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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
täuscht aus dem "Land voll träumerischem Trug" heimgekehrt war, ver-
suchte er sich an größeren Werken.

In der lockeren, echt modernen Kunstform des lyrischen Epos, die in
England seit Scott und Byron heimisch, den Deutschen noch wenig ver-
traut war, konnte Lenau's allezeit schwärmerisch erregter und doch nach
Gestaltung drängender Geist sich am freiesten entfalten. Die harmonische
Schönheit der Goethischen Dichtung war ihm so unheimlich wie des Alt-
meisters heitere Lebensweisheit; er wollte der Menschheit durch richtende
und befreiende Worte das Bewußtsein ihrer Ewigkeit erwecken. Doch der
Drang der Erkenntniß gereichte dem Grübler zum Fluche; furchtbare
Zweifel zerrissen und zermarterten sein krankes Herz, sein Weltschmerz
war ehrlich und endete im Wahnsinn. So ward auch der Zweifel, wie
Lenau selbst gestand, der eigentliche Held seiner wirksamsten Dichtung,
der Albigenser. Manche Auftritte des gräßlichen Glaubenskrieges führte
er den Lesern mit erschütternder Gewalt vor die Seele; der Wechsel der
bewegten Versmaße, gefährlich für die Einheit des Ganzen, gab den ein-
zelnen Scenen lebendige Stimmung. Der schlichte evangelische Bibel-
glaube aber, in dem doch gerade die ahnungsvolle Größe, der geistige
Gehalt jenes ehrwürdigen mittelalterlichen Ketzerthums enthalten ist, blieb
dem katholischen Zweifler unverständlich; der Dichter strich von seinen
Albigensern alle frische historische Farbe ab und zeichnete sie als die
Vorkämpfer einer ziellosen Freigeisterei, einer modernen, schlechthin ver-
neinenden Gesinnung. Und ganz nach dem Herzen seiner aufgeregten Leser,
ein rechtes Zeichen der Zeit war denn auch die prächtige Schlußvision des
Gedichts, welche die gesammte Weltgeschichte wie einen unendlichen Kampf
der Freiheit wider dumpfen Zwang darstellte:

Den Albigensern folgen die Hussiten
Und zahlen blutig heim was jene litten.
Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennensteiter,
Die Stürmer der Bastille -- und so weiter!

Mit wohlbegreiflichem Aerger betrachtete Heinrich Heine diese Wand-
lungen unseres geistigen Lebens. Das hohe Pathos der lyrischen Dema-
gogen mußte dem ästhetischen Gefühle des geistreichen Schalks lächerlich
erscheinen, und unmöglich konnte er der Weltgeschichte verzeihen, daß sie
so ganz andere Wege ging als er geweissagt. Die Deutschen, die hundert-
mal beschimpften, wagten gegen "das aufrichtige und großmüthige, bis
zur Fanfaronade großmüthige Frankreich" ihren Willen zu behaupten und
durchzusetzen, sie erdreisteten sich sogar eine Nation zu werden -- was
ihnen Heine doch ein für allemal grinsend verboten hatte; und das
Aergste von Allem, das tödlich gehaßte Preußen stand jetzt im Vorder-
grunde der deutschen Politik. Noch immer jammerte Heine in seinen
Schriften kläglich über die schlaflosen Nächte des Exils, das er sich durch
eine deutsche Vaterlandsliebe verdient haben wollte. Dabei bezog er

V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
täuſcht aus dem „Land voll träumeriſchem Trug“ heimgekehrt war, ver-
ſuchte er ſich an größeren Werken.

In der lockeren, echt modernen Kunſtform des lyriſchen Epos, die in
England ſeit Scott und Byron heimiſch, den Deutſchen noch wenig ver-
traut war, konnte Lenau’s allezeit ſchwärmeriſch erregter und doch nach
Geſtaltung drängender Geiſt ſich am freieſten entfalten. Die harmoniſche
Schönheit der Goethiſchen Dichtung war ihm ſo unheimlich wie des Alt-
meiſters heitere Lebensweisheit; er wollte der Menſchheit durch richtende
und befreiende Worte das Bewußtſein ihrer Ewigkeit erwecken. Doch der
Drang der Erkenntniß gereichte dem Grübler zum Fluche; furchtbare
Zweifel zerriſſen und zermarterten ſein krankes Herz, ſein Weltſchmerz
war ehrlich und endete im Wahnſinn. So ward auch der Zweifel, wie
Lenau ſelbſt geſtand, der eigentliche Held ſeiner wirkſamſten Dichtung,
der Albigenſer. Manche Auftritte des gräßlichen Glaubenskrieges führte
er den Leſern mit erſchütternder Gewalt vor die Seele; der Wechſel der
bewegten Versmaße, gefährlich für die Einheit des Ganzen, gab den ein-
zelnen Scenen lebendige Stimmung. Der ſchlichte evangeliſche Bibel-
glaube aber, in dem doch gerade die ahnungsvolle Größe, der geiſtige
Gehalt jenes ehrwürdigen mittelalterlichen Ketzerthums enthalten iſt, blieb
dem katholiſchen Zweifler unverſtändlich; der Dichter ſtrich von ſeinen
Albigenſern alle friſche hiſtoriſche Farbe ab und zeichnete ſie als die
Vorkämpfer einer zielloſen Freigeiſterei, einer modernen, ſchlechthin ver-
neinenden Geſinnung. Und ganz nach dem Herzen ſeiner aufgeregten Leſer,
ein rechtes Zeichen der Zeit war denn auch die prächtige Schlußviſion des
Gedichts, welche die geſammte Weltgeſchichte wie einen unendlichen Kampf
der Freiheit wider dumpfen Zwang darſtellte:

Den Albigenſern folgen die Huſſiten
Und zahlen blutig heim was jene litten.
Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenſteiter,
Die Stürmer der Baſtille — und ſo weiter!

