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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
stand schon so fest, die Gemeinschaft der Arbeit zwischen den Deutschen
außerhalb Oesterreichs erschien schon so unzerreißbar, daß Michel Chevalier
eben jetzt, nach einer Reise durch Deutschland, bewundernd sagte: "In
der europäischen Politik weiß ich nichts Merkwürdigeres als die Wieder-
herstellung der Einheit Deutschlands. Welch ein prächtiges Schauspiel,
das eines großen Volkes, dessen Trümmer sich nähern, das zur Natio-
nalität, das heißt zum Leben, zurückkehrt!"

Der grelle Widerspruch zwischen diesem jungen vollsaftigen wirth-
schaftlichen Leben und den Formen des starren, jeder Verbesserung spotten-
den Bundesrechts mußte die öffentliche Meinung verwirren. Die Einen
träumten noch dahin in dem Stillleben eines gedankenlosen Particula-
rismus, der durch die großen Verhältnisse des neuen nationalen Marktes
schon überwunden war; Andere wiederholten noch wie vor zehn Jahren
die Schlagworte des radikalen Weltbürgerthums; in den besten Klassen
des Volkes aber erwachte allmählich ein leidenschaftlicher, reizbarer Natio-
nalstolz. Sie ahnten, daß hier eine ungeheuere Volkskraft durch tausend
verfitzte und verschrobene politische Rücksichten künstlich unterbunden war.
Verwegene Ansprüche, wie sie vordem nur vereinzelte Schwärmer gewagt
hatten, wurden zum Zeitungsgespräche. Man begann zu fragen, warum
dieser junge Zollverein nicht, wie einst die Hansa, seine Flagge auf dem
Weltmeere entfalte und durch seine Orlogsschiffe beschütze, warum er nicht
theilnehme an der Eroberung der transatlantischen Welt. Nach allen
entfremdeten Tochterlanden unseres Volkes, bis nach Flensburg, bis nach
Riga und Reval schweiften die verlangenden Blicke der patriotischen
Schriftsteller; und als in diesem wechselreichen Sommer die Rheingrenze
von Neuem bedroht schien, da erhob sich mit elementarischer Gewalt ein
Sturm nationalen Zornes, der deutlich bekundete, daß der Geist der Be-
freiungskriege nicht erstorben war, daß die Zeiten der Erfüllung unserem
ringenden Volke endlich nahten. Mit dem nationalen Stolze wuchsen
auch die Freiheitshoffnungen. Nach so vielen Kämpfen und Enttäuschun-
gen begannen sich die Liberalen um diese Zeit das theoretische Ideal des
parlamentarischen Staates zu formen, das sie seitdem festhielten bis mit
dem Jahre 1866 der monarchische Staatsgedanke wieder erstarkte. Einer
ihrer Führer, der Braunschweiger Karl Steinacker erklärte jetzt kurzab:
"die Regierung im Repräsentativstaate ist immer die Darstellung der
Majorität im Staate;" der besonnene, wohlmeinende Mann ahnte nicht,
daß er mit dieser Lehre dem Königthum jede selbständige Macht raubte
und nur den Weg ebnete für die republikanischen Ideen, die unter den
Flüchtlingen, unter der aufgeregten Jugend gewaltig überhandnahmen.

Wie weitab von solchen beständig steigenden doctrinären Ansprüchen
des Liberalismus lag die Wirklichkeit der deutschen Zustände: die über-
aus bescheidene Macht der süddeutschen Landtage und die dreiste Willkür
des Welfenkönigs, der ungestraft sein Landesrecht mit Füßen trat. Auch

V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
ſtand ſchon ſo feſt, die Gemeinſchaft der Arbeit zwiſchen den Deutſchen
außerhalb Oeſterreichs erſchien ſchon ſo unzerreißbar, daß Michel Chevalier
eben jetzt, nach einer Reiſe durch Deutſchland, bewundernd ſagte: „In
der europäiſchen Politik weiß ich nichts Merkwürdigeres als die Wieder-
herſtellung der Einheit Deutſchlands. Welch ein prächtiges Schauſpiel,
das eines großen Volkes, deſſen Trümmer ſich nähern, das zur Natio-
nalität, das heißt zum Leben, zurückkehrt!“

Der grelle Widerſpruch zwiſchen dieſem jungen vollſaftigen wirth-
ſchaftlichen Leben und den Formen des ſtarren, jeder Verbeſſerung ſpotten-
den Bundesrechts mußte die öffentliche Meinung verwirren. Die Einen
träumten noch dahin in dem Stillleben eines gedankenloſen Particula-
rismus, der durch die großen Verhältniſſe des neuen nationalen Marktes
ſchon überwunden war; Andere wiederholten noch wie vor zehn Jahren
die Schlagworte des radikalen Weltbürgerthums; in den beſten Klaſſen
des Volkes aber erwachte allmählich ein leidenſchaftlicher, reizbarer Natio-
nalſtolz. Sie ahnten, daß hier eine ungeheuere Volkskraft durch tauſend
verfitzte und verſchrobene politiſche Rückſichten künſtlich unterbunden war.
Verwegene Anſprüche, wie ſie vordem nur vereinzelte Schwärmer gewagt
hatten, wurden zum Zeitungsgeſpräche. Man begann zu fragen, warum
dieſer junge Zollverein nicht, wie einſt die Hanſa, ſeine Flagge auf dem
Weltmeere entfalte und durch ſeine Orlogsſchiffe beſchütze, warum er nicht
theilnehme an der Eroberung der transatlantiſchen Welt. Nach allen
entfremdeten Tochterlanden unſeres Volkes, bis nach Flensburg, bis nach
Riga und Reval ſchweiften die verlangenden Blicke der patriotiſchen
Schriftſteller; und als in dieſem wechſelreichen Sommer die Rheingrenze
von Neuem bedroht ſchien, da erhob ſich mit elementariſcher Gewalt ein
Sturm nationalen Zornes, der deutlich bekundete, daß der Geiſt der Be-
freiungskriege nicht erſtorben war, daß die Zeiten der Erfüllung unſerem
ringenden Volke endlich nahten. Mit dem nationalen Stolze wuchſen
auch die Freiheitshoffnungen. Nach ſo vielen Kämpfen und Enttäuſchun-
gen begannen ſich die Liberalen um dieſe Zeit das theoretiſche Ideal des
parlamentariſchen Staates zu formen, das ſie ſeitdem feſthielten bis mit
dem Jahre 1866 der monarchiſche Staatsgedanke wieder erſtarkte. Einer
ihrer Führer, der Braunſchweiger Karl Steinacker erklärte jetzt kurzab:
„die Regierung im Repräſentativſtaate iſt immer die Darſtellung der
Majorität im Staate;“ der beſonnene, wohlmeinende Mann ahnte nicht,
daß er mit dieſer Lehre dem Königthum jede ſelbſtändige Macht raubte
und nur den Weg ebnete für die republikaniſchen Ideen, die unter den
Flüchtlingen, unter der aufgeregten Jugend gewaltig überhandnahmen.

