Menschengeistes erkannte Goethe, der Pfleger und Verehrer der Natur- wissenschaften, unbefangen an, als er sagte: "das eigentliche Studium des Menschen ist der Mensch; und der Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten That, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert." Die Naturwissenschaft kann sich nur dann in ihrer ganzen Kraft zeigen, wenn ihr die Geisteswissen- schaften von langer Hand her vorgearbeitet haben, wie auch die Sprache schon zur vollen Verstandesreife gelangt sein muß um die Sätze der Naturerkenntniß bündig auszudrücken. Jetzt war ein solcher Zeitpunkt ein- getreten.
Die Philosophie begann zu sinken, aber die Kraft und Geschmeidigkeit des Denkens, die sie der Nation einst geschenkt hatte, blieb auch den Gegnern unverloren, und die neue Bahn der empirischen, voraussetzungslosen For- schung war durch die Historiker schon gewiesen. Der wachsende Reichthum und die nicht minder schnell wachsende wirthschaftliche Noth der Cultur- völker, die Fortschritte der Technik, die Bedürfnisse des regeren Verkehrs, die Verbindung mit den neuen Kolonialländern, die wie alle Kolonien der Vorzeit nur die materiellen Güter der alten Cultur gelten ließen, das Alles im Verein weckte und schärfte den Drang, die Naturkräfte zu erkennen und zu benutzen, und wie immer in Zeiten großer Wandlungen rief die schöpferische Kraft der Geschichte zur rechten Zeit die rechten Männer hervor. So geschah es, daß die Naturwissenschaften in einem raschen Anlaufe, dessen gleichen die Geschichte der menschlichen Erkenntniß kaum je ge- sehen hat, den weiten Vorsprung der Geisteswissenschaften plötzlich ein- holten. Die Nachbarvölker gingen bei dieser Umwandlung anfangs den Deutschen voran, denn unser Wohlstand und Verkehr erholte sich nur langsam von schweren Mißgeschicken, und die alte ästhetisch-philosophische Bildung, die auf deutschem Boden ihre größten Erfolge errungen hatte, sträubte sich noch lange gegen die neue Erfahrungswissenschaft.
Als nun endlich auch die Deutschen zum Wettkampfe vortraten und sogleich durch einige Meisterwerke den alten wissenschaftlichen Ruhm der Nation bewährten, da bemächtigte sich vieler Köpfe ein materialistischer Rausch; die Halbgebildeten und manche der Gebildeten überschätzten die große Umwälzung, wie denn jede neue Idee, damit sie durchdringt, zuerst überschätzt werden muß. Die Naturwissenschaften erfüllen unmittelbar, was Baco von aller Erkenntniß forderte, sie geben Macht, ihre Ergebnisse fallen in die Sinne, verwandeln die Sitten und Lebensgewohnheiten. Und gerade in diesen vierziger Jahren, da die Deutschen ihre neuen Eisen- bahnen noch wie Wunderwerke bestaunten, verbreitete sich in weiten Kreisen der Wahn, daß die Weltgeschichte ihren alten Inhalt verloren hätte, die historische Größe der Nationen sich nicht mehr in Politik und Krieg, sondern in Maschinen und Dungmitteln offenbare -- bis dann plötzlich
Die neue Naturwiſſenſchaft.
Menſchengeiſtes erkannte Goethe, der Pfleger und Verehrer der Natur- wiſſenſchaften, unbefangen an, als er ſagte: „das eigentliche Studium des Menſchen iſt der Menſch; und der Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten That, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leiſtet mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Geſtalt und dem Namen nach überliefert.“ Die Naturwiſſenſchaft kann ſich nur dann in ihrer ganzen Kraft zeigen, wenn ihr die Geiſteswiſſen- ſchaften von langer Hand her vorgearbeitet haben, wie auch die Sprache ſchon zur vollen Verſtandesreife gelangt ſein muß um die Sätze der Naturerkenntniß bündig auszudrücken. Jetzt war ein ſolcher Zeitpunkt ein- getreten.
Die Philoſophie begann zu ſinken, aber die Kraft und Geſchmeidigkeit des Denkens, die ſie der Nation einſt geſchenkt hatte, blieb auch den Gegnern unverloren, und die neue Bahn der empiriſchen, vorausſetzungsloſen For- ſchung war durch die Hiſtoriker ſchon gewieſen. Der wachſende Reichthum und die nicht minder ſchnell wachſende wirthſchaftliche Noth der Cultur- völker, die Fortſchritte der Technik, die Bedürfniſſe des regeren Verkehrs, die Verbindung mit den neuen Kolonialländern, die wie alle Kolonien der Vorzeit nur die materiellen Güter der alten Cultur gelten ließen, das Alles im Verein weckte und ſchärfte den Drang, die Naturkräfte zu erkennen und zu benutzen, und wie immer in Zeiten großer Wandlungen rief die ſchöpferiſche Kraft der Geſchichte zur rechten Zeit die rechten Männer hervor. So geſchah es, daß die Naturwiſſenſchaften in einem raſchen Anlaufe, deſſen gleichen die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß kaum je ge- ſehen hat, den weiten Vorſprung der Geiſteswiſſenſchaften plötzlich ein- holten. Die Nachbarvölker gingen bei dieſer Umwandlung anfangs den Deutſchen voran, denn unſer Wohlſtand und Verkehr erholte ſich nur langſam von ſchweren Mißgeſchicken, und die alte äſthetiſch-philoſophiſche Bildung, die auf deutſchem Boden ihre größten Erfolge errungen hatte, ſträubte ſich noch lange gegen die neue Erfahrungswiſſenſchaft.
