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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Gegensätze des deutschen Lebens.
auf dem Gebiete der Theorie erstanden der liberalen Lehre einflußreiche
Gegner. Unklare Erinnerungen aus Haller und den Werken der histo-
rischen Rechtsschule lieferten dem jungen Fürsten Ludwig zu Solms-
Lich den Stoff zu seinem Büchlein "Deutschland und die Repräsentativ-
verfassungen" (1838), einer Schrift, die in der vornehmen Welt, zumal
am Berliner Hofe lebhafte Bewunderung erregte, von dem alten Hans
Gagern aber mit dem treffenden Vorwurfe abgefertigt wurde: "Es kom-
men uns, vorzüglich aus dem Norden, allerlei sophistische mystische Be-
hauptungen zu, die wie die Nebel von den Sonnenstrahlen des natürlichen
Verstandes zerstreut werden." Deutlich war in den verschwommenen Sätzen
nur das Eine, daß der fürstliche Verfasser die ganze neue Geschichte des
deutschen Südens für eine große Verirrung ansah und ihr die preußi-
schen Provinzialstände als lichtes Gegenbild entgegenhielt. Ebenso un-
friedlich gestalteten sich die wirthschaftlichen Zustände. Kaum begann unter
dem Schutze des Zollvereins die junge Großindustrie aufzublühen, so
zeigte sich auch schon die finstere Schattenseite der neuen Verhältnisse;
weithin durch die lange Kette der mitteldeutschen Hungergebirge erklang
der Jammerruf der Arbeiter; die grimme Noth stimmte die Massen em-
pfänglich für communistische Träume.

Eine schwere sociale Erschütterung schien im Anzuge, und sie drohte
um so verheerender zu wirken, da auch das kirchliche Leben tief zerklüftet
war. Derweil das römische Priesterthum seit dem Kölnischen Bischofs-
streite seine Macht täglich wachsen sah und der Glaubensernst der wieder-
erwachten evangelischen Frömmigkeit sich in fruchtbaren Liebeswerken be-
thätigte, verhöhnten die Kritiker der junghegelschen Schule jede Form des
Christenthums; der Bodensatz der alten Aufklärung wirbelte wieder empor,
weite Kreise der Gebildeten vermochten noch gar nicht zu begreifen, daß
es mit der Religion wieder Ernst ward. Als ein Zeichen der Zeit er-
schien am hundertsten Gedenktage der Thronbesteigung die Jubelschrift
"Friedrich der Große und seine Widersacher" von dem jungen C. F. Köppen,
ein geistreiches Buch, das die erhabene Sittlichkeit des schaffenden und
wissenden Heros wider die moralischen Splitterrichter siegreich vertheidigte,
aber auch die katholischen Wölfe im Schafskleide, die protestantischen Schafe
im Wolfskleide, die aus allen Pfützen quakenden glaubensseligen Frösche mit
ätzendem Hohne überschüttete. Die reiche Gedankenarbeit dreier Genera-
tionen, welche die Herrschaft der Ideen Voltaire's in Deutschland gebrochen
hatte, schien für diese radicale Jugend gar nicht vorhanden zu sein. Und
welche Gegensätze endlich in der Literatur. Neben der strengen Forschung
der historischen und der Naturwissenschaft trieb eine freche und flache Tages-
schriftstellerei ihr Wesen, durch und durch tendenziös, in Vers und Prosa
alle überlieferte Ordnung verspottend, immer nur auf den flüchtigen Er-
folg des Augenblicks bedacht.

Deutschland war in einem Zustande bedenklicher Gährung, und einer

Gegenſätze des deutſchen Lebens.
auf dem Gebiete der Theorie erſtanden der liberalen Lehre einflußreiche
Gegner. Unklare Erinnerungen aus Haller und den Werken der hiſto-
riſchen Rechtsſchule lieferten dem jungen Fürſten Ludwig zu Solms-
Lich den Stoff zu ſeinem Büchlein „Deutſchland und die Repräſentativ-
verfaſſungen“ (1838), einer Schrift, die in der vornehmen Welt, zumal
am Berliner Hofe lebhafte Bewunderung erregte, von dem alten Hans
Gagern aber mit dem treffenden Vorwurfe abgefertigt wurde: „Es kom-
men uns, vorzüglich aus dem Norden, allerlei ſophiſtiſche myſtiſche Be-
hauptungen zu, die wie die Nebel von den Sonnenſtrahlen des natürlichen
Verſtandes zerſtreut werden.“ Deutlich war in den verſchwommenen Sätzen
nur das Eine, daß der fürſtliche Verfaſſer die ganze neue Geſchichte des
deutſchen Südens für eine große Verirrung anſah und ihr die preußi-
ſchen Provinzialſtände als lichtes Gegenbild entgegenhielt. Ebenſo un-
friedlich geſtalteten ſich die wirthſchaftlichen Zuſtände. Kaum begann unter
dem Schutze des Zollvereins die junge Großinduſtrie aufzublühen, ſo
zeigte ſich auch ſchon die finſtere Schattenſeite der neuen Verhältniſſe;
weithin durch die lange Kette der mitteldeutſchen Hungergebirge erklang
der Jammerruf der Arbeiter; die grimme Noth ſtimmte die Maſſen em-
pfänglich für communiſtiſche Träume.

