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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.

Währenddem arbeiteten zahlreiche Federn an den neuen Lehrplänen,
Niemand eifriger, als der Westphale D. W. Landfermann, Eilers' Nachfolger
in der Coblenzer Schulrathsstelle, ein urkräftiger Teutone, der als Burschen-
schafter schwere Verfolgungen erlitten hatte, im Unterrichtswesen gründlich
erfahren, in der Politik gemäßigt liberal, aber wegen seines kirchlichen Ernstes
ganz mit Unrecht als Pietist verrufen. Viele Jahre hindurch war der Um-
schwung des religiösen Lebens in den Schulen so gänzlich unbemerkt geblieben,
daß der streng kirchlich gesinnte Karl Ritter, der große Schüler Schnepfen-
thals noch lange mit seinen Pestalozzi'schen Lehrern vertraulich verkehrte
ohne den inneren Gegensatz zu empfinden. Jetzt schieden sich die Geister;
man begann einzusehen, daß die Wahrheiten des Christenthums Kindern
nur in der concreten Form eines bestimmten Bekenntnisses überliefert
werden können. In diesem Sinne waren Landfermann's Reformvor-
schläge gehalten. Ohne die Schule der kirchlichen Obrigkeit zu unter-
werfen, wollte er doch die Schulmeister auf das Bekenntniß ihrer Kirche
verpflichten, der Bibel und dem Gesangbuch wieder ihr gutes Recht ein-
räumen, eine nicht übermäßige Anzahl von Bibelsprüchen und Kirchen-
liedern den evangelischen Kindern gründlich einprägen lassen, damit das
junge Geschlecht wieder bibelfest würde und in das zerstreuende moderne
Leben einen bleibenden Schatz der Erbauung mit hinübernähme.

Doch alle diese Entwürfe blieben unausgeführt in dem Wirrwarr kirch-
licher Kämpfe, der den Minister umtobte; man hörte nur zuweilen von Maß-
regeln nothwendiger Strenge gegen einzelne radicale Lehrer. Sie genügten
um das einmal feststehende Urtheil über Eichhorn's Verfolgungssucht zu be-
kräftigen; und dies Urtheil gelangte überall zur Herrschaft, als Diesterweg
selbst dem neuen Systeme weichen mußte. Die Leitung des Hauptseminars
konnte ein Mann, der den confessionslosen Religionsunterricht erstrebte,
unter dieser Regierung nicht mehr behalten. Aber Diesterweg's fleckenloser
Charakter, seine untadelhafte Amtsführung, seine großen Verdienste erheischten
Schonung; die jetzt unvermeidliche Versetzung konnte sehr wohl in solchen
Formen geschehen, daß er sich persönlich nicht verletzt fühlte; selbst Eilers
meinte, man dürfe ihn doch nicht bestrafen wegen einer Gesinnung, die
ihm unter Altenstein Dank und Ehren eingebracht hatte. Leider wollte
der König von Schonung nichts hören; er verabscheute Diesterweg als
einen Mann des Unglaubens und empfand es als eine persönliche Be-
leidigung, daß der Seminardirektor auf einer großen Berliner Lehrerver-
sammlung fast wie ein rationalistischer Gegenminister verherrlicht wurde.
Als Diesterweg nach Pestalozzi's hundertjährigem Geburtstag um Unter-
stützung für ein ländliches Erziehungshaus nachsuchte, da schlug der König
die Bitte vorläufig ab, mit der ungnädigen Bemerkung: bei der Feier
habe sich ein dem frommen Sinne des Gefeierten durchaus fremder Geist
offenbart. Bald darauf, im Frühjahr 1847 wurde Diesterweg an eine
Blindenanstalt versetzt. Da er dieser Zumuthung unmöglich entsprechen

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.