Als nun endlich auch die Deutſchen zum Wettkampfe vortraten und ſogleich durch einige Meiſterwerke den alten wiſſenſchaftlichen Ruhm der Nation bewährten, da bemächtigte ſich vieler Köpfe ein materialiſtiſcher Rauſch; die Halbgebildeten und manche der Gebildeten überſchätzten die große Umwälzung, wie denn jede neue Idee, damit ſie durchdringt, zuerſt überſchätzt werden muß. Die Naturwiſſenſchaften erfüllen unmittelbar, was Baco von aller Erkenntniß forderte, ſie geben Macht, ihre Ergebniſſe fallen in die Sinne, verwandeln die Sitten und Lebensgewohnheiten. Und gerade in dieſen vierziger Jahren, da die Deutſchen ihre neuen Eiſen- bahnen noch wie Wunderwerke beſtaunten, verbreitete ſich in weiten Kreiſen der Wahn, daß die Weltgeſchichte ihren alten Inhalt verloren hätte, die hiſtoriſche Größe der Nationen ſich nicht mehr in Politik und Krieg, ſondern in Maſchinen und Dungmitteln offenbare — bis dann plötzlich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0439"n="425"/><fwplace="top"type="header">Die neue Naturwiſſenſchaft.</fw><lb/>
Menſchengeiſtes erkannte Goethe, der Pfleger und Verehrer der Natur-<lb/>
wiſſenſchaften, unbefangen an, als er ſagte: „das eigentliche Studium<lb/>
des Menſchen iſt der Menſch; und der Lehrer, der das Gefühl an einer<lb/>
einzigen guten That, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leiſtet<lb/>
mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der<lb/>
Geſtalt und dem Namen nach überliefert.“ Die Naturwiſſenſchaft kann<lb/>ſich nur dann in ihrer ganzen Kraft zeigen, wenn ihr die Geiſteswiſſen-<lb/>ſchaften von langer Hand her vorgearbeitet haben, wie auch die Sprache<lb/>ſchon zur vollen Verſtandesreife gelangt ſein muß um die Sätze der<lb/>
Naturerkenntniß bündig auszudrücken. Jetzt war ein ſolcher Zeitpunkt ein-<lb/>
getreten.</p><lb/><p>Die Philoſophie begann zu ſinken, aber die Kraft und Geſchmeidigkeit<lb/>
des Denkens, die ſie der Nation einſt geſchenkt hatte, blieb auch den Gegnern<lb/>
unverloren, und die neue Bahn der empiriſchen, vorausſetzungsloſen For-<lb/>ſchung war durch die Hiſtoriker ſchon gewieſen. Der wachſende Reichthum<lb/>
und die nicht minder ſchnell wachſende wirthſchaftliche Noth der Cultur-<lb/>
völker, die Fortſchritte der Technik, die Bedürfniſſe des regeren Verkehrs,<lb/>
die Verbindung mit den neuen Kolonialländern, die wie alle Kolonien der<lb/>
Vorzeit nur die materiellen Güter der alten Cultur gelten ließen, das Alles<lb/>
im Verein weckte und ſchärfte den Drang, die Naturkräfte zu erkennen<lb/>
und zu benutzen, und wie immer in Zeiten großer Wandlungen rief die<lb/>ſchöpferiſche Kraft der Geſchichte zur rechten Zeit die rechten Männer hervor.<lb/>
So geſchah es, daß die Naturwiſſenſchaften in einem raſchen Anlaufe,<lb/>
deſſen gleichen die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß kaum je ge-<lb/>ſehen hat, den weiten Vorſprung der Geiſteswiſſenſchaften plötzlich ein-<lb/>
holten. Die Nachbarvölker gingen bei dieſer Umwandlung anfangs den<lb/>
Deutſchen voran, denn unſer Wohlſtand und Verkehr erholte ſich nur<lb/>
langſam von ſchweren Mißgeſchicken, und die alte äſthetiſch-philoſophiſche<lb/>
Bildung, die auf deutſchem Boden ihre größten Erfolge errungen hatte,<lb/>ſträubte ſich noch lange gegen die neue Erfahrungswiſſenſchaft.</p><lb/><p>Als nun endlich auch die Deutſchen zum Wettkampfe vortraten und<lb/>ſogleich durch einige Meiſterwerke den alten wiſſenſchaftlichen Ruhm der<lb/>
Nation bewährten, da bemächtigte ſich vieler Köpfe ein materialiſtiſcher<lb/>
Rauſch; die Halbgebildeten und manche der Gebildeten überſchätzten die<lb/>
große Umwälzung, wie denn jede neue Idee, damit ſie durchdringt, zuerſt<lb/>
überſchätzt werden muß. Die Naturwiſſenſchaften erfüllen unmittelbar,<lb/>
was Baco von aller Erkenntniß forderte, ſie geben Macht, ihre Ergebniſſe<lb/>
fallen in die Sinne, verwandeln die Sitten und Lebensgewohnheiten. Und<lb/>
gerade in dieſen vierziger Jahren, da die Deutſchen ihre neuen Eiſen-<lb/>
bahnen noch wie Wunderwerke beſtaunten, verbreitete ſich in weiten Kreiſen<lb/>
der Wahn, daß die Weltgeſchichte ihren alten Inhalt verloren hätte,<lb/>
die hiſtoriſche Größe der Nationen ſich nicht mehr in Politik und Krieg,<lb/>ſondern in Maſchinen und Dungmitteln offenbare — bis dann plötzlich<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[425/0439]
Die neue Naturwiſſenſchaft.
