enthielt und die Parteien in erfrischendem Wechsel -- so lautete der be- liebte Zeitungsausdruck -- sich im Genusse der Herrschaft ablösten. Unter dem Schutze einer klugen Handelspolitik nahm der Gewerbfleiß einen mächtigen Aufschwung. Die beiden führenden Stände, Bourgeoisie und Clerus, hatten ihr Ziel vorläufig erreicht, die hart bedrückten Arbeiter aber in den Bergwerken und Fabriken waren noch nicht zum Bewußtsein ihrer elenden Lage gelangt. So verlebte der junge Staat lange Jahre in un- gestörter Ruhe, und alle Welt glaubte, daß er dies Glück allein den Wunderkräften seiner Musterverfassung verdanke. Vornehmlich auf den ehrgeizigen Clerus und das erstarkende Bürgerthum der preußischen Rheinlande übten die Zustände des Nachbarlandes einen verführerischen Zauber, und -- so stark war der weltbürgerliche Zug der Zeit, so schwach ihr Verständniß für die historische Eigenart der Staaten -- zuweilen hörte man hier schon die naive Frage: ob das waffengewaltige paritätische Preußen nicht in den Verfassungsformen des neutralen katholischen Bel- giens sein Heil suchen solle?
Daß in Belgiens demokratischer Verfassung die Krone noch einiges Ansehen behauptete, war allein das Verdienst des neuen Königs. Leopold stand noch in der Blüthe des Mannesalters, und wie viele seltsame Wandlungen lagen schon hinter ihm! Gewandter, rastloser, listiger als in dem Leben dieses coburgischen Ulysses hat sich der alte abenteuernde Weltbürgersinn des deutschen Kleinfürstenstandes nie gezeigt. Viermal wechselte er wohlgemuth sein Vaterland; aus einem Deutschen ward er ein Russe, dann Engländer, dann Grieche, schließlich ein Belgier, und es lag nur an den Umständen, daß er nicht auch noch zum Spanier oder Brasilianer wurde. Selbst seine Muttersprache verlernte er nach und nach, so daß er im Alter nur noch ein mit englischen und fran- zösischen Brocken versetztes Deutsch schreiben konnte. Als russischer General nahm er rühmlichen Antheil an den Schlachten des Befreiungskrieges und besorgte sodann auf dem Wiener Congresse umsichtig die Geschäfte des Coburgischen Hauses. Nachher errang er die Hand der Prinzessin von Wales und dachte dereinst als Prinz-Gemahl die britische Politik zu leiten; als diese stolzen Träume durch den Tod seiner Gemahlin zerstört wurden, behauptete er sich am englischen Hofe in geachteter Stellung trotz der Ungunst Georg's IV. Da beriefen ihn die Griechen auf ihren Thron; sofort war er bereit und begann schon sich in die neue Rolle einzuleben. Nach längerem Zaudern zog er jedoch sein Ver- sprechen zurück, weil er voraussah, daß Griechenland in seinen engen Grenzen sich nicht kräftig entwickeln konnte, und weil er insgeheim hoffte, in England als Rathgeber seiner Nichte Victoria einst noch größere Erfolge zu erringen. Auch diese immerhin unsicheren Hoffnungen wurden wieder aufgegeben, als der Ruf aus Belgien kam, der in der That den rechten Mann an die rechte Stelle führte. Noch bevor Leopold den Thron
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
enthielt und die Parteien in erfriſchendem Wechſel — ſo lautete der be- liebte Zeitungsausdruck — ſich im Genuſſe der Herrſchaft ablöſten. Unter dem Schutze einer klugen Handelspolitik nahm der Gewerbfleiß einen mächtigen Aufſchwung. Die beiden führenden Stände, Bourgeoiſie und Clerus, hatten ihr Ziel vorläufig erreicht, die hart bedrückten Arbeiter aber in den Bergwerken und Fabriken waren noch nicht zum Bewußtſein ihrer elenden Lage gelangt. So verlebte der junge Staat lange Jahre in un- geſtörter Ruhe, und alle Welt glaubte, daß er dies Glück allein den Wunderkräften ſeiner Muſterverfaſſung verdanke. Vornehmlich auf den ehrgeizigen Clerus und das erſtarkende Bürgerthum der preußiſchen Rheinlande übten die Zuſtände des Nachbarlandes einen verführeriſchen Zauber, und — ſo ſtark war der weltbürgerliche Zug der Zeit, ſo ſchwach ihr Verſtändniß für die hiſtoriſche Eigenart der Staaten — zuweilen hörte man hier ſchon die naive Frage: ob das waffengewaltige paritätiſche Preußen nicht in den Verfaſſungsformen des neutralen katholiſchen Bel- giens ſein Heil ſuchen ſolle?