Wie weitab von ſolchen beſtändig ſteigenden doctrinären Anſprüchen
des Liberalismus lag die Wirklichkeit der deutſchen Zuſtände: die über-
aus beſcheidene Macht der ſüddeutſchen Landtage und die dreiſte Willkür
des Welfenkönigs, der ungeſtraft ſein Landesrecht mit Füßen trat. Auch

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[4/0018] V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. ſtand ſchon ſo feſt, die Gemeinſchaft der Arbeit zwiſchen den Deutſchen außerhalb Oeſterreichs erſchien ſchon ſo unzerreißbar, daß Michel Chevalier eben jetzt, nach einer Reiſe durch Deutſchland, bewundernd ſagte: „In der europäiſchen Politik weiß ich nichts Merkwürdigeres als die Wieder- herſtellung der Einheit Deutſchlands. Welch ein prächtiges Schauſpiel, das eines großen Volkes, deſſen Trümmer ſich nähern, das zur Natio- nalität, das heißt zum Leben, zurückkehrt!“ Der grelle Widerſpruch zwiſchen dieſem jungen vollſaftigen wirth- ſchaftlichen Leben und den Formen des ſtarren, jeder Verbeſſerung ſpotten- den Bundesrechts mußte die öffentliche Meinung verwirren. Die Einen träumten noch dahin in dem Stillleben eines gedankenloſen Particula- rismus, der durch die großen Verhältniſſe des neuen nationalen Marktes ſchon überwunden war; Andere wiederholten noch wie vor zehn Jahren die Schlagworte des radikalen Weltbürgerthums; in den beſten Klaſſen des Volkes aber erwachte allmählich ein leidenſchaftlicher, reizbarer Natio- nalſtolz. Sie ahnten, daß hier eine ungeheuere Volkskraft durch tauſend verfitzte und verſchrobene politiſche Rückſichten künſtlich unterbunden war. Verwegene Anſprüche, wie ſie vordem nur vereinzelte Schwärmer gewagt hatten, wurden zum Zeitungsgeſpräche. Man begann zu fragen, warum dieſer junge Zollverein nicht, wie einſt die Hanſa, ſeine Flagge auf dem Weltmeere entfalte und durch ſeine Orlogsſchiffe beſchütze, warum er nicht theilnehme an der Eroberung der transatlantiſchen Welt. Nach allen entfremdeten Tochterlanden unſeres Volkes, bis nach Flensburg, bis nach Riga und Reval ſchweiften die verlangenden Blicke der patriotiſchen Schriftſteller; und als in dieſem wechſelreichen Sommer die Rheingrenze von Neuem bedroht ſchien, da erhob ſich mit elementariſcher Gewalt ein Sturm nationalen Zornes, der deutlich bekundete, daß der Geiſt der Be- freiungskriege nicht erſtorben war, daß die Zeiten der Erfüllung unſerem ringenden Volke endlich nahten. Mit dem nationalen Stolze wuchſen auch die Freiheitshoffnungen. Nach ſo vielen Kämpfen und Enttäuſchun- gen begannen ſich die Liberalen um dieſe Zeit das theoretiſche Ideal des parlamentariſchen Staates zu formen, das ſie ſeitdem feſthielten bis mit dem Jahre 1866 der monarchiſche Staatsgedanke wieder erſtarkte. Einer ihrer Führer, der Braunſchweiger Karl Steinacker erklärte jetzt kurzab: „die Regierung im Repräſentativſtaate iſt immer die Darſtellung der Majorität im Staate;“ der beſonnene, wohlmeinende Mann ahnte nicht, daß er mit dieſer Lehre dem Königthum jede ſelbſtändige Macht raubte und nur den Weg ebnete für die republikaniſchen Ideen, die unter den Flüchtlingen, unter der aufgeregten Jugend gewaltig überhandnahmen. Wie weitab von ſolchen beſtändig ſteigenden doctrinären Anſprüchen des Liberalismus lag die Wirklichkeit der deutſchen Zuſtände: die über- aus beſcheidene Macht der ſüddeutſchen Landtage und die dreiſte Willkür des Welfenkönigs, der ungeſtraft ſein Landesrecht mit Füßen trat. Auch

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/18>, abgerufen am 23.11.2024.