Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.Die Petersburger Ueberraschung. Preußen. Nach wenigen Wochen lernte der Berliner Hof den Werth derrussischen Großmuth noch näher kennen; denn als der versprochene Ukas erschien, da ergab sich, daß die Zollerleichterungen ausdrücklich nur für preußische Waaren, nicht für Waaren des Zollvereins gelten sollten und folglich von Preußen nicht angenommen werden konnten. Allerdings hatte der Zollverein bisher alle russischen Zollverhandlungen allein durch Preußen als den einzigen Grenzstaat führen lassen. Da er aber den inneren Ver- kehr ganz frei ließ, so mußten alle der preußischen Ausfuhr gewährten Vortheile nothwendig dem gesammten Zollvereine zu gute kommen, wie ja auch der russischen Einfuhr nach Ueberschreitung der preußischen Grenze sofort das ganze deutsche Zollgebiet offen stand; die Behörden waren ohnehin nicht mehr in der Lage, mit Sicherheit preußische Ursprungsscheine auszufertigen. Unmöglich konnte sich ein Staatsmann von Cancrin's Sachkenntniß über diese Verhältnisse täuschen; er beabsichtigte freundnach- barlich, neue Vergünstigungen von Preußen zu erpressen, auch wohl Un- frieden im Innern des Zollvereins zu erregen. In der That erhoben die süddeutschen Zeitungen sobald der Ukas *) Randbemerkung zu Bülow's Schreiben an Thile vom 9. März 1843. **) Nesselrode an den stellvertretenden Gesandten v. Fonton in Berlin, 31. Aug. 1842. ***) Weisung des Ministers des Innern an den Oberpräsidenten Bötticher, 16. Nov.; Cabinetsordre an Boyen, Bülow, Arnim, 23. Nov. 1842. v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 30
Die Petersburger Ueberraſchung. Preußen. Nach wenigen Wochen lernte der Berliner Hof den Werth derruſſiſchen Großmuth noch näher kennen; denn als der verſprochene Ukas erſchien, da ergab ſich, daß die Zollerleichterungen ausdrücklich nur für preußiſche Waaren, nicht für Waaren des Zollvereins gelten ſollten und folglich von Preußen nicht angenommen werden konnten. Allerdings hatte der Zollverein bisher alle ruſſiſchen Zollverhandlungen allein durch Preußen als den einzigen Grenzſtaat führen laſſen. Da er aber den inneren Ver- kehr ganz frei ließ, ſo mußten alle der preußiſchen Ausfuhr gewährten Vortheile nothwendig dem geſammten Zollvereine zu gute kommen, wie ja auch der ruſſiſchen Einfuhr nach Ueberſchreitung der preußiſchen Grenze ſofort das ganze deutſche Zollgebiet offen ſtand; die Behörden waren ohnehin nicht mehr in der Lage, mit Sicherheit preußiſche Urſprungsſcheine auszufertigen. Unmöglich konnte ſich ein Staatsmann von Cancrin’s Sachkenntniß über dieſe Verhältniſſe täuſchen; er beabſichtigte freundnach- barlich, neue Vergünſtigungen von Preußen zu erpreſſen, auch wohl Un- frieden im Innern des Zollvereins zu erregen. In der That erhoben die ſüddeutſchen Zeitungen ſobald der Ukas *) Randbemerkung zu Bülow’s Schreiben an Thile vom 9. März 1843. **) Neſſelrode an den ſtellvertretenden Geſandten v. Fonton in Berlin, 31. Aug. 1842. ***) Weiſung des Miniſters des Innern an den Oberpräſidenten Bötticher, 16. Nov.; Cabinetsordre an Boyen, Bülow, Arnim, 23. Nov. 1842. v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 30
