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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Lachmann's Schule.
mit realistischen Notizen überlasteten Gymnasien schon nicht mehr ver-
mochten den classischen Unterricht ganz auf seiner alten Höhe zu halten.
Gleichwohl hat Lachmann der Gestrenge auch als Vermittler gewirkt. Er
erreichte, daß der alte Gegensatz der Sach-Philologen und der Gramma-
tiker sich auszugleichen begann; seine genaue Textkritik ruhte stets auf
einem breiten Unterbau gründlicher historischer Untersuchungen, und un-
willkürlich traten seine Schüler den philologischen Historikern näher als
vordem die Schüler Gottfried Hermann's.

Kaum siebzig Jahre waren vergangen, seit F. A. Wolf einst in
Göttingen zuerst gewagt hatte sich einen Studenten der Philologie zu
nennen, und zu welch' einem mächtigen, vielastigen Baume hatte sich der
junge Setzling der Theologie seitdem ausgewachsen. Im Zeitalter der Re-
naissance suchte man die moderne Welt unmittelbar durch die antike neu
zu beleben. Palladio baute sein Olympisches Theater genau nach den
Vorschriften des Vitruv, Machiavelli's Bücher von der Kriegskunst hielten
den Florentinern die römischen Cohorten als Musterbilder vor. Die deutsche
Philologie hingegen strebte seit Niebuhr, das Alterthum dem neuen Ge-
schlechte lebendig zu vergegenwärtigen, sie suchte die antike Welt durch die
moderne zu beleben und zu beleuchten, das Ferne und Fremde dem histo-
rischen Verständniß der Gegenwart zu erschließen, indem sie die politischen,
die wirthschaftlichen, die literarischen Verhältnisse der neuen Zeit zur
Erklärung heranzog. Zu den beiden alten Heimstätten der Sprachwissen-
schaft Berlin und Leipzig trat jetzt Bonn als dritte hinzu; in der rheini-
schen Hochschule lebte der einst durch Niebuhr geweckte philologische Geist
kräftig wieder auf, seit dort neben dem geistvollen Aesthetiker Welcker der
Thüringer Friedrich Ritschl seine reiche Lehrthätigkeit begann, ein strenger
Kritiker und Hermeneutiker, der beste Kenner altlateinischer Dichtung. --



Neben dem andauernden Glanze der historischen Wissenschaften ver-
blich nach und nach das Gestirn der Speculation. Die antike Philosophie
stand hoch über dem Volksglauben, die christliche steht unter ihm; sie bildet
Denker, nicht Weise, sie gelangt nicht hinaus über die erhabene Sittlich-
keit der Evangelien. Darum verfiel sie fast immer, nach einer Zeit der
Blüthe, in einen trügerischen Hochmuth, dem dann unausbleiblich ein
Rückschlag folgen mußte. Uebermüthiger als in Deutschland hatte sie sich
noch nirgends gezeigt; dahin war es mit ihr gekommen, daß sie auf dem
eingeschlagenen Wege nichts mehr beweisen, sondern nur noch sich selber
aufheben konnte. Derweil die letzten Hegelianer noch mit der alten Zu-
versicht, aber von der Nation kaum beachtet, die Formeln des Systems
wiederholten, stellte Feuerbach schon die Sätze auf: keine Philosophie, meine
Philosophie; keine sinnliche Existenz ist keine Existenz -- bis er endlich

Lachmann’s Schule.
mit realiſtiſchen Notizen überlaſteten Gymnaſien ſchon nicht mehr ver-
mochten den claſſiſchen Unterricht ganz auf ſeiner alten Höhe zu halten.
Gleichwohl hat Lachmann der Geſtrenge auch als Vermittler gewirkt. Er
erreichte, daß der alte Gegenſatz der Sach-Philologen und der Gramma-
tiker ſich auszugleichen begann; ſeine genaue Textkritik ruhte ſtets auf
einem breiten Unterbau gründlicher hiſtoriſcher Unterſuchungen, und un-
willkürlich traten ſeine Schüler den philologiſchen Hiſtorikern näher als
vordem die Schüler Gottfried Hermann’s.

Kaum ſiebzig Jahre waren vergangen, ſeit F. A. Wolf einſt in
Göttingen zuerſt gewagt hatte ſich einen Studenten der Philologie zu
nennen, und zu welch’ einem mächtigen, vielaſtigen Baume hatte ſich der
junge Setzling der Theologie ſeitdem ausgewachſen. Im Zeitalter der Re-
naiſſance ſuchte man die moderne Welt unmittelbar durch die antike neu
zu beleben. Palladio baute ſein Olympiſches Theater genau nach den
Vorſchriften des Vitruv, Machiavelli’s Bücher von der Kriegskunſt hielten
den Florentinern die römiſchen Cohorten als Muſterbilder vor. Die deutſche
Philologie hingegen ſtrebte ſeit Niebuhr, das Alterthum dem neuen Ge-
ſchlechte lebendig zu vergegenwärtigen, ſie ſuchte die antike Welt durch die
moderne zu beleben und zu beleuchten, das Ferne und Fremde dem hiſto-
riſchen Verſtändniß der Gegenwart zu erſchließen, indem ſie die politiſchen,
die wirthſchaftlichen, die literariſchen Verhältniſſe der neuen Zeit zur
Erklärung heranzog. Zu den beiden alten Heimſtätten der Sprachwiſſen-
ſchaft Berlin und Leipzig trat jetzt Bonn als dritte hinzu; in der rheini-
ſchen Hochſchule lebte der einſt durch Niebuhr geweckte philologiſche Geiſt
kräftig wieder auf, ſeit dort neben dem geiſtvollen Aeſthetiker Welcker der
Thüringer Friedrich Ritſchl ſeine reiche Lehrthätigkeit begann, ein ſtrenger
Kritiker und Hermeneutiker, der beſte Kenner altlateiniſcher Dichtung. —



