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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Mazzini in der Schweiz.
burschen in Paris und der Schweiz ging nach und nach in das Lager des
extremen Radicalismus über. Ein solcher Umschwung ließ sich nur durch
das sociale Unbehagen erklären, da politische Sorgen diese Volksschichten
wenig bekümmern. Handwerksgesellen bildeten den Stamm des Jungen
Deutschlands, das sich im Jahre 1834 mit Mazzini's Jungem Europa
förmlich verbrüderte und den Wahlspruch führte: Freiheit, Gleichheit, Huma-
nität. Mazzini selbst stand freilich auf einer Höhe, welche die Blicke der
kleinen Leute kaum erreichen konnten. Sein leitender Gedanke war die
Idee der Nationalität, und weil er diese lebendige Macht des neuen Jahr-
hunderts mit Leidenschaft ergriff, darum wirkte er tiefer, dauerhafter als
alle anderen Demagogen des Zeitalters. Er sagte sich feierlich los von
dem Weltbürgerthum der alten Carbonari und ihrer Pariser Hohen Venta.
In der Schrift Foi et Avenir, die er zur Antwort auf die französischen
Septembergesetze (1835) erscheinen ließ, verherrlichte er zwar den Aufruhr,
den Kampf bis aufs Messer wider die bestehenden Gewalten, den Bund
der Unterdrückten gegen die Unterdrücker; aber nicht die Menschenrechte
der Jacobiner sollten den Bürger begeistern, sondern der Gedanke der
Pflicht, der Hingebung, des Martyriums für das Vaterland; nicht die
individualistische Demokratie von 1789 sollte die Freiheit verwirklichen,
sondern ein sociales Regiment, das jede Menschenkraft in den Dienst des
Volkes, des Königs der Zukunft zwinge. Die französische Revolution er-
drückt uns, so rief er aus, wir äffen bisher nur dem Gebahren unserer
Väter nach und müssen uns als religiöse Partei wieder erheben; "wir
glauben an die heilige Allianz der Völker, wir glauben an die Freiheit
und Gleichheit der Völker, wir glauben an die Nationalität, das Gewissen
der Völker, wir glauben an das heilige Vaterland. Glauben und That!
Uns gehört die Zukunft!" Dies mystische Evangelium der Verbrüderung
gleichberechtigter Völker drang in mannichfachen Bearbeitungen weithin
durch die Welt und entflammte nicht blos die Italiener, sondern auch die
unfertigen Nationen des Ostens, Magyaren, Czechen, Serben, Rumänier.

Als Mittel zum Zweck hieß Mazzini jede Aufwiegelung willkommen;
er hatte nichts dawider, wenn die Gebildeten unter den deutschen Flücht-
lingen, die sich in Biel und Zürich zusammenfanden, ihre Landsleute aus
dem Handwerkerstande durch rohe Brandschriften bearbeiteten. Es waren
meist alte Burschenschafter aus der Schule der Unbedingten: der Göttinger
Rauschenplatt, der Frankfurter Sauerwein, dann der Braunschweiger Fein
und der Hesse Karl Becker, Beide berühmt als cynische Weltweise, denen
das Waschbecken und die Seife ebenso verächtlich schienen wie das Hals-
tuch und die Weste. Auch der Bundestagsdieb Gustav Kombst fand sich
ein und erklärte, ganz im Geiste Follen's: wir Revolutionäre benutzen jedes
Mittel, was unserer Ueberzeugung nicht widerspricht. In diesen Kreisen
entstand eine Zeitschrift "das Nordlicht", deren Sprache an Deutlichkeit
nichts zu wünschen übrig ließ: "Ihr Arbeiter, Handwerker und Bauern,

Mazzini in der Schweiz.
burſchen in Paris und der Schweiz ging nach und nach in das Lager des
extremen Radicalismus über. Ein ſolcher Umſchwung ließ ſich nur durch
das ſociale Unbehagen erklären, da politiſche Sorgen dieſe Volksſchichten
wenig bekümmern. Handwerksgeſellen bildeten den Stamm des Jungen
Deutſchlands, das ſich im Jahre 1834 mit Mazzini’s Jungem Europa
förmlich verbrüderte und den Wahlſpruch führte: Freiheit, Gleichheit, Huma-
nität. Mazzini ſelbſt ſtand freilich auf einer Höhe, welche die Blicke der
kleinen Leute kaum erreichen konnten. Sein leitender Gedanke war die
Idee der Nationalität, und weil er dieſe lebendige Macht des neuen Jahr-
hunderts mit Leidenſchaft ergriff, darum wirkte er tiefer, dauerhafter als
alle anderen Demagogen des Zeitalters. Er ſagte ſich feierlich los von
dem Weltbürgerthum der alten Carbonari und ihrer Pariſer Hohen Venta.
In der Schrift Foi et Avenir, die er zur Antwort auf die franzöſiſchen
Septembergeſetze (1835) erſcheinen ließ, verherrlichte er zwar den Aufruhr,
den Kampf bis aufs Meſſer wider die beſtehenden Gewalten, den Bund
der Unterdrückten gegen die Unterdrücker; aber nicht die Menſchenrechte
der Jacobiner ſollten den Bürger begeiſtern, ſondern der Gedanke der
Pflicht, der Hingebung, des Martyriums für das Vaterland; nicht die
individualiſtiſche Demokratie von 1789 ſollte die Freiheit verwirklichen,
ſondern ein ſociales Regiment, das jede Menſchenkraft in den Dienſt des
Volkes, des Königs der Zukunft zwinge. Die franzöſiſche Revolution er-
drückt uns, ſo rief er aus, wir äffen bisher nur dem Gebahren unſerer
Väter nach und müſſen uns als religiöſe Partei wieder erheben; „wir
glauben an die heilige Allianz der Völker, wir glauben an die Freiheit
und Gleichheit der Völker, wir glauben an die Nationalität, das Gewiſſen
der Völker, wir glauben an das heilige Vaterland. Glauben und That!
Uns gehört die Zukunft!“ Dies myſtiſche Evangelium der Verbrüderung
gleichberechtigter Völker drang in mannichfachen Bearbeitungen weithin
durch die Welt und entflammte nicht blos die Italiener, ſondern auch die
unfertigen Nationen des Oſtens, Magyaren, Czechen, Serben, Rumänier.