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0479" n="465"/><fw place="top" type="header">Die Petersburger Ueberraſchung.</fw><lb/> Preußen. Nach wenigen Wochen lernte der Berliner Hof den Werth der<lb/> ruſſiſchen Großmuth noch näher kennen; denn als der verſprochene Ukas<lb/> erſchien, da ergab ſich, daß die Zollerleichterungen ausdrücklich nur für<lb/> preußiſche Waaren, nicht für Waaren des Zollvereins gelten ſollten und<lb/> folglich von Preußen nicht angenommen werden konnten. Allerdings hatte<lb/> der Zollverein bisher alle ruſſiſchen Zollverhandlungen allein durch Preußen<lb/> als den einzigen Grenzſtaat führen laſſen. Da er aber den inneren Ver-<lb/> kehr ganz frei ließ, ſo mußten alle der preußiſchen Ausfuhr gewährten<lb/> Vortheile nothwendig dem geſammten Zollvereine zu gute kommen, wie<lb/> ja auch der ruſſiſchen Einfuhr nach Ueberſchreitung der preußiſchen Grenze<lb/> ſofort das ganze deutſche Zollgebiet offen ſtand; die Behörden waren<lb/> ohnehin nicht mehr in der Lage, mit Sicherheit preußiſche Urſprungsſcheine<lb/> auszufertigen. Unmöglich konnte ſich ein Staatsmann von Cancrin’s<lb/> Sachkenntniß über dieſe Verhältniſſe täuſchen; er beabſichtigte freundnach-<lb/> barlich, neue Vergünſtigungen von Preußen zu erpreſſen, auch wohl Un-<lb/> frieden im Innern des Zollvereins zu erregen.</p><lb/> <p>In der That erhoben die ſüddeutſchen Zeitungen ſobald der Ukas<lb/> bekannt wurde ein heftiges Geſchrei gegen Preußens treuloſe Selbſtſucht.<lb/> Wieder einmal ein ganz ungerechter Vorwurf gegen die Vormacht des<lb/> Zollvereins. Der preußiſche Hof dachte keinen Augenblick an eine Preis-<lb/> gebung ſeiner Zollverbündeten; er ließ vielmehr alsbald erwidern, daß er<lb/> die ruſſiſchen Gewährungen ablehne, wenn ſie nicht dem ganzen Zollver-<lb/> eine zu theil würden. Cancrin aber empfing dieſe Antwort, die doch gar<lb/> nicht anders lauten konnte, mit ſo wohl geſpielter entrüſteter Verwunde-<lb/> rung, daß König Friedrich Wilhelm ſich über die Heuchelei des Deutſch-<lb/> Ruſſen entſetzte und in hellem Zorne ſchrieb: „Ich möchte ihn anreden<lb/> mit dem Schluß der Rede des Götz von Berlichingen an den Reichstrom-<lb/> peter!!! Die <hi rendition="#g">ruſſiſche Verpuppung</hi> iſt bei <hi rendition="#g">dieſem Deutſchen</hi><lb/> vollendet.“<note place="foot" n="*)">Randbemerkung zu Bülow’s Schreiben an Thile vom 9. März 1843.</note> Nunmehr erklärte Neſſelrode erhaben, ſein Kaiſer „zögere<lb/> nicht, auf das Cartell zu verzichten und alſo ein neues Opfer allen denen,<lb/> die er ſich ſchon freiwillig auferlegt, hinzuzufügen.“<note place="foot" n="**)">Neſſelrode an den ſtellvertretenden Geſandten v. Fonton in Berlin, 31. Aug. 1842.</note> Mehrere Monate<lb/> lang lebten hierauf die beiden Nachbarſtaaten ohne jedes Vertragsverhält-<lb/> niß; Preußen beſchränkte ſich auf die Auslieferung gemeiner Verbrecher.<note place="foot" n="***)">Weiſung des Miniſters des Innern an den Oberpräſidenten Bötticher, 16. Nov.;<lb/> Cabinetsordre an Boyen, Bülow, Arnim, 23. Nov. 1842.</note><lb/> Auch der Prinz von Preußen richtete nichts aus, als er im December<lb/> den ruſſiſchen Schwager beſuchte. Der Czar wetterte und tobte, er ver-<lb/> fiel in ſeinem Grimm auf ungeheuerliche Vertheidigungspläne, befahl alle<lb/> Juden 50 Werſt weit von der Grenze wegzuſchaffen und dachte ſogar,<lb/> der Weſtgrenze entlang einen Landſtreifen von der Breite eines Kilometers<lb/> ganz wüſt legen zu laſſen, um alſo jede Flucht und jeden Schmuggel zu<lb/> <fw place="bottom" type="sig">v. <hi rendition="#g">Treitſchke</hi>, Deutſche Geſchichte. <hi rendition="#aq">V.</hi> 30</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [465/0479]
Die Petersburger Ueberraſchung.
