heit, und nach Frauenart erwarmte sie noch mehr, seit ihr die Ideen des neuen Geschlechts in Fleisch und Blut menschlich nahe traten.
Nun da ihre Locken ergrauten und ihr Herz doch nicht altern wollte, wendete sie sich mit Vorliebe an die Jugend; den Studenten widmete sie mit dithyrambischer Weiherede ihr rührendes Erinnerungsbuch "die Günderode". Geistreiche junge Männer verkehrten täglich mit ihr und begleiteten sie auf ihren Mondscheinwanderungen durch den Thiergarten: so der liebenswür- dige idealistische Aesthetiker Moritz Carriere, so H. B. Oppenheim, ein radicaler Publicist, der, als Schriftsteller sehr langweilig, im Gespräche, wie so viele junge Juden, durch einen Zug genialischer Frechheit bestach. Und ganz jugendlich, ganz phantastisch war denn auch das Idealbild des demokratischen hochherzigen Fürsten, das sie in ihrem Königsbuche ihrem erlauchten Freunde vorhielt: im Staate allenthalben nur Milde, Nachsicht, Verständniß; das Richtbeil begraben; die Freiheit jedes Einzelnen durch die Freiheit Aller verbürgt, da ein großer Monarch sich nicht wie ein Schulmeister in jeden Stank mischen dürfe; und über allem Hasse der Bekenntnisse die eine "schwebende Religion" der Zukunft, bei deren fried- licher Schönheit jedes warme Menschenherz sich wohl fühlen sollte. Das Alles wurde von Goethe's Mutter, der Frau Rath in lebendigen Gesprächen verkündigt; dazwischen hinein hochpoetische Schilderungen, anmuthige Er- zählungen von Königin Luise und von Weimars großen Tagen; das Ganze ein so formloses Durcheinander hoher menschenfreundlicher Gedanken und barocker Einfälle, daß der König enttäuscht sagte, er wisse mit dem Buche nichts anzufangen. Greifbaren Inhalt zeigte die Schrift nur in ihren letzten Abschnitten, die von den socialen Aufgaben der Zeit handelten. Die edle Frau empfand das Elend des armen Volks ebenso tief wie die Dunkel- männer der inneren Mission, von denen sie doch nichts wissen wollte. Sie ließ sich's nicht verdrießen, mit ihren jungen Freunden die entsetzlichen Arbeiterkasernen des Berliner Vogtlandes zu besuchen, und erzählte nun, nichts verhüllend, was sie dort unter den arbeitslosen Webern erlebt hatte. Ergreifend klang ihre Mahnung: Wer ist des Königs Nächster? sein hun- gerndes Volk!
Derber, handfester ging Robert Prutz dem neuen Regimente zu Leibe in seiner Politischen Wochenstube, einer aristophanischen Komödie, die, den Literaturdramen Platen's nachgebildet, doch unwillkürlich darüber hinaus- strebte; denn die Literatur war jetzt so eng mit der Politik verflochten, mit einem Bilde des Bildes der Welt konnte ein heißblütiger junger Poet sich nicht mehr begnügen, er mußte versuchen ein Weltenbild zu geben. Unsagbar traurig erschien das Bild der preußischen Welt, das sich hier entrollte. Ausgelassen und übermüthig, nicht ohne die Ungerechtigkeit, die der komischen Muse erlaubt sein muß, aber mit entschiedenem satirischem Talente schilderte der Dichter in lustigen Zerrbildern und saftigen Späßen die vergeblichen Geburtswehen der Offenbarungsphilosophie, die glänzenden
Bettina’s Königsbuch. Prutz’s Wochenſtube.
heit, und nach Frauenart erwarmte ſie noch mehr, ſeit ihr die Ideen des neuen Geſchlechts in Fleiſch und Blut menſchlich nahe traten.
Nun da ihre Locken ergrauten und ihr Herz doch nicht altern wollte, wendete ſie ſich mit Vorliebe an die Jugend; den Studenten widmete ſie mit dithyrambiſcher Weiherede ihr rührendes Erinnerungsbuch „die Günderode“. Geiſtreiche junge Männer verkehrten täglich mit ihr und begleiteten ſie auf ihren Mondſcheinwanderungen durch den Thiergarten: ſo der liebenswür- dige idealiſtiſche Aeſthetiker Moritz Carriere, ſo H. B. Oppenheim, ein radicaler Publiciſt, der, als Schriftſteller ſehr langweilig, im Geſpräche, wie ſo viele junge Juden, durch einen Zug genialiſcher Frechheit beſtach. Und ganz jugendlich, ganz phantaſtiſch war denn auch das Idealbild des demokratiſchen hochherzigen Fürſten, das ſie in ihrem Königsbuche ihrem erlauchten Freunde vorhielt: im Staate allenthalben nur Milde, Nachſicht, Verſtändniß; das Richtbeil begraben; die Freiheit jedes Einzelnen durch die Freiheit Aller verbürgt, da ein großer Monarch ſich nicht wie ein Schulmeiſter in jeden Stank miſchen dürfe; und über allem Haſſe der Bekenntniſſe die eine „ſchwebende Religion“ der Zukunft, bei deren fried- licher Schönheit jedes warme Menſchenherz ſich wohl fühlen ſollte. Das Alles wurde von Goethe’s Mutter, der Frau Rath in lebendigen Geſprächen verkündigt; dazwiſchen hinein hochpoetiſche Schilderungen, anmuthige Er- zählungen von Königin Luiſe und von Weimars großen Tagen; das Ganze ein ſo formloſes Durcheinander hoher menſchenfreundlicher Gedanken und barocker Einfälle, daß der König enttäuſcht ſagte, er wiſſe mit dem Buche nichts anzufangen. Greifbaren Inhalt zeigte die Schrift nur in ihren letzten Abſchnitten, die von den ſocialen Aufgaben der Zeit handelten. Die edle Frau empfand das Elend des armen Volks ebenſo tief wie die Dunkel- männer der inneren Miſſion, von denen ſie doch nichts wiſſen wollte. Sie ließ ſich’s nicht verdrießen, mit ihren jungen Freunden die entſetzlichen Arbeiterkaſernen des Berliner Vogtlandes zu beſuchen, und erzählte nun, nichts verhüllend, was ſie dort unter den arbeitsloſen Webern erlebt hatte. Ergreifend klang ihre Mahnung: Wer iſt des Königs Nächſter? ſein hun- gerndes Volk!
