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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
schlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien." Solche Schlag-
worte der Feuilletons waren freilich nur Pariser Reminiscenzen; sie ver-
riethen mehr den ästhetischen Widerwillen gegen die Prosa des Bürgerthums
als eine durchgebildete Ueberzeugung. Zum entschiedenen Socialismus
bekannte sich unter den Schriftstellern des Jungen Deutschlands nur Einer:
Georg Büchner.

Das Verständniß für den Ernst der socialen Frage war unter den
Gebildeten noch kaum erwacht; wie ein Träumer wurde der junge Refe-
rendar Schultze aus Delitzsch von seinen Amtsgenossen in Naumburg an-
gesehen, wenn er ihnen seine stark socialistisch gefärbten Ansichten über die
Zukunft des Arbeiterstandes vortrug. Wer aber in die Tiefen der Lite-
ratur niederblickte, konnte nicht verkennen, daß es zu Ende ging mit dem
friedlichen Stillleben der arbeitenden Massen; denn allezeit lassen sich die
Wandlungen des socialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schrift-
steller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am sichersten
errathen. Bisher hatten die Schriftsteller der Leihbibliotheken den Unter-
schied der Stände wenig beachtet; nur die Mißheirath, der natürliche Lieb-
ling aller Putzmacherinnen und Ladenfräulein, bot allezeit einen willkom-
menen Romanstoff. Wie anders jetzt. Nichts harmloser als die beliebten,
fromm gemüthlichen Jugendschriften des Dresdener Schullehrers Gustav
Nieritz; und doch, welch ein tiefer socialer Groll verbarg sich darin: die
armen Steindreher und Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges vertraten
überall die mißhandelte Tugend, die Edelleute und Fabrikanten das hart-
herzige Laster, und fast schien es, als ob Reichthum eine Sünde wäre.
So spiegelte sich das Leben in den Augen der bedrückten kleinen Leute.
Derber und trotziger redete Adolf Glasbrenner in seinen Flugblättern:
"Berlin wie es ist -- und trinkt", ein fröhlicher Gesell, dem man gleich
ansah, daß er wirklich mit Spreewasser getauft war und nicht wie einst
Saphir seine Berliner Witze erkünstelte. Da tauschten der Eckensteher
Nante, die Droschkenkutscher, die Budiker, die Dienstmädchen ihre Gedanken
über Welt und Zeit aus; die Politik berührten sie selten, aber allen Wider-
sprüchen und Lächerlichkeiten des socialen Lebens gingen sie mit ihren
scharfen Zungen zu Leibe, dreist, vorlaut, aufgeklärt, immer feste auf die
Weste, immer in der stolzen Zuversicht, daß der richtige Berliner Alles
macht was gemacht werden kann. Der Witz ist jederzeit demokratisch, weil
er Alles gleich stellt. Das erstarkende Selbstgefühl der Massen sprach aus
diesen Berliner Sittenbildern ebenso vernehmlich wie einst aus dem Eulen-
spiegel und den Grobiansschriften des Zeitalters der Reformation.

Noch blieb der sociale Friede überall ungestört; nur die Pforzheimer
Goldarbeiter wagten einmal (1839) wegen Verlängerung der Arbeitszeit
einen Aufruhr, den die Truppen niederschlagen mußten. Was sich aber
von langer Hand her vorbereitete, das lehrte die Haltung der deutschen
Arbeiter im Auslande. Die große Mehrzahl der deutschen Handwerks-

IV. 8. Stille Jahre.
ſchlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien.“ Solche Schlag-
worte der Feuilletons waren freilich nur Pariſer Reminiscenzen; ſie ver-
riethen mehr den äſthetiſchen Widerwillen gegen die Proſa des Bürgerthums
als eine durchgebildete Ueberzeugung. Zum entſchiedenen Socialismus
bekannte ſich unter den Schriftſtellern des Jungen Deutſchlands nur Einer:
Georg Büchner.