Preußen. Nach wenigen Wochen lernte der Berliner Hof den Werth der
ruſſiſchen Großmuth noch näher kennen; denn als der verſprochene Ukas
erſchien, da ergab ſich, daß die Zollerleichterungen ausdrücklich nur für
preußiſche Waaren, nicht für Waaren des Zollvereins gelten ſollten und
folglich von Preußen nicht angenommen werden konnten. Allerdings hatte
der Zollverein bisher alle ruſſiſchen Zollverhandlungen allein durch Preußen
als den einzigen Grenzſtaat führen laſſen. Da er aber den inneren Ver-
kehr ganz frei ließ, ſo mußten alle der preußiſchen Ausfuhr gewährten
Vortheile nothwendig dem geſammten Zollvereine zu gute kommen, wie
ja auch der ruſſiſchen Einfuhr nach Ueberſchreitung der preußiſchen Grenze
ſofort das ganze deutſche Zollgebiet offen ſtand; die Behörden waren
ohnehin nicht mehr in der Lage, mit Sicherheit preußiſche Urſprungsſcheine
auszufertigen. Unmöglich konnte ſich ein Staatsmann von Cancrin’s
Sachkenntniß über dieſe Verhältniſſe täuſchen; er beabſichtigte freundnach-
barlich, neue Vergünſtigungen von Preußen zu erpreſſen, auch wohl Un-
frieden im Innern des Zollvereins zu erregen.
In der That erhoben die ſüddeutſchen Zeitungen ſobald der Ukas
bekannt wurde ein heftiges Geſchrei gegen Preußens treuloſe Selbſtſucht.
Wieder einmal ein ganz ungerechter Vorwurf gegen die Vormacht des
Zollvereins. Der preußiſche Hof dachte keinen Augenblick an eine Preis-
gebung ſeiner Zollverbündeten; er ließ vielmehr alsbald erwidern, daß er
die ruſſiſchen Gewährungen ablehne, wenn ſie nicht dem ganzen Zollver-
eine zu theil würden. Cancrin aber empfing dieſe Antwort, die doch gar
nicht anders lauten konnte, mit ſo wohl geſpielter entrüſteter Verwunde-
rung, daß König Friedrich Wilhelm ſich über die Heuchelei des Deutſch-
Ruſſen entſetzte und in hellem Zorne ſchrieb: „Ich möchte ihn anreden
mit dem Schluß der Rede des Götz von Berlichingen an den Reichstrom-
peter!!! Die ruſſiſche Verpuppung iſt bei dieſem Deutſchen
vollendet.“ *) Nunmehr erklärte Neſſelrode erhaben, ſein Kaiſer „zögere
nicht, auf das Cartell zu verzichten und alſo ein neues Opfer allen denen,
die er ſich ſchon freiwillig auferlegt, hinzuzufügen.“ **) Mehrere Monate
lang lebten hierauf die beiden Nachbarſtaaten ohne jedes Vertragsverhält-
niß; Preußen beſchränkte ſich auf die Auslieferung gemeiner Verbrecher. ***)
Auch der Prinz von Preußen richtete nichts aus, als er im December
den ruſſiſchen Schwager beſuchte. Der Czar wetterte und tobte, er ver-
fiel in ſeinem Grimm auf ungeheuerliche Vertheidigungspläne, befahl alle
Juden 50 Werſt weit von der Grenze wegzuſchaffen und dachte ſogar,
der Weſtgrenze entlang einen Landſtreifen von der Breite eines Kilometers
ganz wüſt legen zu laſſen, um alſo jede Flucht und jeden Schmuggel zu
*) Randbemerkung zu Bülow’s Schreiben an Thile vom 9. März 1843.
**) Neſſelrode an den ſtellvertretenden Geſandten v. Fonton in Berlin, 31. Aug. 1842.
***) Weiſung des Miniſters des Innern an den Oberpräſidenten Bötticher, 16. Nov.;
Cabinetsordre an Boyen, Bülow, Arnim, 23. Nov. 1842.
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 30
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |