Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.Die belgische Verfassung. fanden nirgends eifrigere Leser als in den Reihen des Brüsseler Con-gresses; genau nach den Weisungen dieses neufranzösischen kirchlichen Radi- calismus wurde der Kirche in Belgien eine Macht eingeräumt, wie sie ihr noch nie ein europäischer Staat zugestanden hatte. Nothomb und seine liberalen Freunde wähnten damit nur dem gerühmten Vorbilde des amerikanischen voluntary system zu folgen. In Wahrheit begnügte sich die Kirche in Belgien keineswegs wie in Nordamerika mit der bescheidenen Stellung eines Privatvereines; sie blieb vielmehr im Besitze fast aller der Ehren und Vorrechte, welche sie den spanischen Königen verdankte, und ließ sich vom Staate die Gehalte ihrer Priester bezahlen. Der Staat aber verzichtete auf jedes Recht der Kirchenhoheit, selbst auf die Mitwirkung bei Bischofswahlen. Als zwei gleichberechtigte Souveräne, in ungelöstem Dualismus, standen weltliche und geistliche Gewalt nebeneinander; und da ein völlig religionsloser Staat in Europa sich nicht zu halten vermag, so begann der Clerus alsbald in das politische Gebiet überzugreifen. Ge- deckt durch das modische Schlagwort der Unterrichtsfreiheit bemächtigte er sich fast des gesammten Volksschulwesens, und mit solchem Erfolge, daß in diesem Lande uralter Cultur die Kunstfertigkeit des Lesens und Schrei- bens von Jahr zu Jahr seltener wurde. Die schwache Staatsgewalt störte ihn wenig; ein evangelischer König mußte, wie der kluge Nuntius Capaccini sogleich voraussagte, inmitten eines rein katholischen Volkes jeden Streit mit der Curie ängstlich vermeiden. Der belgische Staat glich einem jener spanischen Dome, wo die Clerisei, durch die hohe Wand des Retablo von den Laien abgetrennt, das Mittelschiff sammt dem hohen Chore allein besetzt hält, die Gemeinde nur aus den Seitenschiffen einen Blick nach dem fernen Altar werfen darf. Sobald die Folgen der neuen Kirchenfreiheit offenbar wurden, begann Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 6
Die belgiſche Verfaſſung. fanden nirgends eifrigere Leſer als in den Reihen des Brüſſeler Con-greſſes; genau nach den Weiſungen dieſes neufranzöſiſchen kirchlichen Radi- calismus wurde der Kirche in Belgien eine Macht eingeräumt, wie ſie ihr noch nie ein europäiſcher Staat zugeſtanden hatte. Nothomb und ſeine liberalen Freunde wähnten damit nur dem gerühmten Vorbilde des amerikaniſchen voluntary system zu folgen. In Wahrheit begnügte ſich die Kirche in Belgien keineswegs wie in Nordamerika mit der beſcheidenen Stellung eines Privatvereines; ſie blieb vielmehr im Beſitze faſt aller der Ehren und Vorrechte, welche ſie den ſpaniſchen Königen verdankte, und ließ ſich vom Staate die Gehalte ihrer Prieſter bezahlen. Der Staat aber verzichtete auf jedes Recht der Kirchenhoheit, ſelbſt auf die Mitwirkung bei Biſchofswahlen. Als zwei gleichberechtigte Souveräne, in ungelöſtem Dualismus, ſtanden weltliche und geiſtliche Gewalt nebeneinander; und da ein völlig religionsloſer Staat in Europa ſich nicht zu halten vermag, ſo begann der Clerus alsbald in das politiſche Gebiet überzugreifen. Ge- deckt durch das modiſche Schlagwort der Unterrichtsfreiheit bemächtigte er ſich faſt des geſammten Volksſchulweſens, und mit ſolchem Erfolge, daß in dieſem Lande uralter Cultur die Kunſtfertigkeit des Leſens und Schrei- bens von Jahr zu Jahr ſeltener wurde. Die ſchwache Staatsgewalt ſtörte ihn wenig; ein evangeliſcher König mußte, wie der kluge Nuntius Capaccini ſogleich vorausſagte, inmitten eines rein katholiſchen Volkes jeden Streit mit der Curie ängſtlich vermeiden. Der belgiſche Staat glich einem jener ſpaniſchen Dome, wo die Cleriſei, durch die hohe Wand des Retablo von den Laien abgetrennt, das Mittelſchiff ſammt dem hohen Chore allein beſetzt hält, die Gemeinde nur aus den Seitenſchiffen einen Blick nach dem fernen Altar werfen darf. Sobald die Folgen der neuen Kirchenfreiheit offenbar wurden, begann Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 6
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Die belgiſche Verfaſſung.