Menſchengeiſtes erkannte Goethe, der Pfleger und Verehrer der Natur-
wiſſenſchaften, unbefangen an, als er ſagte: „das eigentliche Studium
des Menſchen iſt der Menſch; und der Lehrer, der das Gefühl an einer
einzigen guten That, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leiſtet
mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der
Geſtalt und dem Namen nach überliefert.“ Die Naturwiſſenſchaft kann
ſich nur dann in ihrer ganzen Kraft zeigen, wenn ihr die Geiſteswiſſen-
ſchaften von langer Hand her vorgearbeitet haben, wie auch die Sprache
ſchon zur vollen Verſtandesreife gelangt ſein muß um die Sätze der
Naturerkenntniß bündig auszudrücken. Jetzt war ein ſolcher Zeitpunkt ein-
getreten.
Die Philoſophie begann zu ſinken, aber die Kraft und Geſchmeidigkeit
des Denkens, die ſie der Nation einſt geſchenkt hatte, blieb auch den Gegnern
unverloren, und die neue Bahn der empiriſchen, vorausſetzungsloſen For-
ſchung war durch die Hiſtoriker ſchon gewieſen. Der wachſende Reichthum
und die nicht minder ſchnell wachſende wirthſchaftliche Noth der Cultur-
völker, die Fortſchritte der Technik, die Bedürfniſſe des regeren Verkehrs,
die Verbindung mit den neuen Kolonialländern, die wie alle Kolonien der
Vorzeit nur die materiellen Güter der alten Cultur gelten ließen, das Alles
im Verein weckte und ſchärfte den Drang, die Naturkräfte zu erkennen
und zu benutzen, und wie immer in Zeiten großer Wandlungen rief die
ſchöpferiſche Kraft der Geſchichte zur rechten Zeit die rechten Männer hervor.
So geſchah es, daß die Naturwiſſenſchaften in einem raſchen Anlaufe,
deſſen gleichen die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß kaum je ge-
ſehen hat, den weiten Vorſprung der Geiſteswiſſenſchaften plötzlich ein-
holten. Die Nachbarvölker gingen bei dieſer Umwandlung anfangs den
Deutſchen voran, denn unſer Wohlſtand und Verkehr erholte ſich nur
langſam von ſchweren Mißgeſchicken, und die alte äſthetiſch-philoſophiſche
Bildung, die auf deutſchem Boden ihre größten Erfolge errungen hatte,
ſträubte ſich noch lange gegen die neue Erfahrungswiſſenſchaft.
Als nun endlich auch die Deutſchen zum Wettkampfe vortraten und
ſogleich durch einige Meiſterwerke den alten wiſſenſchaftlichen Ruhm der
Nation bewährten, da bemächtigte ſich vieler Köpfe ein materialiſtiſcher
Rauſch; die Halbgebildeten und manche der Gebildeten überſchätzten die
große Umwälzung, wie denn jede neue Idee, damit ſie durchdringt, zuerſt
überſchätzt werden muß. Die Naturwiſſenſchaften erfüllen unmittelbar,
was Baco von aller Erkenntniß forderte, ſie geben Macht, ihre Ergebniſſe
fallen in die Sinne, verwandeln die Sitten und Lebensgewohnheiten. Und
gerade in dieſen vierziger Jahren, da die Deutſchen ihre neuen Eiſen-
bahnen noch wie Wunderwerke beſtaunten, verbreitete ſich in weiten Kreiſen
der Wahn, daß die Weltgeſchichte ihren alten Inhalt verloren hätte,
die hiſtoriſche Größe der Nationen ſich nicht mehr in Politik und Krieg,
ſondern in Maſchinen und Dungmitteln offenbare — bis dann plötzlich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/439>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.