Währenddem arbeiteten zahlreiche Federn an den neuen Lehrplänen,
Niemand eifriger, als der Weſtphale D. W. Landfermann, Eilers’ Nachfolger
in der Coblenzer Schulrathsſtelle, ein urkräftiger Teutone, der als Burſchen-
ſchafter ſchwere Verfolgungen erlitten hatte, im Unterrichtsweſen gründlich
erfahren, in der Politik gemäßigt liberal, aber wegen ſeines kirchlichen Ernſtes
ganz mit Unrecht als Pietiſt verrufen. Viele Jahre hindurch war der Um-
ſchwung des religiöſen Lebens in den Schulen ſo gänzlich unbemerkt geblieben,
daß der ſtreng kirchlich geſinnte Karl Ritter, der große Schüler Schnepfen-
thals noch lange mit ſeinen Peſtalozzi’ſchen Lehrern vertraulich verkehrte
ohne den inneren Gegenſatz zu empfinden. Jetzt ſchieden ſich die Geiſter;
man begann einzuſehen, daß die Wahrheiten des Chriſtenthums Kindern
nur in der concreten Form eines beſtimmten Bekenntniſſes überliefert
werden können. In dieſem Sinne waren Landfermann’s Reformvor-
ſchläge gehalten. Ohne die Schule der kirchlichen Obrigkeit zu unter-
werfen, wollte er doch die Schulmeiſter auf das Bekenntniß ihrer Kirche
verpflichten, der Bibel und dem Geſangbuch wieder ihr gutes Recht ein-
räumen, eine nicht übermäßige Anzahl von Bibelſprüchen und Kirchen-
liedern den evangeliſchen Kindern gründlich einprägen laſſen, damit das
junge Geſchlecht wieder bibelfeſt würde und in das zerſtreuende moderne
Leben einen bleibenden Schatz der Erbauung mit hinübernähme.

Doch alle dieſe Entwürfe blieben unausgeführt in dem Wirrwarr kirch-
licher Kämpfe, der den Miniſter umtobte; man hörte nur zuweilen von Maß-
regeln nothwendiger Strenge gegen einzelne radicale Lehrer. Sie genügten
um das einmal feſtſtehende Urtheil über Eichhorn’s Verfolgungsſucht zu be-
kräftigen; und dies Urtheil gelangte überall zur Herrſchaft, als Dieſterweg
ſelbſt dem neuen Syſteme weichen mußte. Die Leitung des Hauptſeminars
konnte ein Mann, der den confeſſionsloſen Religionsunterricht erſtrebte,
unter dieſer Regierung nicht mehr behalten. Aber Dieſterweg’s fleckenloſer
Charakter, ſeine untadelhafte Amtsführung, ſeine großen Verdienſte erheiſchten
Schonung; die jetzt unvermeidliche Verſetzung konnte ſehr wohl in ſolchen
Formen geſchehen, daß er ſich perſönlich nicht verletzt fühlte; ſelbſt Eilers
meinte, man dürfe ihn doch nicht beſtrafen wegen einer Geſinnung, die
ihm unter Altenſtein Dank und Ehren eingebracht hatte. Leider wollte
der König von Schonung nichts hören; er verabſcheute Dieſterweg als
einen Mann des Unglaubens und empfand es als eine perſönliche Be-
leidigung, daß der Seminardirektor auf einer großen Berliner Lehrerver-
ſammlung faſt wie ein rationaliſtiſcher Gegenminiſter verherrlicht wurde.
Als Dieſterweg nach Peſtalozzi’s hundertjährigem Geburtstag um Unter-
ſtützung für ein ländliches Erziehungshaus nachſuchte, da ſchlug der König
die Bitte vorläufig ab, mit der ungnädigen Bemerkung: bei der Feier
habe ſich ein dem frommen Sinne des Gefeierten durchaus fremder Geiſt
offenbart. Bald darauf, im Frühjahr 1847 wurde Dieſterweg an eine
Blindenanſtalt verſetzt. Da er dieſer Zumuthung unmöglich entſprechen

