evangelischen Idee des Priesterthums der Laien nicht mehr vertrug, und näherten sich also, trotz des tiefen Gegensatzes der sittlichen Grundgedanken, den hierarchischen Ansichten der Ultramontanen, während das gebildete Bürgerthum bereits begann die constitutionellen Ideale der Zeit in das kirch- liche Leben hinüberzutragen und irgend eine Form des Repräsentativsystems für die evangelische Landeskirche erhoffte. Endlich zeigte der neue lutherische Pietismus, scheinbar mindestens, eine aristokratische Färbung, welche den stillen Adelshaß der bürgerlichen Klassen aufreizen mußte. Der alte Pietismus hatte seine feste Stütze an den kleinen Leuten gefunden, und solcher Stillen im Lande gab es noch immer viele, aber an der Spitze dieser Erweckten standen jetzt fast überall neben den Geistlichen fromme Edelleute. Da waren in Mecklenburg die Bernstorff, Oertzen, Bassewitz, am Niederrhein der edle Graf von der Recke, in Pommern die Below, Blankenburg, Kleist-Retzow, in Schlesien der adliche Kreis, der sich um die Prinzessin Marianne und die Gräfin Reden schaarte.
Nun gar in Berlin wurde die strengkirchliche Gesinnung, seit der Hof sie begünstigte, bald zur Modesache der vornehmen Welt, und neben der ehr- lichen Frömmigkeit trat auch oft eine scheinheilige Kopfhängerei zu Tage. Zu den Bibelstunden des Generals Thile drängte sich manches ehrgeizige Welt- kind; selbst in militärischen Kreisen sprach man allzuviel von Wiedergeburt und Erleuchtung, und an jedem Sonntag zog eine Schaar strebsamer Leut- nants und Referendare, mit dem Gesangbuch in der Hand, zur Kirche um sich nachher in der Habel'schen Weinstube unter den Linden beim Früh- schoppen von der ausgestandenen geistlichen Mühsal zu erholen; der Volks- witz nannte diese jungen Herren die nassen Engel. Dies Alles im Verein verstimmte die bürgerlichen Klassen; der echt protestantische Abscheu gegen jeden Schein von Gewissensdruck und der kirchenfeindliche Radicalismus der neuesten Literatur wirkten zusammen. Wer ein wissenschaftlich ge- schulter, gut bürgerlicher Liberaler war, hielt sich verpflichtet den Geist der Finsterniß am Hofe zu bekämpfen; der Name der Pietisten wurde bald zum Schimpfwort, und nach wenigen Jahren dieses christlichen Regiments zeigte sich die große Mehrheit der gebildeten Berliner wieder so ganz un- kirchlich gesinnt wie einst vor dem Jahre 1806.
Ohne jedes Verständniß, nicht selten sogar mit frivolem Spott be- trachtete die liberale Welt alle die schönen Unternehmungen christlicher Liebe, in denen die strengen Schriftgläubigen ihre religiöse Thatkraft be- kundeten. In einer Zeit, da die Massen des Volks schon in Gährung ge- riethen und eine furchtbare sociale Revolution sich ankündigte, überließ man gedankenlos alle Arbeit des praktischen Christenthums allein der or- thodox-pietistischen Partei. Während im alten Trappistenkloster zu Düssel- thal, inmitten der katholischen Welt, das Kinder-Rettungshaus des Grafen v. d. Recke fröhlich aufblühte, gründete nahebei in Kaiserswerth Pastor Fliedner (1836) das erste Diakonissenhaus, ein unscheinbarer kleiner Mann,
Pietismus. Praktiſches Chriſtenthum.
