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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
beständig -- das erfuhr der preußische Gesandte von Lord Aberdeen
selbst --: keine Macht der Welt soll mich je zum Eintritt in den preu-
ßischen Verein bewegen! Nun gar jetzt sich durch das verhaßte Braun-
schweig gleichsam zwingen zu lassen -- das ging ihm wider die Ehre.
Die Briten bestärkten ihn, wie sich von selbst verstand, in solchen Vorsätzen,
obgleich Aberdeen dem leichtgläubigen Bunsen treuherzig betheuerte: der
Beitritt Hannovers würde die Partei des Freihandels im Zollvereine kräf-
tigen und uns darum willkommen sein.*) Auf seine Hannoveraner konnte
der Welfe sich verlassen. In der Presse des Landes polterte widerwärtig der
breite niedersächsische Bauernhochmuth, der ohne nach dem großen Vater-
lande auch nur zu fragen sich wohlgefällig seines gefüllten Magens rühmte,
und die Hansen suchten diesen Trotz nach Kräften zu nähren.

In Bremen, das allezeit mehr vaterländische Gesinnung zeigte als
Hamburg, ward die Verbindung mit dem Zollvereine allerdings schon
zuweilen erwogen; doch allein konnte die Weserstadt nichts wagen, sie
mußte sonst fürchten ihren gesammten Zwischenhandel an das reichere Ham-
burg zu verlieren. Dort an der Elbe hatte sich in dem langen hansischen
Sonderleben eine Gesinnung herausgebildet, die man ebenso wohl allzu
weitherzig wie allzu engherzig nennen konnte, eine rein kaufmännische
Auffassung des politischen Lebens, die in dem Staate nur den unbequemen
Dränger, den natürlichen Feind des freien Handels sah und überdies
mit republikanischem Dünkel auf die angebliche Unfreiheit der preußischen
Monarchie herabblickte. Der hansische Handel hatte die Stellung einer
Weltmacht behauptet in Zeiten, da das Vaterland tief darniederlag. Kein
Wunder, daß man anfing das eigene Verdienst zu überschätzen und die
doch leicht begreifliche Blüthe dieser Emporien eines gewerbfleißigen, dicht-
bevölkerten Hinterlandes allein aus der tiefen Weisheit ihrer Handels-
politik herleitete. Man legte sich die Frage kaum noch vor, warum denn
London und Liverpool, New-York und Marseille unter dem Schutze ihrer
nationalen Zolllinien gediehen? warum an den Mündungen von Rhein,
Maas und Schelde, ebenfalls hinter nationalen Zollschranken, eine ganze
Reihe blühender Handelsstädte bestand? Die Natur selbst -- das galt
in Hamburg als ein Glaubenssatz -- hatte Deutschland zu einer ewigen
handelspolitischen Selbstverstümmelung bestimmt, sie hatte die Mündungen
der Elbe, der Weser, der Trave so ganz absonderlich gestaltet, daß sie immer-
dar "eine Freiküste" bleiben mußten. Eine Erklärung dieses Naturwunders
wußte freilich Niemand zu geben.

Der tiefste Grund des hamburgischen Particularismus lag in der
Schwerfälligkeit der Kaufleute, die sich nicht entschließen konnten, eine alt-
gewohnte und meisterhaft betriebene Geschäftsweise rechtzeitig zu ändern.
Sie betrachteten noch immer, wie in althansischer Zeit, den Zwischen-

*) Bunsen's Berichte, 28. Oct., 10. Dec. 1842, 26. März 1844.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
beſtändig — das erfuhr der preußiſche Geſandte von Lord Aberdeen
ſelbſt —: keine Macht der Welt ſoll mich je zum Eintritt in den preu-
ßiſchen Verein bewegen! Nun gar jetzt ſich durch das verhaßte Braun-
ſchweig gleichſam zwingen zu laſſen — das ging ihm wider die Ehre.
Die Briten beſtärkten ihn, wie ſich von ſelbſt verſtand, in ſolchen Vorſätzen,
obgleich Aberdeen dem leichtgläubigen Bunſen treuherzig betheuerte: der
Beitritt Hannovers würde die Partei des Freihandels im Zollvereine kräf-
tigen und uns darum willkommen ſein.*) Auf ſeine Hannoveraner konnte
der Welfe ſich verlaſſen. In der Preſſe des Landes polterte widerwärtig der
breite niederſächſiſche Bauernhochmuth, der ohne nach dem großen Vater-
lande auch nur zu fragen ſich wohlgefällig ſeines gefüllten Magens rühmte,
und die Hanſen ſuchten dieſen Trotz nach Kräften zu nähren.

