vergangenen Jahre nicht zu thun wagte, weil eine achtungswerthe öffentliche Meinung sich ihnen widersetzte, sind heute thunlich, denn der Widerspruch des Publikums würde jetzt nicht mehr achtungswerth sein und folglich von mir nicht beachtet werden."++) Nunmehr kam man rascher vorwärts. Preußen setzte die Durchfuhrzölle für den Flußverkehr des russischen Getreides etwas herab und erneuerte am 20. Mai 1844 den Cartellvertrag.
*) Berichte des Ministers Graf Arnim an den König, 19. Juli, 10. Aug. 1843.
**) Berichte von Liebermann, 14. Nov., 20. Dec.; von Rauch, 30. Dec. 1842.
***) Liebermann's Bericht, 21. April 1843.
+) Bülow, Rundschreiben an die Gesandtschaften, 20. Sept. 1843.
++) König Friedrich Wilhelm an Kaiser Nikolaus, 4. Febr. 1844.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
verhindern.*) Dem Geſandten Liebermann, der freilich mit ſeiner recht- haberiſchen Taktloſigkeit den Erboſten nicht zu beſchwichtigen verſtand, zeigte er deutlich ſeine üble Laune; dem getreuen Rauch aber ſagte er bitter: der wilde Ruſſenhaß, der ſich überall in Deutſchland bekundet, macht mir jede Freundlichkeit gegen den Zollverein unmöglich.**)
Endlich fühlte er, daß er mit ſolchem Trotze nicht weiter kam. Die Verhandlungen begannen von Neuem, und die preußiſche Regierung ent- deckte einen Ausweg, der dem Czaren erlaubte, ſich ohne förmlichen Wider- ruf zurückzuziehen. Liebermann mußte vorſchlagen, der Kaiſer brauche ſeinen Ukas nicht aufzuheben, er brauche nur zu befehlen, die preußiſchen Urſprungsſcheine ſollten genügen, wenn ſie die einfache Verſicherung enthielten, daß die eingeführten Waaren aus dem freien Verkehre des Inlands — und dies bedeutete: aus dem Zollvereine — herſtammten. Darauf erwiderte Cancrin mit einem Tugendſtolze, der aus ruſſiſchem Munde hoch ergötzlich klang: dieſer Vorſchlag iſt etwas jeſuitiſch.***) Je- doch begann er bald einzuſehen, daß dieſer unſittliche Vorſchlag ihm eine goldene Brücke baute. Im September 1843 kam Nikolaus ſelbſt nach Preußen und fühlte ſich ganz entzückt, als bei den Manövern zwei Armee- corps und 17 Reiterregimenter in den ſchönen neuen Helmen und Waffen- röcken vor ihm erſchienen. Hier wurde nochmals wegen des Grenzverkehrs mit ihm verhandelt†), und nun endlich, im Januar 1844, bewilligte er die von Preußen geforderte freiere Faſſung der Urſprungsſcheine; die Waaren aus dem Zollvereine wurden mithin, ohne daß man es förmlich ausſprach, den preußiſchen gleich geſtellt. Nachdem Preußen alſo den nächſten Zweck erreicht hatte, ſchrieb der König ſeinem Schwager zärtlich: „Du haſt eine gute und große That vollbracht, indem Du die neue Form der Zollſcheine anordneteſt für die Waaren, welche, nach Deinen Wohlthaten vom vorigen Jahre, Deine Grenzen zu überſchreiten wagen. Darum bin ich nicht mehr gezwungen, auf dieſe Wohlthaten für meine Unterthanen zu verzichten. Auch Deine Stellung, theuerſter Freund, iſt Deutſchland gegenüber jetzt eine andere geworden, ſie iſt jetzt gut, ſie iſt was ſie ſein ſoll; und viele Dinge, die ich im vergangenen Jahre nicht zu thun wagte, weil eine achtungswerthe öffentliche Meinung ſich ihnen widerſetzte, ſind heute thunlich, denn der Widerſpruch des Publikums würde jetzt nicht mehr achtungswerth ſein und folglich von mir nicht beachtet werden.“††) Nunmehr kam man raſcher vorwärts. Preußen ſetzte die Durchfuhrzölle für den Flußverkehr des ruſſiſchen Getreides etwas herab und erneuerte am 20. Mai 1844 den Cartellvertrag.
*) Berichte des Miniſters Graf Arnim an den König, 19. Juli, 10. Aug. 1843.