Neben dem andauernden Glanze der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ver-
blich nach und nach das Geſtirn der Speculation. Die antike Philoſophie
ſtand hoch über dem Volksglauben, die chriſtliche ſteht unter ihm; ſie bildet
Denker, nicht Weiſe, ſie gelangt nicht hinaus über die erhabene Sittlich-
keit der Evangelien. Darum verfiel ſie faſt immer, nach einer Zeit der
Blüthe, in einen trügeriſchen Hochmuth, dem dann unausbleiblich ein
Rückſchlag folgen mußte. Uebermüthiger als in Deutſchland hatte ſie ſich
noch nirgends gezeigt; dahin war es mit ihr gekommen, daß ſie auf dem
eingeſchlagenen Wege nichts mehr beweiſen, ſondern nur noch ſich ſelber
aufheben konnte. Derweil die letzten Hegelianer noch mit der alten Zu-
verſicht, aber von der Nation kaum beachtet, die Formeln des Syſtems
wiederholten, ſtellte Feuerbach ſchon die Sätze auf: keine Philoſophie, meine
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[423/0437] Lachmann’s Schule. mit realiſtiſchen Notizen überlaſteten Gymnaſien ſchon nicht mehr ver- mochten den claſſiſchen Unterricht ganz auf ſeiner alten Höhe zu halten. Gleichwohl hat Lachmann der Geſtrenge auch als Vermittler gewirkt. Er erreichte, daß der alte Gegenſatz der Sach-Philologen und der Gramma- tiker ſich auszugleichen begann; ſeine genaue Textkritik ruhte ſtets auf einem breiten Unterbau gründlicher hiſtoriſcher Unterſuchungen, und un- willkürlich traten ſeine Schüler den philologiſchen Hiſtorikern näher als vordem die Schüler Gottfried Hermann’s. Kaum ſiebzig Jahre waren vergangen, ſeit F. A. Wolf einſt in Göttingen zuerſt gewagt hatte ſich einen Studenten der Philologie zu nennen, und zu welch’ einem mächtigen, vielaſtigen Baume hatte ſich der junge Setzling der Theologie ſeitdem ausgewachſen. Im Zeitalter der Re- naiſſance ſuchte man die moderne Welt unmittelbar durch die antike neu zu beleben. Palladio baute ſein Olympiſches Theater genau nach den Vorſchriften des Vitruv, Machiavelli’s Bücher von der Kriegskunſt hielten den Florentinern die römiſchen Cohorten als Muſterbilder vor. Die deutſche Philologie hingegen ſtrebte ſeit Niebuhr, das Alterthum dem neuen Ge- ſchlechte lebendig zu vergegenwärtigen, ſie ſuchte die antike Welt durch die moderne zu beleben und zu beleuchten, das Ferne und Fremde dem hiſto- riſchen Verſtändniß der Gegenwart zu erſchließen, indem ſie die politiſchen, die wirthſchaftlichen, die literariſchen Verhältniſſe der neuen Zeit zur Erklärung heranzog. Zu den beiden alten Heimſtätten der Sprachwiſſen- ſchaft Berlin und Leipzig trat jetzt Bonn als dritte hinzu; in der rheini- ſchen Hochſchule lebte der einſt durch Niebuhr geweckte philologiſche Geiſt kräftig wieder auf, ſeit dort neben dem geiſtvollen Aeſthetiker Welcker der Thüringer Friedrich Ritſchl ſeine reiche Lehrthätigkeit begann, ein ſtrenger Kritiker und Hermeneutiker, der beſte Kenner altlateiniſcher Dichtung. — Neben dem andauernden Glanze der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ver- blich nach und nach das Geſtirn der Speculation. Die antike Philoſophie ſtand hoch über dem Volksglauben, die chriſtliche ſteht unter ihm; ſie bildet Denker, nicht Weiſe, ſie gelangt nicht hinaus über die erhabene Sittlich- keit der Evangelien. Darum verfiel ſie faſt immer, nach einer Zeit der Blüthe, in einen trügeriſchen Hochmuth, dem dann unausbleiblich ein Rückſchlag folgen mußte. Uebermüthiger als in Deutſchland hatte ſie ſich noch nirgends gezeigt; dahin war es mit ihr gekommen, daß ſie auf dem eingeſchlagenen Wege nichts mehr beweiſen, ſondern nur noch ſich ſelber aufheben konnte. Derweil die letzten Hegelianer noch mit der alten Zu- verſicht, aber von der Nation kaum beachtet, die Formeln des Syſtems wiederholten, ſtellte Feuerbach ſchon die Sätze auf: keine Philoſophie, meine Philoſophie; keine ſinnliche Exiſtenz iſt keine Exiſtenz — bis er endlich

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/437>, abgerufen am 23.11.2024.