evangeliſchen Idee des Prieſterthums der Laien nicht mehr vertrug, und näherten ſich alſo, trotz des tiefen Gegenſatzes der ſittlichen Grundgedanken, den hierarchiſchen Anſichten der Ultramontanen, während das gebildete Bürgerthum bereits begann die conſtitutionellen Ideale der Zeit in das kirch- liche Leben hinüberzutragen und irgend eine Form des Repräſentativſyſtems für die evangeliſche Landeskirche erhoffte. Endlich zeigte der neue lutheriſche Pietismus, ſcheinbar mindeſtens, eine ariſtokratiſche Färbung, welche den ſtillen Adelshaß der bürgerlichen Klaſſen aufreizen mußte. Der alte Pietismus hatte ſeine feſte Stütze an den kleinen Leuten gefunden, und ſolcher Stillen im Lande gab es noch immer viele, aber an der Spitze dieſer Erweckten ſtanden jetzt faſt überall neben den Geiſtlichen fromme Edelleute. Da waren in Mecklenburg die Bernſtorff, Oertzen, Baſſewitz, am Niederrhein der edle Graf von der Recke, in Pommern die Below, Blankenburg, Kleiſt-Retzow, in Schleſien der adliche Kreis, der ſich um die Prinzeſſin Marianne und die Gräfin Reden ſchaarte.
Nun gar in Berlin wurde die ſtrengkirchliche Geſinnung, ſeit der Hof ſie begünſtigte, bald zur Modeſache der vornehmen Welt, und neben der ehr- lichen Frömmigkeit trat auch oft eine ſcheinheilige Kopfhängerei zu Tage. Zu den Bibelſtunden des Generals Thile drängte ſich manches ehrgeizige Welt- kind; ſelbſt in militäriſchen Kreiſen ſprach man allzuviel von Wiedergeburt und Erleuchtung, und an jedem Sonntag zog eine Schaar ſtrebſamer Leut- nants und Referendare, mit dem Geſangbuch in der Hand, zur Kirche um ſich nachher in der Habel’ſchen Weinſtube unter den Linden beim Früh- ſchoppen von der ausgeſtandenen geiſtlichen Mühſal zu erholen; der Volks- witz nannte dieſe jungen Herren die naſſen Engel. Dies Alles im Verein verſtimmte die bürgerlichen Klaſſen; der echt proteſtantiſche Abſcheu gegen jeden Schein von Gewiſſensdruck und der kirchenfeindliche Radicalismus der neueſten Literatur wirkten zuſammen. Wer ein wiſſenſchaftlich ge- ſchulter, gut bürgerlicher Liberaler war, hielt ſich verpflichtet den Geiſt der Finſterniß am Hofe zu bekämpfen; der Name der Pietiſten wurde bald zum Schimpfwort, und nach wenigen Jahren dieſes chriſtlichen Regiments zeigte ſich die große Mehrheit der gebildeten Berliner wieder ſo ganz un- kirchlich geſinnt wie einſt vor dem Jahre 1806.
Ohne jedes Verſtändniß, nicht ſelten ſogar mit frivolem Spott be- trachtete die liberale Welt alle die ſchönen Unternehmungen chriſtlicher Liebe, in denen die ſtrengen Schriftgläubigen ihre religiöſe Thatkraft be- kundeten. In einer Zeit, da die Maſſen des Volks ſchon in Gährung ge- riethen und eine furchtbare ſociale Revolution ſich ankündigte, überließ man gedankenlos alle Arbeit des praktiſchen Chriſtenthums allein der or- thodox-pietiſtiſchen Partei. Während im alten Trappiſtenkloſter zu Düſſel- thal, inmitten der katholiſchen Welt, das Kinder-Rettungshaus des Grafen v. d. Recke fröhlich aufblühte, gründete nahebei in Kaiſerswerth Paſtor Fliedner (1836) das erſte Diakoniſſenhaus, ein unſcheinbarer kleiner Mann,
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[245/0259]
Pietismus. Praktiſches Chriſtenthum.
