weil die Naturwissenschaften Fachwissenschaften stets sind und bleiben, ihre Schriften niemals so vollständig zum Gemeingut aller Gebildeten werden können wie die Werke der Geisteswissenschaften.
Jetzt erhob Jakob Grimm seine warnende Stimme dawider in einer Ver- sammlung der Germanisten. Er erwies kurz und schlagend, daß die Geistes- wissenschaften darum die Grundlage der allgemeinen Bildung bleiben müssen, weil sie allein das ganze Menschenleben, auch die Welt der Phantasie und des Herzens umfassen; er zeigte, daß sie weltbürgerlich und national zugleich sind, die Naturwissenschaften weltbürgerlich schlechthin; und nur wo volksthümliche und allgemein menschliche Bildung einander durch- dringen, entfaltet sich der ganze Reichthum der Weltgeschichte. Er er- kannte freudig an, was unser gesammtes Volksleben, und insonderheit seine geliebte Sprache, der exakten Forschung verdankte. Die jungen Naturforscher schrieben meistens vortrefflich; ihre klare, bestimmte, einfache Prosa nahm den deutschen Geist, der sich so gern zu träumerischen Ahnungen versteigt, in eine strenge, heilsame Zucht; doch sie beherrschte nur einen kleinen Theil des unermeßlichen Sprachschatzes. Der Stil des Naturforschers, der immer von Gesetzen, Begriffen, Gattungen und Arten handelt, legt den Ton auf das starre Hauptwort und kann, in seiner Art vollendet, schließlich doch nicht wetteifern mit dem reicheren Stile des Historikers, der sich frei in der Welt des Werdens, der freien Thaten umschaut und darum den Ton auf das erregende, Leben spendende Zeit- wort legt. Es blieb auch fernerhin bei dem alten Gesetze, daß die Cultur- sprachen fortgebildet werden zuvörderst durch den Volksmund und die Dichtung, sodann durch Redner, Historiker, Philosophen; die neuen von den exakten Wissenschaften geschaffenen Kunstausdrücke waren in ihrer Mehrzahl international und zeigten schon durch ihre willkürliche Form, daß sie nicht der Naturgewalt des Sprachgeistes, sondern verständiger Berechnung entsprangen.
Vorderhand blieb die Ueberhebung, die sich unter den Lobrednern der realistischen Bildung schon hie und da kundgab, noch ganz ungefähr- lich. Mit gerechtem Stolze freute sich die Nation an den kühnen Ent- deckungen ihrer Naturforscher, und der greise Humboldt pries sich glück- lich diesen neuen Tag noch zu erleben. Er hatte sein Lebelang, anfangs fast allein, festgehalten an der Methode der gewissenhaften Induction; nun sah er befriedigt, daß die junge Generation schon gar nicht mehr anders athmen konnte als in der reinen Luft der bewußten Empirie. In dem Kosmos zog er jetzt die große Summe seines Lebens. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert, auf seiner Reise mit Georg Forster, hatte er sich zuerst die Frage vorgelegt, ob es wohl möglich sei, die gesammte Natur als ein geordnetes Ganzes zu begreifen und dar- zustellen. Als er dann Südamerika für die Wissenschaft entdeckte, den Theil der Erde, der unter allen dem Forscher die mannichfaltigsten Natur-
Humboldt’s Kosmos.
weil die Naturwiſſenſchaften Fachwiſſenſchaften ſtets ſind und bleiben, ihre Schriften niemals ſo vollſtändig zum Gemeingut aller Gebildeten werden können wie die Werke der Geiſteswiſſenſchaften.
Jetzt erhob Jakob Grimm ſeine warnende Stimme dawider in einer Ver- ſammlung der Germaniſten. Er erwies kurz und ſchlagend, daß die Geiſtes- wiſſenſchaften darum die Grundlage der allgemeinen Bildung bleiben müſſen, weil ſie allein das ganze Menſchenleben, auch die Welt der Phantaſie und des Herzens umfaſſen; er zeigte, daß ſie weltbürgerlich und national zugleich ſind, die Naturwiſſenſchaften weltbürgerlich ſchlechthin; und nur wo volksthümliche und allgemein menſchliche Bildung einander durch- dringen, entfaltet ſich der ganze Reichthum der Weltgeſchichte. Er er- kannte freudig an, was unſer geſammtes Volksleben, und inſonderheit ſeine geliebte Sprache, der exakten Forſchung verdankte. Die jungen Naturforſcher ſchrieben meiſtens vortrefflich; ihre klare, beſtimmte, einfache Proſa nahm den deutſchen Geiſt, der ſich ſo gern zu träumeriſchen Ahnungen verſteigt, in eine ſtrenge, heilſame Zucht; doch ſie beherrſchte nur einen kleinen Theil des unermeßlichen Sprachſchatzes. Der Stil des Naturforſchers, der immer von Geſetzen, Begriffen, Gattungen und Arten handelt, legt den Ton auf das ſtarre Hauptwort und kann, in ſeiner Art vollendet, ſchließlich doch nicht wetteifern mit dem reicheren Stile des Hiſtorikers, der ſich frei in der Welt des Werdens, der freien Thaten umſchaut und darum den Ton auf das erregende, Leben ſpendende Zeit- wort legt. Es blieb auch fernerhin bei dem alten Geſetze, daß die Cultur- ſprachen fortgebildet werden zuvörderſt durch den Volksmund und die Dichtung, ſodann durch Redner, Hiſtoriker, Philoſophen; die neuen von den exakten Wiſſenſchaften geſchaffenen Kunſtausdrücke waren in ihrer Mehrzahl international und zeigten ſchon durch ihre willkürliche Form, daß ſie nicht der Naturgewalt des Sprachgeiſtes, ſondern verſtändiger Berechnung entſprangen.