Derber, handfeſter ging Robert Prutz dem neuen Regimente zu Leibe in ſeiner Politiſchen Wochenſtube, einer ariſtophaniſchen Komödie, die, den Literaturdramen Platen’s nachgebildet, doch unwillkürlich darüber hinaus- ſtrebte; denn die Literatur war jetzt ſo eng mit der Politik verflochten, mit einem Bilde des Bildes der Welt konnte ein heißblütiger junger Poet ſich nicht mehr begnügen, er mußte verſuchen ein Weltenbild zu geben. Unſagbar traurig erſchien das Bild der preußiſchen Welt, das ſich hier entrollte. Ausgelaſſen und übermüthig, nicht ohne die Ungerechtigkeit, die der komiſchen Muſe erlaubt ſein muß, aber mit entſchiedenem ſatiriſchem Talente ſchilderte der Dichter in luſtigen Zerrbildern und ſaftigen Späßen die vergeblichen Geburtswehen der Offenbarungsphiloſophie, die glänzenden
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Bettina’s Königsbuch. Prutz’s Wochenſtube.
heit, und nach Frauenart erwarmte ſie noch mehr, ſeit ihr die Ideen des
neuen Geſchlechts in Fleiſch und Blut menſchlich nahe traten.
Nun da ihre Locken ergrauten und ihr Herz doch nicht altern wollte,
wendete ſie ſich mit Vorliebe an die Jugend; den Studenten widmete ſie mit
dithyrambiſcher Weiherede ihr rührendes Erinnerungsbuch „die Günderode“.
Geiſtreiche junge Männer verkehrten täglich mit ihr und begleiteten ſie auf
ihren Mondſcheinwanderungen durch den Thiergarten: ſo der liebenswür-
dige idealiſtiſche Aeſthetiker Moritz Carriere, ſo H. B. Oppenheim, ein
radicaler Publiciſt, der, als Schriftſteller ſehr langweilig, im Geſpräche,
wie ſo viele junge Juden, durch einen Zug genialiſcher Frechheit beſtach.
Und ganz jugendlich, ganz phantaſtiſch war denn auch das Idealbild des
demokratiſchen hochherzigen Fürſten, das ſie in ihrem Königsbuche ihrem
erlauchten Freunde vorhielt: im Staate allenthalben nur Milde, Nachſicht,
Verſtändniß; das Richtbeil begraben; die Freiheit jedes Einzelnen durch
die Freiheit Aller verbürgt, da ein großer Monarch ſich nicht wie ein
Schulmeiſter in jeden Stank miſchen dürfe; und über allem Haſſe der
Bekenntniſſe die eine „ſchwebende Religion“ der Zukunft, bei deren fried-
licher Schönheit jedes warme Menſchenherz ſich wohl fühlen ſollte. Das
Alles wurde von Goethe’s Mutter, der Frau Rath in lebendigen Geſprächen
verkündigt; dazwiſchen hinein hochpoetiſche Schilderungen, anmuthige Er-
zählungen von Königin Luiſe und von Weimars großen Tagen; das Ganze
ein ſo formloſes Durcheinander hoher menſchenfreundlicher Gedanken und
barocker Einfälle, daß der König enttäuſcht ſagte, er wiſſe mit dem Buche
nichts anzufangen. Greifbaren Inhalt zeigte die Schrift nur in ihren
letzten Abſchnitten, die von den ſocialen Aufgaben der Zeit handelten. Die
edle Frau empfand das Elend des armen Volks ebenſo tief wie die Dunkel-
männer der inneren Miſſion, von denen ſie doch nichts wiſſen wollte.
Sie ließ ſich’s nicht verdrießen, mit ihren jungen Freunden die entſetzlichen
Arbeiterkaſernen des Berliner Vogtlandes zu beſuchen, und erzählte nun,
nichts verhüllend, was ſie dort unter den arbeitsloſen Webern erlebt hatte.
Ergreifend klang ihre Mahnung: Wer iſt des Königs Nächſter? ſein hun-
gerndes Volk!
Derber, handfeſter ging Robert Prutz dem neuen Regimente zu Leibe
in ſeiner Politiſchen Wochenſtube, einer ariſtophaniſchen Komödie, die, den
Literaturdramen Platen’s nachgebildet, doch unwillkürlich darüber hinaus-
ſtrebte; denn die Literatur war jetzt ſo eng mit der Politik verflochten,
mit einem Bilde des Bildes der Welt konnte ein heißblütiger junger Poet
ſich nicht mehr begnügen, er mußte verſuchen ein Weltenbild zu geben.
Unſagbar traurig erſchien das Bild der preußiſchen Welt, das ſich hier
entrollte. Ausgelaſſen und übermüthig, nicht ohne die Ungerechtigkeit, die
der komiſchen Muſe erlaubt ſein muß, aber mit entſchiedenem ſatiriſchem
Talente ſchilderte der Dichter in luſtigen Zerrbildern und ſaftigen Späßen
die vergeblichen Geburtswehen der Offenbarungsphiloſophie, die glänzenden
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/263>, abgerufen am 22.11.2024.
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