fanden nirgends eifrigere Leſer als in den Reihen des Brüſſeler Con-
greſſes; genau nach den Weiſungen dieſes neufranzöſiſchen kirchlichen Radi-
calismus wurde der Kirche in Belgien eine Macht eingeräumt, wie ſie
ihr noch nie ein europäiſcher Staat zugeſtanden hatte. Nothomb und
ſeine liberalen Freunde wähnten damit nur dem gerühmten Vorbilde des
amerikaniſchen voluntary system zu folgen. In Wahrheit begnügte ſich
die Kirche in Belgien keineswegs wie in Nordamerika mit der beſcheidenen
Stellung eines Privatvereines; ſie blieb vielmehr im Beſitze faſt aller der
Ehren und Vorrechte, welche ſie den ſpaniſchen Königen verdankte, und
ließ ſich vom Staate die Gehalte ihrer Prieſter bezahlen. Der Staat
aber verzichtete auf jedes Recht der Kirchenhoheit, ſelbſt auf die Mitwirkung
bei Biſchofswahlen. Als zwei gleichberechtigte Souveräne, in ungelöſtem
Dualismus, ſtanden weltliche und geiſtliche Gewalt nebeneinander; und
da ein völlig religionsloſer Staat in Europa ſich nicht zu halten vermag,
ſo begann der Clerus alsbald in das politiſche Gebiet überzugreifen. Ge-
deckt durch das modiſche Schlagwort der Unterrichtsfreiheit bemächtigte er
ſich faſt des geſammten Volksſchulweſens, und mit ſolchem Erfolge, daß
in dieſem Lande uralter Cultur die Kunſtfertigkeit des Leſens und Schrei-
bens von Jahr zu Jahr ſeltener wurde. Die ſchwache Staatsgewalt
ſtörte ihn wenig; ein evangeliſcher König mußte, wie der kluge Nuntius
Capaccini ſogleich vorausſagte, inmitten eines rein katholiſchen Volkes jeden
Streit mit der Curie ängſtlich vermeiden. Der belgiſche Staat glich einem
jener ſpaniſchen Dome, wo die Cleriſei, durch die hohe Wand des Retablo
von den Laien abgetrennt, das Mittelſchiff ſammt dem hohen Chore allein
beſetzt hält, die Gemeinde nur aus den Seitenſchiffen einen Blick nach
dem fernen Altar werfen darf.
Sobald die Folgen der neuen Kirchenfreiheit offenbar wurden, begann
die Union, welche den belgiſchen Staat geſchaffen hatte, ſich aufzulöſen.
Clericale und Liberale traten in zwei feindliche Lager auseinander, beide
Parteien faſt gleich ſtark, die eine mächtig durch das gläubige Landvolk
und eine Unzahl kirchlicher Vereine, die andere vorherrſchend in den
Städten und unterſtützt durch die Freimaurerei, die hier noch weit mehr
als in anderen katholiſchen Ländern eine politiſche Färbung annahm.
Das ewige Auf und Ab dieſer beiden Parteien, der Streit zwiſchen der
Loge und dem Beichtſtuhl füllte fortan die Geſchichte Belgiens aus. Un-
kirchlich, einſeitig politiſch wie die Bildung der Zeit war, erregte dieſer
krankhafte, unverſöhnliche Parteikampf bei den Nachbarvölkern kein Be-
fremden. Man hielt den Gegenſatz für harmlos, weil die Belgier alle-
ſammt treu zu der Verfaſſung ſtanden, und bemerkte nicht, daß die beiden
Parteien in ihrer ſittlichen Weltanſchauung ſo weit von einander abwichen
wie das neunzehnte vom dreizehnten Jahrhundert. Dies Land der
Prieſtermacht wurde bald überall als der Muſterſtaat conſtitutioneller
Freiheit geprieſen, da ſein Grundgeſetz alle Kernſätze des Vernunftrechts
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