Vorderhand blieb die Ueberhebung, die ſich unter den Lobrednern der realiſtiſchen Bildung ſchon hie und da kundgab, noch ganz ungefähr- lich. Mit gerechtem Stolze freute ſich die Nation an den kühnen Ent- deckungen ihrer Naturforſcher, und der greiſe Humboldt pries ſich glück- lich dieſen neuen Tag noch zu erleben. Er hatte ſein Lebelang, anfangs faſt allein, feſtgehalten an der Methode der gewiſſenhaften Induction; nun ſah er befriedigt, daß die junge Generation ſchon gar nicht mehr anders athmen konnte als in der reinen Luft der bewußten Empirie. In dem Kosmos zog er jetzt die große Summe ſeines Lebens. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert, auf ſeiner Reiſe mit Georg Forſter, hatte er ſich zuerſt die Frage vorgelegt, ob es wohl möglich ſei, die geſammte Natur als ein geordnetes Ganzes zu begreifen und dar- zuſtellen. Als er dann Südamerika für die Wiſſenſchaft entdeckte, den Theil der Erde, der unter allen dem Forſcher die mannichfaltigſten Natur-
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Humboldt’s Kosmos.
weil die Naturwiſſenſchaften Fachwiſſenſchaften ſtets ſind und bleiben, ihre
Schriften niemals ſo vollſtändig zum Gemeingut aller Gebildeten werden
können wie die Werke der Geiſteswiſſenſchaften.
Jetzt erhob Jakob Grimm ſeine warnende Stimme dawider in einer Ver-
ſammlung der Germaniſten. Er erwies kurz und ſchlagend, daß die Geiſtes-
wiſſenſchaften darum die Grundlage der allgemeinen Bildung bleiben müſſen,
weil ſie allein das ganze Menſchenleben, auch die Welt der Phantaſie
und des Herzens umfaſſen; er zeigte, daß ſie weltbürgerlich und national
zugleich ſind, die Naturwiſſenſchaften weltbürgerlich ſchlechthin; und nur
wo volksthümliche und allgemein menſchliche Bildung einander durch-
dringen, entfaltet ſich der ganze Reichthum der Weltgeſchichte. Er er-
kannte freudig an, was unſer geſammtes Volksleben, und inſonderheit
ſeine geliebte Sprache, der exakten Forſchung verdankte. Die jungen
Naturforſcher ſchrieben meiſtens vortrefflich; ihre klare, beſtimmte, einfache
Proſa nahm den deutſchen Geiſt, der ſich ſo gern zu träumeriſchen
Ahnungen verſteigt, in eine ſtrenge, heilſame Zucht; doch ſie beherrſchte
nur einen kleinen Theil des unermeßlichen Sprachſchatzes. Der Stil des
Naturforſchers, der immer von Geſetzen, Begriffen, Gattungen und Arten
handelt, legt den Ton auf das ſtarre Hauptwort und kann, in ſeiner Art
vollendet, ſchließlich doch nicht wetteifern mit dem reicheren Stile des
Hiſtorikers, der ſich frei in der Welt des Werdens, der freien Thaten
umſchaut und darum den Ton auf das erregende, Leben ſpendende Zeit-
wort legt. Es blieb auch fernerhin bei dem alten Geſetze, daß die Cultur-
ſprachen fortgebildet werden zuvörderſt durch den Volksmund und die
Dichtung, ſodann durch Redner, Hiſtoriker, Philoſophen; die neuen von
den exakten Wiſſenſchaften geſchaffenen Kunſtausdrücke waren in ihrer
Mehrzahl international und zeigten ſchon durch ihre willkürliche Form,
daß ſie nicht der Naturgewalt des Sprachgeiſtes, ſondern verſtändiger
Berechnung entſprangen.
Vorderhand blieb die Ueberhebung, die ſich unter den Lobrednern
der realiſtiſchen Bildung ſchon hie und da kundgab, noch ganz ungefähr-
lich. Mit gerechtem Stolze freute ſich die Nation an den kühnen Ent-
deckungen ihrer Naturforſcher, und der greiſe Humboldt pries ſich glück-
lich dieſen neuen Tag noch zu erleben. Er hatte ſein Lebelang, anfangs
faſt allein, feſtgehalten an der Methode der gewiſſenhaften Induction;
nun ſah er befriedigt, daß die junge Generation ſchon gar nicht mehr
anders athmen konnte als in der reinen Luft der bewußten Empirie.
In dem Kosmos zog er jetzt die große Summe ſeines Lebens. Schon
vor mehr als einem halben Jahrhundert, auf ſeiner Reiſe mit Georg
Forſter, hatte er ſich zuerſt die Frage vorgelegt, ob es wohl möglich ſei,
die geſammte Natur als ein geordnetes Ganzes zu begreifen und dar-
zuſtellen. Als er dann Südamerika für die Wiſſenſchaft entdeckte, den
Theil der Erde, der unter allen dem Forſcher die mannichfaltigſten Natur-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/441>, abgerufen am 22.11.2024.
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