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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 9. Der welfische Staatsstreich.
Ueberall wo Kammern tagten, in Cassel, Dresden, Darmstadt, Stuttgart,
Braunschweig, bekundeten sie ihre Entrüstung über den Staatsstreich; beson-
deres Aufsehen erregte eine Rede des Darmstädter Abgeordneten Glaubrech,
der treffend ausführte: wenn Ernst August die Landesverfassung aufheben
dürfe, dann könne er sich auch vom Deutschen Bunde ungestraft lossagen.
Zwei Jahre hindurch spielten diese hannöverschen Verhandlungen in den
deutschen Landtagen eine ähnliche Rolle wie die Polendebatten in den Pariser
Kammern. Unmittelbar bewirkten sie nichts; die Reden des sächsischen
Landtags gab ein Patriot heraus mit dem stolzen Vorwort: "Sachsen ist
nicht zurückgeblieben, aus den Sälen der Volksvertreter tönen weithin durch
Deutschlands Gauen die Riesenklänge innigen, tiefen Mitgefühls."

Immerhin ertönten die Riesenklänge so stark, daß die constitutionellen
Fürsten kaum noch eine Wahl hatten. Mit Ausnahme des hessischen Kur-
prinzen und des Braunschweiger Welfen gelangten sie alle zu der Einsicht,
daß dieser Skandal nicht zu dulden sei. König Ludwig schwankte keinen
Augenblick. Wie stark sich auch seine politischen Ansichten geändert hatten,
über die Unverbrüchlichkeit der Staatsgrundgesetze dachte er noch ganz so
wie einst als Kronprinz. Gerade weil es ihm selber jetzt hart ankam seine
wenig geliebte Landesverfassung zu halten, verlangte er auch von seinen
fürstlichen Genossen die gleiche Selbstüberwindung. Unter den württem-
bergischen Staatsmännern waren die Ansichten getheilt. Graf Bismarck,
der Gesandte in Karlsruhe, schrieb seinem alten Freunde Schele sehr zärt-
lich, und der Hannoveraner dankte ihm für seine "Theilnahme an unserer
guten und heiligen Sache".*) Indeß König Wilhelm's gesunder Verstand
ließ sich nicht irre machen; er sagte zu du Thil halb ärgerlich: "Jeder ist
sich selbst der Nächste, ich kann nicht anders handeln," und nachdem er
seinen Entschluß gefaßt, trat er sehr nachdrücklich auf. Auch der König
von Sachsen wollte von dem Verfassungsbruche nichts hören; er reiste
plötzlich nach Dalmatien, um nur nicht bei den preußischen Manövern
mit dem Welfen zusammenzutreffen. Blittersdorff fühlte lebhaft, daß alle
Hambacher Reden den Regierungen nicht so viel schadeten wie die hannö-
versche Sache, und sprach diese Ansicht in einem Rundschreiben an die
badischen Gesandtschaften unzweideutig aus. Zur Strafe bekam der badische
Gesandte Frankenberg "einen Tatzenschlag" des Welfen zu fühlen; von
Berlin herübergekommen mußte er in Hannover mehrere Tage warten,
bis man ihn zur Antrittsaudienz zuließ.**) Auch du Thil konnte sich, wie
gründlich er auch die liberalen Professoren verabscheute, doch nicht geradezu
für den Staatsstreich erklären. Also waren die Staaten, welche den Zoll-
verein stützten, im Wesentlichen einig, und wenn Preußen die Bundes-
politik der Hofburg und der Welfen ebenso entschlossen zu bekämpfen

*) Bismarck an Schele, 22. Jan.; Antwort 29. Jan. 1838.
**) Blittersdorff, Weisungen an Frankenberg, Januar 1838; Frankenberg's Bericht,
1. März 1838.

IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Ueberall wo Kammern tagten, in Caſſel, Dresden, Darmſtadt, Stuttgart,
Braunſchweig, bekundeten ſie ihre Entrüſtung über den Staatsſtreich; beſon-
deres Aufſehen erregte eine Rede des Darmſtädter Abgeordneten Glaubrech,
der treffend ausführte: wenn Ernſt Auguſt die Landesverfaſſung aufheben
dürfe, dann könne er ſich auch vom Deutſchen Bunde ungeſtraft losſagen.
Zwei Jahre hindurch ſpielten dieſe hannöverſchen Verhandlungen in den
deutſchen Landtagen eine ähnliche Rolle wie die Polendebatten in den Pariſer
Kammern. Unmittelbar bewirkten ſie nichts; die Reden des ſächſiſchen
Landtags gab ein Patriot heraus mit dem ſtolzen Vorwort: „Sachſen iſt
nicht zurückgeblieben, aus den Sälen der Volksvertreter tönen weithin durch
Deutſchlands Gauen die Rieſenklänge innigen, tiefen Mitgefühls.“

Immerhin ertönten die Rieſenklänge ſo ſtark, daß die conſtitutionellen
Fürſten kaum noch eine Wahl hatten. Mit Ausnahme des heſſiſchen Kur-
prinzen und des Braunſchweiger Welfen gelangten ſie alle zu der Einſicht,
daß dieſer Skandal nicht zu dulden ſei. König Ludwig ſchwankte keinen
Augenblick. Wie ſtark ſich auch ſeine politiſchen Anſichten geändert hatten,
über die Unverbrüchlichkeit der Staatsgrundgeſetze dachte er noch ganz ſo
wie einſt als Kronprinz. Gerade weil es ihm ſelber jetzt hart ankam ſeine
wenig geliebte Landesverfaſſung zu halten, verlangte er auch von ſeinen
fürſtlichen Genoſſen die gleiche Selbſtüberwindung. Unter den württem-
bergiſchen Staatsmännern waren die Anſichten getheilt. Graf Bismarck,
der Geſandte in Karlsruhe, ſchrieb ſeinem alten Freunde Schele ſehr zärt-
lich, und der Hannoveraner dankte ihm für ſeine „Theilnahme an unſerer
guten und heiligen Sache“.*) Indeß König Wilhelm’s geſunder Verſtand
ließ ſich nicht irre machen; er ſagte zu du Thil halb ärgerlich: „Jeder iſt
ſich ſelbſt der Nächſte, ich kann nicht anders handeln,“ und nachdem er
ſeinen Entſchluß gefaßt, trat er ſehr nachdrücklich auf. Auch der König
von Sachſen wollte von dem Verfaſſungsbruche nichts hören; er reiſte
plötzlich nach Dalmatien, um nur nicht bei den preußiſchen Manövern
mit dem Welfen zuſammenzutreffen. Blittersdorff fühlte lebhaft, daß alle
Hambacher Reden den Regierungen nicht ſo viel ſchadeten wie die hannö-
verſche Sache, und ſprach dieſe Anſicht in einem Rundſchreiben an die
badiſchen Geſandtſchaften unzweideutig aus. Zur Strafe bekam der badiſche
Geſandte Frankenberg „einen Tatzenſchlag“ des Welfen zu fühlen; von
Berlin herübergekommen mußte er in Hannover mehrere Tage warten,
bis man ihn zur Antrittsaudienz zuließ.**) Auch du Thil konnte ſich, wie
gründlich er auch die liberalen Profeſſoren verabſcheute, doch nicht geradezu
für den Staatsſtreich erklären. Alſo waren die Staaten, welche den Zoll-
verein ſtützten, im Weſentlichen einig, und wenn Preußen die Bundes-
politik der Hofburg und der Welfen ebenſo entſchloſſen zu bekämpfen