Als Mittel zum Zweck hieß Mazzini jede Aufwiegelung willkommen;
er hatte nichts dawider, wenn die Gebildeten unter den deutſchen Flücht-
lingen, die ſich in Biel und Zürich zuſammenfanden, ihre Landsleute aus
dem Handwerkerſtande durch rohe Brandſchriften bearbeiteten. Es waren
meiſt alte Burſchenſchafter aus der Schule der Unbedingten: der Göttinger
Rauſchenplatt, der Frankfurter Sauerwein, dann der Braunſchweiger Fein
und der Heſſe Karl Becker, Beide berühmt als cyniſche Weltweiſe, denen
das Waſchbecken und die Seife ebenſo verächtlich ſchienen wie das Hals-
tuch und die Weſte. Auch der Bundestagsdieb Guſtav Kombſt fand ſich
ein und erklärte, ganz im Geiſte Follen’s: wir Revolutionäre benutzen jedes
Mittel, was unſerer Ueberzeugung nicht widerſpricht. In dieſen Kreiſen
entſtand eine Zeitſchrift „das Nordlicht“, deren Sprache an Deutlichkeit
nichts zu wünſchen übrig ließ: „Ihr Arbeiter, Handwerker und Bauern,

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[601/0615] Mazzini in der Schweiz. burſchen in Paris und der Schweiz ging nach und nach in das Lager des extremen Radicalismus über. Ein ſolcher Umſchwung ließ ſich nur durch das ſociale Unbehagen erklären, da politiſche Sorgen dieſe Volksſchichten wenig bekümmern. Handwerksgeſellen bildeten den Stamm des Jungen Deutſchlands, das ſich im Jahre 1834 mit Mazzini’s Jungem Europa förmlich verbrüderte und den Wahlſpruch führte: Freiheit, Gleichheit, Huma- nität. Mazzini ſelbſt ſtand freilich auf einer Höhe, welche die Blicke der kleinen Leute kaum erreichen konnten. Sein leitender Gedanke war die Idee der Nationalität, und weil er dieſe lebendige Macht des neuen Jahr- hunderts mit Leidenſchaft ergriff, darum wirkte er tiefer, dauerhafter als alle anderen Demagogen des Zeitalters. Er ſagte ſich feierlich los von dem Weltbürgerthum der alten Carbonari und ihrer Pariſer Hohen Venta. In der Schrift Foi et Avenir, die er zur Antwort auf die franzöſiſchen Septembergeſetze (1835) erſcheinen ließ, verherrlichte er zwar den Aufruhr, den Kampf bis aufs Meſſer wider die beſtehenden Gewalten, den Bund der Unterdrückten gegen die Unterdrücker; aber nicht die Menſchenrechte der Jacobiner ſollten den Bürger begeiſtern, ſondern der Gedanke der Pflicht, der Hingebung, des Martyriums für das Vaterland; nicht die individualiſtiſche Demokratie von 1789 ſollte die Freiheit verwirklichen, ſondern ein ſociales Regiment, das jede Menſchenkraft in den Dienſt des Volkes, des Königs der Zukunft zwinge. Die franzöſiſche Revolution er- drückt uns, ſo rief er aus, wir äffen bisher nur dem Gebahren unſerer Väter nach und müſſen uns als religiöſe Partei wieder erheben; „wir glauben an die heilige Allianz der Völker, wir glauben an die Freiheit und Gleichheit der Völker, wir glauben an die Nationalität, das Gewiſſen der Völker, wir glauben an das heilige Vaterland. Glauben und That! Uns gehört die Zukunft!“ Dies myſtiſche Evangelium der Verbrüderung gleichberechtigter Völker drang in mannichfachen Bearbeitungen weithin durch die Welt und entflammte nicht blos die Italiener, ſondern auch die unfertigen Nationen des Oſtens, Magyaren, Czechen, Serben, Rumänier. Als Mittel zum Zweck hieß Mazzini jede Aufwiegelung willkommen; er hatte nichts dawider, wenn die Gebildeten unter den deutſchen Flücht- lingen, die ſich in Biel und Zürich zuſammenfanden, ihre Landsleute aus dem Handwerkerſtande durch rohe Brandſchriften bearbeiteten. Es waren meiſt alte Burſchenſchafter aus der Schule der Unbedingten: der Göttinger Rauſchenplatt, der Frankfurter Sauerwein, dann der Braunſchweiger Fein und der Heſſe Karl Becker, Beide berühmt als cyniſche Weltweiſe, denen das Waſchbecken und die Seife ebenſo verächtlich ſchienen wie das Hals- tuch und die Weſte. Auch der Bundestagsdieb Guſtav Kombſt fand ſich ein und erklärte, ganz im Geiſte Follen’s: wir Revolutionäre benutzen jedes Mittel, was unſerer Ueberzeugung nicht widerſpricht. In dieſen Kreiſen entſtand eine Zeitſchrift „das Nordlicht“, deren Sprache an Deutlichkeit nichts zu wünſchen übrig ließ: „Ihr Arbeiter, Handwerker und Bauern,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/615>, abgerufen am 27.04.2024.