Mit wohlbegreiflichem Aerger betrachtete Heinrich Heine dieſe Wand-
lungen unſeres geiſtigen Lebens. Das hohe Pathos der lyriſchen Dema-
gogen mußte dem äſthetiſchen Gefühle des geiſtreichen Schalks lächerlich
erſcheinen, und unmöglich konnte er der Weltgeſchichte verzeihen, daß ſie
ſo ganz andere Wege ging als er geweiſſagt. Die Deutſchen, die hundert-
mal beſchimpften, wagten gegen „das aufrichtige und großmüthige, bis
zur Fanfaronade großmüthige Frankreich“ ihren Willen zu behaupten und
durchzuſetzen, ſie erdreiſteten ſich ſogar eine Nation zu werden — was
ihnen Heine doch ein für allemal grinſend verboten hatte; und das
Aergſte von Allem, das tödlich gehaßte Preußen ſtand jetzt im Vorder-
grunde der deutſchen Politik. Noch immer jammerte Heine in ſeinen
Schriften kläglich über die ſchlafloſen Nächte des Exils, das er ſich durch
eine deutſche Vaterlandsliebe verdient haben wollte. Dabei bezog er

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[378/0392] V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft. täuſcht aus dem „Land voll träumeriſchem Trug“ heimgekehrt war, ver- ſuchte er ſich an größeren Werken. In der lockeren, echt modernen Kunſtform des lyriſchen Epos, die in England ſeit Scott und Byron heimiſch, den Deutſchen noch wenig ver- traut war, konnte Lenau’s allezeit ſchwärmeriſch erregter und doch nach Geſtaltung drängender Geiſt ſich am freieſten entfalten. Die harmoniſche Schönheit der Goethiſchen Dichtung war ihm ſo unheimlich wie des Alt- meiſters heitere Lebensweisheit; er wollte der Menſchheit durch richtende und befreiende Worte das Bewußtſein ihrer Ewigkeit erwecken. Doch der Drang der Erkenntniß gereichte dem Grübler zum Fluche; furchtbare Zweifel zerriſſen und zermarterten ſein krankes Herz, ſein Weltſchmerz war ehrlich und endete im Wahnſinn. So ward auch der Zweifel, wie Lenau ſelbſt geſtand, der eigentliche Held ſeiner wirkſamſten Dichtung, der Albigenſer. Manche Auftritte des gräßlichen Glaubenskrieges führte er den Leſern mit erſchütternder Gewalt vor die Seele; der Wechſel der bewegten Versmaße, gefährlich für die Einheit des Ganzen, gab den ein- zelnen Scenen lebendige Stimmung. Der ſchlichte evangeliſche Bibel- glaube aber, in dem doch gerade die ahnungsvolle Größe, der geiſtige Gehalt jenes ehrwürdigen mittelalterlichen Ketzerthums enthalten iſt, blieb dem katholiſchen Zweifler unverſtändlich; der Dichter ſtrich von ſeinen Albigenſern alle friſche hiſtoriſche Farbe ab und zeichnete ſie als die Vorkämpfer einer zielloſen Freigeiſterei, einer modernen, ſchlechthin ver- neinenden Geſinnung. Und ganz nach dem Herzen ſeiner aufgeregten Leſer, ein rechtes Zeichen der Zeit war denn auch die prächtige Schlußviſion des Gedichts, welche die geſammte Weltgeſchichte wie einen unendlichen Kampf der Freiheit wider dumpfen Zwang darſtellte: Den Albigenſern folgen die Huſſiten Und zahlen blutig heim was jene litten. Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten, Die dreißig Jahre, die Cevennenſteiter, Die Stürmer der Baſtille — und ſo weiter! Mit wohlbegreiflichem Aerger betrachtete Heinrich Heine dieſe Wand- lungen unſeres geiſtigen Lebens. Das hohe Pathos der lyriſchen Dema- gogen mußte dem äſthetiſchen Gefühle des geiſtreichen Schalks lächerlich erſcheinen, und unmöglich konnte er der Weltgeſchichte verzeihen, daß ſie ſo ganz andere Wege ging als er geweiſſagt. Die Deutſchen, die hundert- mal beſchimpften, wagten gegen „das aufrichtige und großmüthige, bis zur Fanfaronade großmüthige Frankreich“ ihren Willen zu behaupten und durchzuſetzen, ſie erdreiſteten ſich ſogar eine Nation zu werden — was ihnen Heine doch ein für allemal grinſend verboten hatte; und das Aergſte von Allem, das tödlich gehaßte Preußen ſtand jetzt im Vorder- grunde der deutſchen Politik. Noch immer jammerte Heine in ſeinen Schriften kläglich über die ſchlafloſen Nächte des Exils, das er ſich durch eine deutſche Vaterlandsliebe verdient haben wollte. Dabei bezog er

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/392>, abgerufen am 29.03.2024.