Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
in den Revolutionsjahren die Majestät des Staatsgedankens sich Jedem
wieder unwiderstehlich aufdrängte. Man redete leichthin von der Be-
herrschung der Natur durch den Menschen, während doch der schwache
Sterbliche sich begnügen muß einzelne Kräfte der Natur, indem er sich
ihren erkannten Gesetzen fügt, für seine Zwecke zu benutzen. Man rühmte
sich den Raum besiegt zu haben, obgleich dieser Sieg noch recht be-
scheiden blieb: die Schnelligkeit des Rosses hatte der Mensch endlich
übertroffen, allein jeder Hecht und jede Schwalbe beschämte ihn noch.
Man sprach von den Fortschritten der Technik und der Erleichterung des
Verkehrs, als ob sie selber die Cultur ausmachten, während sie doch nur
die Mittel darbieten zur Förderung der Cultur; denn die unbestechliche
Nachwelt wird dereinst nicht fragen, wie schnell wir uns Briefe senden
konnten, sie wird fragen, ob wir uns große menschliche Gedanken mitzu-
theilen wußten; sie wird auch nicht aufhören, neben dem Maßstabe der
Nützlichkeit auch den Maßstab des Schönen und des Guten an die viel-
gestaltige Geschichte anzulegen und darum gewiß nicht das thörichte Urtheil
fällen, daß eine hell leuchtende, aber geschmacklose moderne Gaskrone ein
edleres Menschenwerk sei als eine schlecht brennende aber schöne pompe-
janische Lampe.

Die Naturwissenschaft errang in der Forschung so große Erfolge
und griff so mächtig in das praktische Leben ein, daß sie jetzt schon
mit gutem Fug vom Staate eine gleichberechtigte Stellung neben den
Geisteswissenschaften verlangen konnte; noch war ja Alles erst im Wer-
den, ein öffentliches physikalisches Laboratorium bestand noch nirgends,
nur in Berlin hatte Magnus aus eigenen Mitteln schon eine solche An-
stalt errichtet, die er den jungen Leuten hochherzig zur Benutzung ein-
räumte. Doch in dem emsigen Getriebe der neuen Volkswirthschaft wuchs
auch rasch ein Geschlecht von Nützlichkeitsfanatikern und Allerwelts-Fort-
schrittsmännern empor, ein dem stillen alten Deutschland ganz unbekannter
Menschenschlag, den die Münchener Künstler in ihren Maskenzügen und
Witzblättern unter dem Bilde des Mister Vorwärts verspotteten. Diese
Leute kannten England oder Amerika, sie betheiligten sich an allen den
neuen, oft noch sehr schwindelhaften Eisenbahngesellschaften und Fabrik-
unternehmungen, sie schätzten nur was sich zählen, messen und wägen
ließ. In diesen Kreisen zuerst ward der Ruf erhoben, den die unwissen-
den Zeitungsschreiber gefällig wiederholten: die naturwissenschaftliche Bil-
dung müsse zur allgemeinen Bildung werden und die sprachlich-historische
Bildung, von der sich seit Jahrtausenden alle Culturvölker ohne Aus-
nahme genährt hatten, kurzerhand entthronen. Aehnliche Forderungen
waren schon mehrmals in der Geschichte ausgesprochen worden: immer
in Zeiten da Staat und Sitte verfielen, im Alterthum vornehmlich von
den Epikuräern, den Vertretern der politischen und sittlichen Ruheseligkeit,
dann wieder im siebzehnten Jahrhundert; immer mit geringem Erfolge,

V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
in den Revolutionsjahren die Majeſtät des Staatsgedankens ſich Jedem
wieder unwiderſtehlich aufdrängte. Man redete leichthin von der Be-
herrſchung der Natur durch den Menſchen, während doch der ſchwache
Sterbliche ſich begnügen muß einzelne Kräfte der Natur, indem er ſich
ihren erkannten Geſetzen fügt, für ſeine Zwecke zu benutzen. Man rühmte
ſich den Raum beſiegt zu haben, obgleich dieſer Sieg noch recht be-
ſcheiden blieb: die Schnelligkeit des Roſſes hatte der Menſch endlich
übertroffen, allein jeder Hecht und jede Schwalbe beſchämte ihn noch.
Man ſprach von den Fortſchritten der Technik und der Erleichterung des
Verkehrs, als ob ſie ſelber die Cultur ausmachten, während ſie doch nur
die Mittel darbieten zur Förderung der Cultur; denn die unbeſtechliche
Nachwelt wird dereinſt nicht fragen, wie ſchnell wir uns Briefe ſenden
konnten, ſie wird fragen, ob wir uns große menſchliche Gedanken mitzu-
theilen wußten; ſie wird auch nicht aufhören, neben dem Maßſtabe der
Nützlichkeit auch den Maßſtab des Schönen und des Guten an die viel-
geſtaltige Geſchichte anzulegen und darum gewiß nicht das thörichte Urtheil
fällen, daß eine hell leuchtende, aber geſchmackloſe moderne Gaskrone ein
edleres Menſchenwerk ſei als eine ſchlecht brennende aber ſchöne pompe-
janiſche Lampe.

Die Naturwiſſenſchaft errang in der Forſchung ſo große Erfolge
und griff ſo mächtig in das praktiſche Leben ein, daß ſie jetzt ſchon
mit gutem Fug vom Staate eine gleichberechtigte Stellung neben den
Geiſteswiſſenſchaften verlangen konnte; noch war ja Alles erſt im Wer-
den, ein öffentliches phyſikaliſches Laboratorium beſtand noch nirgends,
nur in Berlin hatte Magnus aus eigenen Mitteln ſchon eine ſolche An-
ſtalt errichtet, die er den jungen Leuten hochherzig zur Benutzung ein-
räumte. Doch in dem emſigen Getriebe der neuen Volkswirthſchaft wuchs
auch raſch ein Geſchlecht von Nützlichkeitsfanatikern und Allerwelts-Fort-
ſchrittsmännern empor, ein dem ſtillen alten Deutſchland ganz unbekannter
Menſchenſchlag, den die Münchener Künſtler in ihren Maskenzügen und
Witzblättern unter dem Bilde des Miſter Vorwärts verſpotteten. Dieſe
Leute kannten England oder Amerika, ſie betheiligten ſich an allen den
neuen, oft noch ſehr ſchwindelhaften Eiſenbahngeſellſchaften und Fabrik-
unternehmungen, ſie ſchätzten nur was ſich zählen, meſſen und wägen
ließ. In dieſen Kreiſen zuerſt ward der Ruf erhoben, den die unwiſſen-
den Zeitungsſchreiber gefällig wiederholten: die naturwiſſenſchaftliche Bil-
dung müſſe zur allgemeinen Bildung werden und die ſprachlich-hiſtoriſche
Bildung, von der ſich ſeit Jahrtauſenden alle Culturvölker ohne Aus-
nahme genährt hatten, kurzerhand entthronen. Aehnliche Forderungen
waren ſchon mehrmals in der Geſchichte ausgeſprochen worden: immer
in Zeiten da Staat und Sitte verfielen, im Alterthum vornehmlich von
den Epikuräern, den Vertretern der politiſchen und ſittlichen Ruheſeligkeit,
dann wieder im ſiebzehnten Jahrhundert; immer mit geringem Erfolge,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0440" n="426"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 5. Realismus in Kun&#x017F;t und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft.</fw><lb/>
in den Revolutionsjahren die Maje&#x017F;tät des Staatsgedankens &#x017F;ich Jedem<lb/>
wieder unwider&#x017F;tehlich aufdrängte. Man redete leichthin von der Be-<lb/>
herr&#x017F;chung der Natur durch den Men&#x017F;chen, während doch der &#x017F;chwache<lb/>
Sterbliche &#x017F;ich begnügen muß einzelne Kräfte der Natur, indem er &#x017F;ich<lb/>
ihren erkannten Ge&#x017F;etzen fügt, für &#x017F;eine Zwecke zu benutzen. Man rühmte<lb/>
&#x017F;ich den Raum be&#x017F;iegt zu haben, obgleich die&#x017F;er Sieg noch recht be-<lb/>
&#x017F;cheiden blieb: die Schnelligkeit des Ro&#x017F;&#x017F;es hatte der Men&#x017F;ch endlich<lb/>
übertroffen, allein jeder Hecht und jede Schwalbe be&#x017F;chämte ihn noch.<lb/>
Man &#x017F;prach von den Fort&#x017F;chritten der Technik und der Erleichterung des<lb/>
Verkehrs, als ob &#x017F;ie &#x017F;elber die Cultur ausmachten, während &#x017F;ie doch nur<lb/>
die Mittel darbieten zur Förderung der Cultur; denn die unbe&#x017F;techliche<lb/>
Nachwelt wird derein&#x017F;t nicht fragen, wie &#x017F;chnell wir uns Briefe &#x017F;enden<lb/>
konnten, &#x017F;ie wird fragen, ob wir uns große men&#x017F;chliche Gedanken mitzu-<lb/>
theilen wußten; &#x017F;ie wird auch nicht aufhören, neben dem Maß&#x017F;tabe der<lb/>
Nützlichkeit auch den Maß&#x017F;tab des Schönen und des Guten an die viel-<lb/>
ge&#x017F;taltige Ge&#x017F;chichte anzulegen und darum gewiß nicht das thörichte Urtheil<lb/>
fällen, daß eine hell leuchtende, aber ge&#x017F;chmacklo&#x017F;e moderne Gaskrone ein<lb/>
edleres Men&#x017F;chenwerk &#x017F;ei als eine &#x017F;chlecht brennende aber &#x017F;chöne pompe-<lb/>
jani&#x017F;che Lampe.</p><lb/>
          <p>Die Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft errang in der For&#x017F;chung &#x017F;o große Erfolge<lb/>
und griff &#x017F;o mächtig in das prakti&#x017F;che Leben ein, daß &#x017F;ie jetzt &#x017F;chon<lb/>
mit gutem Fug vom Staate eine gleichberechtigte Stellung neben den<lb/>
Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften verlangen konnte; noch war ja Alles er&#x017F;t im Wer-<lb/>
den, ein öffentliches phy&#x017F;ikali&#x017F;ches Laboratorium be&#x017F;tand noch nirgends,<lb/>
nur in Berlin hatte Magnus aus eigenen Mitteln &#x017F;chon eine &#x017F;olche An-<lb/>
&#x017F;talt errichtet, die er den jungen Leuten hochherzig zur Benutzung ein-<lb/>
räumte. Doch in dem em&#x017F;igen Getriebe der neuen Volkswirth&#x017F;chaft wuchs<lb/>
auch ra&#x017F;ch ein Ge&#x017F;chlecht von Nützlichkeitsfanatikern und Allerwelts-Fort-<lb/>
&#x017F;chrittsmännern empor, ein dem &#x017F;tillen alten Deut&#x017F;chland ganz unbekannter<lb/>
Men&#x017F;chen&#x017F;chlag, den die Münchener Kün&#x017F;tler in ihren Maskenzügen und<lb/>
Witzblättern unter dem Bilde des Mi&#x017F;ter Vorwärts ver&#x017F;potteten. Die&#x017F;e<lb/>
Leute kannten England oder Amerika, &#x017F;ie betheiligten &#x017F;ich an allen den<lb/>
neuen, oft noch &#x017F;ehr &#x017F;chwindelhaften Ei&#x017F;enbahnge&#x017F;ell&#x017F;chaften und Fabrik-<lb/>
unternehmungen, &#x017F;ie &#x017F;chätzten nur was &#x017F;ich zählen, me&#x017F;&#x017F;en und wägen<lb/>
ließ. In die&#x017F;en Krei&#x017F;en zuer&#x017F;t ward der Ruf erhoben, den die unwi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
den Zeitungs&#x017F;chreiber gefällig wiederholten: die naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Bil-<lb/>
dung mü&#x017F;&#x017F;e zur allgemeinen Bildung werden und die &#x017F;prachlich-hi&#x017F;tori&#x017F;che<lb/>
Bildung, von der &#x017F;ich &#x017F;eit Jahrtau&#x017F;enden alle Culturvölker ohne Aus-<lb/>
nahme genährt hatten, kurzerhand entthronen. Aehnliche Forderungen<lb/>
waren &#x017F;chon mehrmals in der Ge&#x017F;chichte ausge&#x017F;prochen worden: immer<lb/>
in Zeiten da Staat und Sitte verfielen, im Alterthum vornehmlich von<lb/>
den Epikuräern, den Vertretern der politi&#x017F;chen und &#x017F;ittlichen Ruhe&#x017F;eligkeit,<lb/>
dann wieder im &#x017F;iebzehnten Jahrhundert; immer mit geringem Erfolge,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[426/0440] V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft. in den Revolutionsjahren die Majeſtät des Staatsgedankens ſich Jedem wieder unwiderſtehlich aufdrängte. Man redete leichthin von der Be- herrſchung der Natur durch den Menſchen, während doch der ſchwache Sterbliche ſich begnügen muß einzelne Kräfte der Natur, indem er ſich ihren erkannten Geſetzen fügt, für ſeine Zwecke zu benutzen. Man rühmte ſich den Raum beſiegt zu haben, obgleich dieſer Sieg noch recht be- ſcheiden blieb: die Schnelligkeit des Roſſes hatte der Menſch endlich übertroffen, allein jeder Hecht und jede Schwalbe beſchämte ihn noch. Man ſprach von den Fortſchritten der Technik und der Erleichterung des Verkehrs, als ob ſie ſelber die Cultur ausmachten, während ſie doch nur die Mittel darbieten zur Förderung der Cultur; denn die unbeſtechliche Nachwelt wird dereinſt nicht fragen, wie ſchnell wir uns Briefe ſenden konnten, ſie wird fragen, ob wir uns große menſchliche Gedanken mitzu- theilen wußten; ſie wird auch nicht aufhören, neben dem Maßſtabe der Nützlichkeit auch den Maßſtab des Schönen und des Guten an die viel- geſtaltige Geſchichte anzulegen und darum gewiß nicht das thörichte Urtheil fällen, daß eine hell leuchtende, aber geſchmackloſe moderne Gaskrone ein edleres Menſchenwerk ſei als eine ſchlecht brennende aber ſchöne pompe- janiſche Lampe. Die Naturwiſſenſchaft errang in der Forſchung ſo große Erfolge und griff ſo mächtig in das praktiſche Leben ein, daß ſie jetzt ſchon mit gutem Fug vom Staate eine gleichberechtigte Stellung neben den Geiſteswiſſenſchaften verlangen konnte; noch war ja Alles erſt im Wer- den, ein öffentliches phyſikaliſches Laboratorium beſtand noch nirgends, nur in Berlin hatte Magnus aus eigenen Mitteln ſchon eine ſolche An- ſtalt errichtet, die er den jungen Leuten hochherzig zur Benutzung ein- räumte. Doch in dem emſigen Getriebe der neuen Volkswirthſchaft wuchs auch raſch ein Geſchlecht von Nützlichkeitsfanatikern und Allerwelts-Fort- ſchrittsmännern empor, ein dem ſtillen alten Deutſchland ganz unbekannter Menſchenſchlag, den die Münchener Künſtler in ihren Maskenzügen und Witzblättern unter dem Bilde des Miſter Vorwärts verſpotteten. Dieſe Leute kannten England oder Amerika, ſie betheiligten ſich an allen den neuen, oft noch ſehr ſchwindelhaften Eiſenbahngeſellſchaften und Fabrik- unternehmungen, ſie ſchätzten nur was ſich zählen, meſſen und wägen ließ. In dieſen Kreiſen zuerſt ward der Ruf erhoben, den die unwiſſen- den Zeitungsſchreiber gefällig wiederholten: die naturwiſſenſchaftliche Bil- dung müſſe zur allgemeinen Bildung werden und die ſprachlich-hiſtoriſche Bildung, von der ſich ſeit Jahrtauſenden alle Culturvölker ohne Aus- nahme genährt hatten, kurzerhand entthronen. Aehnliche Forderungen waren ſchon mehrmals in der Geſchichte ausgeſprochen worden: immer in Zeiten da Staat und Sitte verfielen, im Alterthum vornehmlich von den Epikuräern, den Vertretern der politiſchen und ſittlichen Ruheſeligkeit, dann wieder im ſiebzehnten Jahrhundert; immer mit geringem Erfolge,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/440
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/440>, abgerufen am 25.11.2024.