evangeliſchen Idee des Prieſterthums der Laien nicht mehr vertrug, und
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den hierarchiſchen Anſichten der Ultramontanen, während das gebildete
Bürgerthum bereits begann die conſtitutionellen Ideale der Zeit in das kirch-
liche Leben hinüberzutragen und irgend eine Form des Repräſentativſyſtems
für die evangeliſche Landeskirche erhoffte. Endlich zeigte der neue lutheriſche
Pietismus, ſcheinbar mindeſtens, eine ariſtokratiſche Färbung, welche den
ſtillen Adelshaß der bürgerlichen Klaſſen aufreizen mußte. Der alte
Pietismus hatte ſeine feſte Stütze an den kleinen Leuten gefunden, und
ſolcher Stillen im Lande gab es noch immer viele, aber an der Spitze
dieſer Erweckten ſtanden jetzt faſt überall neben den Geiſtlichen fromme
Edelleute. Da waren in Mecklenburg die Bernſtorff, Oertzen, Baſſewitz,
am Niederrhein der edle Graf von der Recke, in Pommern die Below,
Blankenburg, Kleiſt-Retzow, in Schleſien der adliche Kreis, der ſich um
die Prinzeſſin Marianne und die Gräfin Reden ſchaarte.
Nun gar in Berlin wurde die ſtrengkirchliche Geſinnung, ſeit der Hof
ſie begünſtigte, bald zur Modeſache der vornehmen Welt, und neben der ehr-
lichen Frömmigkeit trat auch oft eine ſcheinheilige Kopfhängerei zu Tage. Zu
den Bibelſtunden des Generals Thile drängte ſich manches ehrgeizige Welt-
kind; ſelbſt in militäriſchen Kreiſen ſprach man allzuviel von Wiedergeburt
und Erleuchtung, und an jedem Sonntag zog eine Schaar ſtrebſamer Leut-
nants und Referendare, mit dem Geſangbuch in der Hand, zur Kirche
um ſich nachher in der Habel’ſchen Weinſtube unter den Linden beim Früh-
ſchoppen von der ausgeſtandenen geiſtlichen Mühſal zu erholen; der Volks-
witz nannte dieſe jungen Herren die naſſen Engel. Dies Alles im Verein
verſtimmte die bürgerlichen Klaſſen; der echt proteſtantiſche Abſcheu gegen
jeden Schein von Gewiſſensdruck und der kirchenfeindliche Radicalismus
der neueſten Literatur wirkten zuſammen. Wer ein wiſſenſchaftlich ge-
ſchulter, gut bürgerlicher Liberaler war, hielt ſich verpflichtet den Geiſt der
Finſterniß am Hofe zu bekämpfen; der Name der Pietiſten wurde bald
zum Schimpfwort, und nach wenigen Jahren dieſes chriſtlichen Regiments
zeigte ſich die große Mehrheit der gebildeten Berliner wieder ſo ganz un-
kirchlich geſinnt wie einſt vor dem Jahre 1806.
Ohne jedes Verſtändniß, nicht ſelten ſogar mit frivolem Spott be-
trachtete die liberale Welt alle die ſchönen Unternehmungen chriſtlicher
Liebe, in denen die ſtrengen Schriftgläubigen ihre religiöſe Thatkraft be-
kundeten. In einer Zeit, da die Maſſen des Volks ſchon in Gährung ge-
riethen und eine furchtbare ſociale Revolution ſich ankündigte, überließ
man gedankenlos alle Arbeit des praktiſchen Chriſtenthums allein der or-
thodox-pietiſtiſchen Partei. Während im alten Trappiſtenkloſter zu Düſſel-
thal, inmitten der katholiſchen Welt, das Kinder-Rettungshaus des Grafen
v. d. Recke fröhlich aufblühte, gründete nahebei in Kaiſerswerth Paſtor
Fliedner (1836) das erſte Diakoniſſenhaus, ein unſcheinbarer kleiner Mann,
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/259>, abgerufen am 25.11.2024.
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