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[242/0256] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. Währenddem arbeiteten zahlreiche Federn an den neuen Lehrplänen, Niemand eifriger, als der Weſtphale D. W. Landfermann, Eilers’ Nachfolger in der Coblenzer Schulrathsſtelle, ein urkräftiger Teutone, der als Burſchen- ſchafter ſchwere Verfolgungen erlitten hatte, im Unterrichtsweſen gründlich erfahren, in der Politik gemäßigt liberal, aber wegen ſeines kirchlichen Ernſtes ganz mit Unrecht als Pietiſt verrufen. Viele Jahre hindurch war der Um- ſchwung des religiöſen Lebens in den Schulen ſo gänzlich unbemerkt geblieben, daß der ſtreng kirchlich geſinnte Karl Ritter, der große Schüler Schnepfen- thals noch lange mit ſeinen Peſtalozzi’ſchen Lehrern vertraulich verkehrte ohne den inneren Gegenſatz zu empfinden. Jetzt ſchieden ſich die Geiſter; man begann einzuſehen, daß die Wahrheiten des Chriſtenthums Kindern nur in der concreten Form eines beſtimmten Bekenntniſſes überliefert werden können. In dieſem Sinne waren Landfermann’s Reformvor- ſchläge gehalten. Ohne die Schule der kirchlichen Obrigkeit zu unter- werfen, wollte er doch die Schulmeiſter auf das Bekenntniß ihrer Kirche verpflichten, der Bibel und dem Geſangbuch wieder ihr gutes Recht ein- räumen, eine nicht übermäßige Anzahl von Bibelſprüchen und Kirchen- liedern den evangeliſchen Kindern gründlich einprägen laſſen, damit das junge Geſchlecht wieder bibelfeſt würde und in das zerſtreuende moderne Leben einen bleibenden Schatz der Erbauung mit hinübernähme. Doch alle dieſe Entwürfe blieben unausgeführt in dem Wirrwarr kirch- licher Kämpfe, der den Miniſter umtobte; man hörte nur zuweilen von Maß- regeln nothwendiger Strenge gegen einzelne radicale Lehrer. Sie genügten um das einmal feſtſtehende Urtheil über Eichhorn’s Verfolgungsſucht zu be- kräftigen; und dies Urtheil gelangte überall zur Herrſchaft, als Dieſterweg ſelbſt dem neuen Syſteme weichen mußte. Die Leitung des Hauptſeminars konnte ein Mann, der den confeſſionsloſen Religionsunterricht erſtrebte, unter dieſer Regierung nicht mehr behalten. Aber Dieſterweg’s fleckenloſer Charakter, ſeine untadelhafte Amtsführung, ſeine großen Verdienſte erheiſchten Schonung; die jetzt unvermeidliche Verſetzung konnte ſehr wohl in ſolchen Formen geſchehen, daß er ſich perſönlich nicht verletzt fühlte; ſelbſt Eilers meinte, man dürfe ihn doch nicht beſtrafen wegen einer Geſinnung, die ihm unter Altenſtein Dank und Ehren eingebracht hatte. Leider wollte der König von Schonung nichts hören; er verabſcheute Dieſterweg als einen Mann des Unglaubens und empfand es als eine perſönliche Be- leidigung, daß der Seminardirektor auf einer großen Berliner Lehrerver- ſammlung faſt wie ein rationaliſtiſcher Gegenminiſter verherrlicht wurde. Als Dieſterweg nach Peſtalozzi’s hundertjährigem Geburtstag um Unter- ſtützung für ein ländliches Erziehungshaus nachſuchte, da ſchlug der König die Bitte vorläufig ab, mit der ungnädigen Bemerkung: bei der Feier habe ſich ein dem frommen Sinne des Gefeierten durchaus fremder Geiſt offenbart. Bald darauf, im Frühjahr 1847 wurde Dieſterweg an eine Blindenanſtalt verſetzt. Da er dieſer Zumuthung unmöglich entſprechen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/256>, abgerufen am 25.11.2024.