Eine ſchwere ſociale Erſchütterung ſchien im Anzuge, und ſie drohte
um ſo verheerender zu wirken, da auch das kirchliche Leben tief zerklüftet
war. Derweil das römiſche Prieſterthum ſeit dem Kölniſchen Biſchofs-
ſtreite ſeine Macht täglich wachſen ſah und der Glaubensernſt der wieder-
erwachten evangeliſchen Frömmigkeit ſich in fruchtbaren Liebeswerken be-
thätigte, verhöhnten die Kritiker der junghegelſchen Schule jede Form des
Chriſtenthums; der Bodenſatz der alten Aufklärung wirbelte wieder empor,
weite Kreiſe der Gebildeten vermochten noch gar nicht zu begreifen, daß
es mit der Religion wieder Ernſt ward. Als ein Zeichen der Zeit er-
ſchien am hundertſten Gedenktage der Thronbeſteigung die Jubelſchrift
„Friedrich der Große und ſeine Widerſacher“ von dem jungen C. F. Köppen,
ein geiſtreiches Buch, das die erhabene Sittlichkeit des ſchaffenden und
wiſſenden Heros wider die moraliſchen Splitterrichter ſiegreich vertheidigte,
aber auch die katholiſchen Wölfe im Schafskleide, die proteſtantiſchen Schafe
im Wolfskleide, die aus allen Pfützen quakenden glaubensſeligen Fröſche mit
ätzendem Hohne überſchüttete. Die reiche Gedankenarbeit dreier Genera-
tionen, welche die Herrſchaft der Ideen Voltaire’s in Deutſchland gebrochen
hatte, ſchien für dieſe radicale Jugend gar nicht vorhanden zu ſein. Und
welche Gegenſätze endlich in der Literatur. Neben der ſtrengen Forſchung
der hiſtoriſchen und der Naturwiſſenſchaft trieb eine freche und flache Tages-
ſchriftſtellerei ihr Weſen, durch und durch tendenziös, in Vers und Proſa
alle überlieferte Ordnung verſpottend, immer nur auf den flüchtigen Er-
folg des Augenblicks bedacht.

Deutſchland war in einem Zuſtande bedenklicher Gährung, und einer

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[5/0019] Gegenſätze des deutſchen Lebens. auf dem Gebiete der Theorie erſtanden der liberalen Lehre einflußreiche Gegner. Unklare Erinnerungen aus Haller und den Werken der hiſto- riſchen Rechtsſchule lieferten dem jungen Fürſten Ludwig zu Solms- Lich den Stoff zu ſeinem Büchlein „Deutſchland und die Repräſentativ- verfaſſungen“ (1838), einer Schrift, die in der vornehmen Welt, zumal am Berliner Hofe lebhafte Bewunderung erregte, von dem alten Hans Gagern aber mit dem treffenden Vorwurfe abgefertigt wurde: „Es kom- men uns, vorzüglich aus dem Norden, allerlei ſophiſtiſche myſtiſche Be- hauptungen zu, die wie die Nebel von den Sonnenſtrahlen des natürlichen Verſtandes zerſtreut werden.“ Deutlich war in den verſchwommenen Sätzen nur das Eine, daß der fürſtliche Verfaſſer die ganze neue Geſchichte des deutſchen Südens für eine große Verirrung anſah und ihr die preußi- ſchen Provinzialſtände als lichtes Gegenbild entgegenhielt. Ebenſo un- friedlich geſtalteten ſich die wirthſchaftlichen Zuſtände. Kaum begann unter dem Schutze des Zollvereins die junge Großinduſtrie aufzublühen, ſo zeigte ſich auch ſchon die finſtere Schattenſeite der neuen Verhältniſſe; weithin durch die lange Kette der mitteldeutſchen Hungergebirge erklang der Jammerruf der Arbeiter; die grimme Noth ſtimmte die Maſſen em- pfänglich für communiſtiſche Träume. Eine ſchwere ſociale Erſchütterung ſchien im Anzuge, und ſie drohte um ſo verheerender zu wirken, da auch das kirchliche Leben tief zerklüftet war. Derweil das römiſche Prieſterthum ſeit dem Kölniſchen Biſchofs- ſtreite ſeine Macht täglich wachſen ſah und der Glaubensernſt der wieder- erwachten evangeliſchen Frömmigkeit ſich in fruchtbaren Liebeswerken be- thätigte, verhöhnten die Kritiker der junghegelſchen Schule jede Form des Chriſtenthums; der Bodenſatz der alten Aufklärung wirbelte wieder empor, weite Kreiſe der Gebildeten vermochten noch gar nicht zu begreifen, daß es mit der Religion wieder Ernſt ward. Als ein Zeichen der Zeit er- ſchien am hundertſten Gedenktage der Thronbeſteigung die Jubelſchrift „Friedrich der Große und ſeine Widerſacher“ von dem jungen C. F. Köppen, ein geiſtreiches Buch, das die erhabene Sittlichkeit des ſchaffenden und wiſſenden Heros wider die moraliſchen Splitterrichter ſiegreich vertheidigte, aber auch die katholiſchen Wölfe im Schafskleide, die proteſtantiſchen Schafe im Wolfskleide, die aus allen Pfützen quakenden glaubensſeligen Fröſche mit ätzendem Hohne überſchüttete. Die reiche Gedankenarbeit dreier Genera- tionen, welche die Herrſchaft der Ideen Voltaire’s in Deutſchland gebrochen hatte, ſchien für dieſe radicale Jugend gar nicht vorhanden zu ſein. Und welche Gegenſätze endlich in der Literatur. Neben der ſtrengen Forſchung der hiſtoriſchen und der Naturwiſſenſchaft trieb eine freche und flache Tages- ſchriftſtellerei ihr Weſen, durch und durch tendenziös, in Vers und Proſa alle überlieferte Ordnung verſpottend, immer nur auf den flüchtigen Er- folg des Augenblicks bedacht. Deutſchland war in einem Zuſtande bedenklicher Gährung, und einer

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/19>, abgerufen am 23.04.2024.