Daß in Belgiens demokratiſcher Verfaſſung die Krone noch einiges Anſehen behauptete, war allein das Verdienſt des neuen Königs. Leopold ſtand noch in der Blüthe des Mannesalters, und wie viele ſeltſame Wandlungen lagen ſchon hinter ihm! Gewandter, raſtloſer, liſtiger als in dem Leben dieſes coburgiſchen Ulyſſes hat ſich der alte abenteuernde Weltbürgerſinn des deutſchen Kleinfürſtenſtandes nie gezeigt. Viermal wechſelte er wohlgemuth ſein Vaterland; aus einem Deutſchen ward er ein Ruſſe, dann Engländer, dann Grieche, ſchließlich ein Belgier, und es lag nur an den Umſtänden, daß er nicht auch noch zum Spanier oder Braſilianer wurde. Selbſt ſeine Mutterſprache verlernte er nach und nach, ſo daß er im Alter nur noch ein mit engliſchen und fran- zöſiſchen Brocken verſetztes Deutſch ſchreiben konnte. Als ruſſiſcher General nahm er rühmlichen Antheil an den Schlachten des Befreiungskrieges und beſorgte ſodann auf dem Wiener Congreſſe umſichtig die Geſchäfte des Coburgiſchen Hauſes. Nachher errang er die Hand der Prinzeſſin von Wales und dachte dereinſt als Prinz-Gemahl die britiſche Politik zu leiten; als dieſe ſtolzen Träume durch den Tod ſeiner Gemahlin zerſtört wurden, behauptete er ſich am engliſchen Hofe in geachteter Stellung trotz der Ungunſt Georg’s IV. Da beriefen ihn die Griechen auf ihren Thron; ſofort war er bereit und begann ſchon ſich in die neue Rolle einzuleben. Nach längerem Zaudern zog er jedoch ſein Ver- ſprechen zurück, weil er vorausſah, daß Griechenland in ſeinen engen Grenzen ſich nicht kräftig entwickeln konnte, und weil er insgeheim hoffte, in England als Rathgeber ſeiner Nichte Victoria einſt noch größere Erfolge zu erringen. Auch dieſe immerhin unſicheren Hoffnungen wurden wieder aufgegeben, als der Ruf aus Belgien kam, der in der That den rechten Mann an die rechte Stelle führte. Noch bevor Leopold den Thron
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enthielt und die Parteien in erfriſchendem Wechſel — ſo lautete der be-
liebte Zeitungsausdruck — ſich im Genuſſe der Herrſchaft ablöſten. Unter
dem Schutze einer klugen Handelspolitik nahm der Gewerbfleiß einen
mächtigen Aufſchwung. Die beiden führenden Stände, Bourgeoiſie und
Clerus, hatten ihr Ziel vorläufig erreicht, die hart bedrückten Arbeiter aber
in den Bergwerken und Fabriken waren noch nicht zum Bewußtſein ihrer
elenden Lage gelangt. So verlebte der junge Staat lange Jahre in un-
geſtörter Ruhe, und alle Welt glaubte, daß er dies Glück allein den
Wunderkräften ſeiner Muſterverfaſſung verdanke. Vornehmlich auf den
ehrgeizigen Clerus und das erſtarkende Bürgerthum der preußiſchen
Rheinlande übten die Zuſtände des Nachbarlandes einen verführeriſchen
Zauber, und — ſo ſtark war der weltbürgerliche Zug der Zeit, ſo ſchwach
ihr Verſtändniß für die hiſtoriſche Eigenart der Staaten — zuweilen
hörte man hier ſchon die naive Frage: ob das waffengewaltige paritätiſche
Preußen nicht in den Verfaſſungsformen des neutralen katholiſchen Bel-
giens ſein Heil ſuchen ſolle?
Daß in Belgiens demokratiſcher Verfaſſung die Krone noch einiges
Anſehen behauptete, war allein das Verdienſt des neuen Königs. Leopold
ſtand noch in der Blüthe des Mannesalters, und wie viele ſeltſame
Wandlungen lagen ſchon hinter ihm! Gewandter, raſtloſer, liſtiger als
in dem Leben dieſes coburgiſchen Ulyſſes hat ſich der alte abenteuernde
Weltbürgerſinn des deutſchen Kleinfürſtenſtandes nie gezeigt. Viermal
wechſelte er wohlgemuth ſein Vaterland; aus einem Deutſchen ward er
ein Ruſſe, dann Engländer, dann Grieche, ſchließlich ein Belgier, und
es lag nur an den Umſtänden, daß er nicht auch noch zum Spanier
oder Braſilianer wurde. Selbſt ſeine Mutterſprache verlernte er nach
und nach, ſo daß er im Alter nur noch ein mit engliſchen und fran-
zöſiſchen Brocken verſetztes Deutſch ſchreiben konnte. Als ruſſiſcher General
nahm er rühmlichen Antheil an den Schlachten des Befreiungskrieges
und beſorgte ſodann auf dem Wiener Congreſſe umſichtig die Geſchäfte
des Coburgiſchen Hauſes. Nachher errang er die Hand der Prinzeſſin
von Wales und dachte dereinſt als Prinz-Gemahl die britiſche Politik
zu leiten; als dieſe ſtolzen Träume durch den Tod ſeiner Gemahlin
zerſtört wurden, behauptete er ſich am engliſchen Hofe in geachteter
Stellung trotz der Ungunſt Georg’s IV. Da beriefen ihn die Griechen
auf ihren Thron; ſofort war er bereit und begann ſchon ſich in die
neue Rolle einzuleben. Nach längerem Zaudern zog er jedoch ſein Ver-
ſprechen zurück, weil er vorausſah, daß Griechenland in ſeinen engen
Grenzen ſich nicht kräftig entwickeln konnte, und weil er insgeheim hoffte,
in England als Rathgeber ſeiner Nichte Victoria einſt noch größere Erfolge
zu erringen. Auch dieſe immerhin unſicheren Hoffnungen wurden wieder
aufgegeben, als der Ruf aus Belgien kam, der in der That den rechten
Mann an die rechte Stelle führte. Noch bevor Leopold den Thron
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/96>, abgerufen am 28.11.2024.
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