**) Berichte von Liebermann, 14. Nov., 20. Dec.; von Rauch, 30. Dec. 1842.
***) Liebermann’s Bericht, 21. April 1843.
†) Bülow, Rundſchreiben an die Geſandtſchaften, 20. Sept. 1843.
††) König Friedrich Wilhelm an Kaiſer Nikolaus, 4. Febr. 1844.
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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
verhindern. *) Dem Geſandten Liebermann, der freilich mit ſeiner recht-
haberiſchen Taktloſigkeit den Erboſten nicht zu beſchwichtigen verſtand, zeigte
er deutlich ſeine üble Laune; dem getreuen Rauch aber ſagte er bitter:
der wilde Ruſſenhaß, der ſich überall in Deutſchland bekundet, macht mir
jede Freundlichkeit gegen den Zollverein unmöglich. **)
Endlich fühlte er, daß er mit ſolchem Trotze nicht weiter kam. Die
Verhandlungen begannen von Neuem, und die preußiſche Regierung ent-
deckte einen Ausweg, der dem Czaren erlaubte, ſich ohne förmlichen Wider-
ruf zurückzuziehen. Liebermann mußte vorſchlagen, der Kaiſer brauche
ſeinen Ukas nicht aufzuheben, er brauche nur zu befehlen, die preußiſchen
Urſprungsſcheine ſollten genügen, wenn ſie die einfache Verſicherung
enthielten, daß die eingeführten Waaren aus dem freien Verkehre des
Inlands — und dies bedeutete: aus dem Zollvereine — herſtammten.
Darauf erwiderte Cancrin mit einem Tugendſtolze, der aus ruſſiſchem
Munde hoch ergötzlich klang: dieſer Vorſchlag iſt etwas jeſuitiſch. ***) Je-
doch begann er bald einzuſehen, daß dieſer unſittliche Vorſchlag ihm eine
goldene Brücke baute. Im September 1843 kam Nikolaus ſelbſt nach
Preußen und fühlte ſich ganz entzückt, als bei den Manövern zwei Armee-
corps und 17 Reiterregimenter in den ſchönen neuen Helmen und Waffen-
röcken vor ihm erſchienen. Hier wurde nochmals wegen des Grenzverkehrs
mit ihm verhandelt †), und nun endlich, im Januar 1844, bewilligte er
die von Preußen geforderte freiere Faſſung der Urſprungsſcheine; die
Waaren aus dem Zollvereine wurden mithin, ohne daß man es förmlich
ausſprach, den preußiſchen gleich geſtellt. Nachdem Preußen alſo den
nächſten Zweck erreicht hatte, ſchrieb der König ſeinem Schwager zärtlich:
„Du haſt eine gute und große That vollbracht, indem Du die neue Form
der Zollſcheine anordneteſt für die Waaren, welche, nach Deinen Wohlthaten
vom vorigen Jahre, Deine Grenzen zu überſchreiten wagen. Darum bin
ich nicht mehr gezwungen, auf dieſe Wohlthaten für meine Unterthanen
zu verzichten. Auch Deine Stellung, theuerſter Freund, iſt Deutſchland
gegenüber jetzt eine andere geworden, ſie iſt jetzt gut, ſie iſt was ſie ſein
ſoll; und viele Dinge, die ich im vergangenen Jahre nicht zu thun wagte,
weil eine achtungswerthe öffentliche Meinung ſich ihnen widerſetzte, ſind
heute thunlich, denn der Widerſpruch des Publikums würde jetzt nicht
mehr achtungswerth ſein und folglich von mir nicht beachtet werden.“ ††)
Nunmehr kam man raſcher vorwärts. Preußen ſetzte die Durchfuhrzölle
für den Flußverkehr des ruſſiſchen Getreides etwas herab und erneuerte
am 20. Mai 1844 den Cartellvertrag.
*) Berichte des Miniſters Graf Arnim an den König, 19. Juli, 10. Aug. 1843.
**) Berichte von Liebermann, 14. Nov., 20. Dec.; von Rauch, 30. Dec. 1842.
***) Liebermann’s Bericht, 21. April 1843.
†) Bülow, Rundſchreiben an die Geſandtſchaften, 20. Sept. 1843.
††) König Friedrich Wilhelm an Kaiſer Nikolaus, 4. Febr. 1844.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/480>, abgerufen am 22.11.2024.
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