In Bremen, das allezeit mehr vaterländiſche Geſinnung zeigte als
Hamburg, ward die Verbindung mit dem Zollvereine allerdings ſchon
zuweilen erwogen; doch allein konnte die Weſerſtadt nichts wagen, ſie
mußte ſonſt fürchten ihren geſammten Zwiſchenhandel an das reichere Ham-
burg zu verlieren. Dort an der Elbe hatte ſich in dem langen hanſiſchen
Sonderleben eine Geſinnung herausgebildet, die man ebenſo wohl allzu
weitherzig wie allzu engherzig nennen konnte, eine rein kaufmänniſche
Auffaſſung des politiſchen Lebens, die in dem Staate nur den unbequemen
Dränger, den natürlichen Feind des freien Handels ſah und überdies
mit republikaniſchem Dünkel auf die angebliche Unfreiheit der preußiſchen
Monarchie herabblickte. Der hanſiſche Handel hatte die Stellung einer
Weltmacht behauptet in Zeiten, da das Vaterland tief darniederlag. Kein
Wunder, daß man anfing das eigene Verdienſt zu überſchätzen und die
doch leicht begreifliche Blüthe dieſer Emporien eines gewerbfleißigen, dicht-
bevölkerten Hinterlandes allein aus der tiefen Weisheit ihrer Handels-
politik herleitete. Man legte ſich die Frage kaum noch vor, warum denn
London und Liverpool, New-York und Marſeille unter dem Schutze ihrer
nationalen Zolllinien gediehen? warum an den Mündungen von Rhein,
Maas und Schelde, ebenfalls hinter nationalen Zollſchranken, eine ganze
Reihe blühender Handelsſtädte beſtand? Die Natur ſelbſt — das galt
in Hamburg als ein Glaubensſatz — hatte Deutſchland zu einer ewigen
handelspolitiſchen Selbſtverſtümmelung beſtimmt, ſie hatte die Mündungen
der Elbe, der Weſer, der Trave ſo ganz abſonderlich geſtaltet, daß ſie immer-
dar „eine Freiküſte“ bleiben mußten. Eine Erklärung dieſes Naturwunders
wußte freilich Niemand zu geben.

Der tiefſte Grund des hamburgiſchen Particularismus lag in der
Schwerfälligkeit der Kaufleute, die ſich nicht entſchließen konnten, eine alt-
gewohnte und meiſterhaft betriebene Geſchäftsweiſe rechtzeitig zu ändern.
Sie betrachteten noch immer, wie in althanſiſcher Zeit, den Zwiſchen-

*) Bunſen’s Berichte, 28. Oct., 10. Dec. 1842, 26. März 1844.
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[444/0458] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. beſtändig — das erfuhr der preußiſche Geſandte von Lord Aberdeen ſelbſt —: keine Macht der Welt ſoll mich je zum Eintritt in den preu- ßiſchen Verein bewegen! Nun gar jetzt ſich durch das verhaßte Braun- ſchweig gleichſam zwingen zu laſſen — das ging ihm wider die Ehre. Die Briten beſtärkten ihn, wie ſich von ſelbſt verſtand, in ſolchen Vorſätzen, obgleich Aberdeen dem leichtgläubigen Bunſen treuherzig betheuerte: der Beitritt Hannovers würde die Partei des Freihandels im Zollvereine kräf- tigen und uns darum willkommen ſein. *) Auf ſeine Hannoveraner konnte der Welfe ſich verlaſſen. In der Preſſe des Landes polterte widerwärtig der breite niederſächſiſche Bauernhochmuth, der ohne nach dem großen Vater- lande auch nur zu fragen ſich wohlgefällig ſeines gefüllten Magens rühmte, und die Hanſen ſuchten dieſen Trotz nach Kräften zu nähren. In Bremen, das allezeit mehr vaterländiſche Geſinnung zeigte als Hamburg, ward die Verbindung mit dem Zollvereine allerdings ſchon zuweilen erwogen; doch allein konnte die Weſerſtadt nichts wagen, ſie mußte ſonſt fürchten ihren geſammten Zwiſchenhandel an das reichere Ham- burg zu verlieren. Dort an der Elbe hatte ſich in dem langen hanſiſchen Sonderleben eine Geſinnung herausgebildet, die man ebenſo wohl allzu weitherzig wie allzu engherzig nennen konnte, eine rein kaufmänniſche Auffaſſung des politiſchen Lebens, die in dem Staate nur den unbequemen Dränger, den natürlichen Feind des freien Handels ſah und überdies mit republikaniſchem Dünkel auf die angebliche Unfreiheit der preußiſchen Monarchie herabblickte. Der hanſiſche Handel hatte die Stellung einer Weltmacht behauptet in Zeiten, da das Vaterland tief darniederlag. Kein Wunder, daß man anfing das eigene Verdienſt zu überſchätzen und die doch leicht begreifliche Blüthe dieſer Emporien eines gewerbfleißigen, dicht- bevölkerten Hinterlandes allein aus der tiefen Weisheit ihrer Handels- politik herleitete. Man legte ſich die Frage kaum noch vor, warum denn London und Liverpool, New-York und Marſeille unter dem Schutze ihrer nationalen Zolllinien gediehen? warum an den Mündungen von Rhein, Maas und Schelde, ebenfalls hinter nationalen Zollſchranken, eine ganze Reihe blühender Handelsſtädte beſtand? Die Natur ſelbſt — das galt in Hamburg als ein Glaubensſatz — hatte Deutſchland zu einer ewigen handelspolitiſchen Selbſtverſtümmelung beſtimmt, ſie hatte die Mündungen der Elbe, der Weſer, der Trave ſo ganz abſonderlich geſtaltet, daß ſie immer- dar „eine Freiküſte“ bleiben mußten. Eine Erklärung dieſes Naturwunders wußte freilich Niemand zu geben. Der tiefſte Grund des hamburgiſchen Particularismus lag in der Schwerfälligkeit der Kaufleute, die ſich nicht entſchließen konnten, eine alt- gewohnte und meiſterhaft betriebene Geſchäftsweiſe rechtzeitig zu ändern. Sie betrachteten noch immer, wie in althanſiſcher Zeit, den Zwiſchen- *) Bunſen’s Berichte, 28. Oct., 10. Dec. 1842, 26. März 1844.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/458>, abgerufen am 22.11.2024.