*) Bismarck an Schele, 22. Jan.; Antwort 29. Jan. 1838.
**) Blittersdorff, Weiſungen an Frankenberg, Januar 1838; Frankenberg’s Bericht,
1. März 1838.
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[676/0690] IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich. Ueberall wo Kammern tagten, in Caſſel, Dresden, Darmſtadt, Stuttgart, Braunſchweig, bekundeten ſie ihre Entrüſtung über den Staatsſtreich; beſon- deres Aufſehen erregte eine Rede des Darmſtädter Abgeordneten Glaubrech, der treffend ausführte: wenn Ernſt Auguſt die Landesverfaſſung aufheben dürfe, dann könne er ſich auch vom Deutſchen Bunde ungeſtraft losſagen. Zwei Jahre hindurch ſpielten dieſe hannöverſchen Verhandlungen in den deutſchen Landtagen eine ähnliche Rolle wie die Polendebatten in den Pariſer Kammern. Unmittelbar bewirkten ſie nichts; die Reden des ſächſiſchen Landtags gab ein Patriot heraus mit dem ſtolzen Vorwort: „Sachſen iſt nicht zurückgeblieben, aus den Sälen der Volksvertreter tönen weithin durch Deutſchlands Gauen die Rieſenklänge innigen, tiefen Mitgefühls.“ Immerhin ertönten die Rieſenklänge ſo ſtark, daß die conſtitutionellen Fürſten kaum noch eine Wahl hatten. Mit Ausnahme des heſſiſchen Kur- prinzen und des Braunſchweiger Welfen gelangten ſie alle zu der Einſicht, daß dieſer Skandal nicht zu dulden ſei. König Ludwig ſchwankte keinen Augenblick. Wie ſtark ſich auch ſeine politiſchen Anſichten geändert hatten, über die Unverbrüchlichkeit der Staatsgrundgeſetze dachte er noch ganz ſo wie einſt als Kronprinz. Gerade weil es ihm ſelber jetzt hart ankam ſeine wenig geliebte Landesverfaſſung zu halten, verlangte er auch von ſeinen fürſtlichen Genoſſen die gleiche Selbſtüberwindung. Unter den württem- bergiſchen Staatsmännern waren die Anſichten getheilt. Graf Bismarck, der Geſandte in Karlsruhe, ſchrieb ſeinem alten Freunde Schele ſehr zärt- lich, und der Hannoveraner dankte ihm für ſeine „Theilnahme an unſerer guten und heiligen Sache“. *) Indeß König Wilhelm’s geſunder Verſtand ließ ſich nicht irre machen; er ſagte zu du Thil halb ärgerlich: „Jeder iſt ſich ſelbſt der Nächſte, ich kann nicht anders handeln,“ und nachdem er ſeinen Entſchluß gefaßt, trat er ſehr nachdrücklich auf. Auch der König von Sachſen wollte von dem Verfaſſungsbruche nichts hören; er reiſte plötzlich nach Dalmatien, um nur nicht bei den preußiſchen Manövern mit dem Welfen zuſammenzutreffen. Blittersdorff fühlte lebhaft, daß alle Hambacher Reden den Regierungen nicht ſo viel ſchadeten wie die hannö- verſche Sache, und ſprach dieſe Anſicht in einem Rundſchreiben an die badiſchen Geſandtſchaften unzweideutig aus. Zur Strafe bekam der badiſche Geſandte Frankenberg „einen Tatzenſchlag“ des Welfen zu fühlen; von Berlin herübergekommen mußte er in Hannover mehrere Tage warten, bis man ihn zur Antrittsaudienz zuließ. **) Auch du Thil konnte ſich, wie gründlich er auch die liberalen Profeſſoren verabſcheute, doch nicht geradezu für den Staatsſtreich erklären. Alſo waren die Staaten, welche den Zoll- verein ſtützten, im Weſentlichen einig, und wenn Preußen die Bundes- politik der Hofburg und der Welfen ebenſo entſchloſſen zu bekämpfen *) Bismarck an Schele, 22. Jan.; Antwort 29. Jan. 1838. **) Blittersdorff, Weiſungen an Frankenberg, Januar 1838; Frankenberg’s Bericht, 1. März 1838.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 676. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/690>, abgerufen am 24.11.2024.