Das Verſtändniß für den Ernſt der ſocialen Frage war unter den
Gebildeten noch kaum erwacht; wie ein Träumer wurde der junge Refe-
rendar Schultze aus Delitzſch von ſeinen Amtsgenoſſen in Naumburg an-
geſehen, wenn er ihnen ſeine ſtark ſocialiſtiſch gefärbten Anſichten über die
Zukunft des Arbeiterſtandes vortrug. Wer aber in die Tiefen der Lite-
ratur niederblickte, konnte nicht verkennen, daß es zu Ende ging mit dem
friedlichen Stillleben der arbeitenden Maſſen; denn allezeit laſſen ſich die
Wandlungen des ſocialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schrift-
ſteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am ſicherſten
errathen. Bisher hatten die Schriftſteller der Leihbibliotheken den Unter-
ſchied der Stände wenig beachtet; nur die Mißheirath, der natürliche Lieb-
ling aller Putzmacherinnen und Ladenfräulein, bot allezeit einen willkom-
menen Romanſtoff. Wie anders jetzt. Nichts harmloſer als die beliebten,
fromm gemüthlichen Jugendſchriften des Dresdener Schullehrers Guſtav
Nieritz; und doch, welch ein tiefer ſocialer Groll verbarg ſich darin: die
armen Steindreher und Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges vertraten
überall die mißhandelte Tugend, die Edelleute und Fabrikanten das hart-
herzige Laſter, und faſt ſchien es, als ob Reichthum eine Sünde wäre.
So ſpiegelte ſich das Leben in den Augen der bedrückten kleinen Leute.
Derber und trotziger redete Adolf Glasbrenner in ſeinen Flugblättern:
„Berlin wie es iſt — und trinkt“, ein fröhlicher Geſell, dem man gleich
anſah, daß er wirklich mit Spreewaſſer getauft war und nicht wie einſt
Saphir ſeine Berliner Witze erkünſtelte. Da tauſchten der Eckenſteher
Nante, die Droſchkenkutſcher, die Budiker, die Dienſtmädchen ihre Gedanken
über Welt und Zeit aus; die Politik berührten ſie ſelten, aber allen Wider-
ſprüchen und Lächerlichkeiten des ſocialen Lebens gingen ſie mit ihren
ſcharfen Zungen zu Leibe, dreiſt, vorlaut, aufgeklärt, immer feſte auf die
Weſte, immer in der ſtolzen Zuverſicht, daß der richtige Berliner Alles
macht was gemacht werden kann. Der Witz iſt jederzeit demokratiſch, weil
er Alles gleich ſtellt. Das erſtarkende Selbſtgefühl der Maſſen ſprach aus
dieſen Berliner Sittenbildern ebenſo vernehmlich wie einſt aus dem Eulen-
ſpiegel und den Grobiansſchriften des Zeitalters der Reformation.

Noch blieb der ſociale Friede überall ungeſtört; nur die Pforzheimer
Goldarbeiter wagten einmal (1839) wegen Verlängerung der Arbeitszeit
einen Aufruhr, den die Truppen niederſchlagen mußten. Was ſich aber
von langer Hand her vorbereitete, das lehrte die Haltung der deutſchen
Arbeiter im Auslande. Die große Mehrzahl der deutſchen Handwerks-

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[600/0614] IV. 8. Stille Jahre. ſchlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien.“ Solche Schlag- worte der Feuilletons waren freilich nur Pariſer Reminiscenzen; ſie ver- riethen mehr den äſthetiſchen Widerwillen gegen die Proſa des Bürgerthums als eine durchgebildete Ueberzeugung. Zum entſchiedenen Socialismus bekannte ſich unter den Schriftſtellern des Jungen Deutſchlands nur Einer: Georg Büchner. Das Verſtändniß für den Ernſt der ſocialen Frage war unter den Gebildeten noch kaum erwacht; wie ein Träumer wurde der junge Refe- rendar Schultze aus Delitzſch von ſeinen Amtsgenoſſen in Naumburg an- geſehen, wenn er ihnen ſeine ſtark ſocialiſtiſch gefärbten Anſichten über die Zukunft des Arbeiterſtandes vortrug. Wer aber in die Tiefen der Lite- ratur niederblickte, konnte nicht verkennen, daß es zu Ende ging mit dem friedlichen Stillleben der arbeitenden Maſſen; denn allezeit laſſen ſich die Wandlungen des ſocialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schrift- ſteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am ſicherſten errathen. Bisher hatten die Schriftſteller der Leihbibliotheken den Unter- ſchied der Stände wenig beachtet; nur die Mißheirath, der natürliche Lieb- ling aller Putzmacherinnen und Ladenfräulein, bot allezeit einen willkom- menen Romanſtoff. Wie anders jetzt. Nichts harmloſer als die beliebten, fromm gemüthlichen Jugendſchriften des Dresdener Schullehrers Guſtav Nieritz; und doch, welch ein tiefer ſocialer Groll verbarg ſich darin: die armen Steindreher und Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges vertraten überall die mißhandelte Tugend, die Edelleute und Fabrikanten das hart- herzige Laſter, und faſt ſchien es, als ob Reichthum eine Sünde wäre. So ſpiegelte ſich das Leben in den Augen der bedrückten kleinen Leute. Derber und trotziger redete Adolf Glasbrenner in ſeinen Flugblättern: „Berlin wie es iſt — und trinkt“, ein fröhlicher Geſell, dem man gleich anſah, daß er wirklich mit Spreewaſſer getauft war und nicht wie einſt Saphir ſeine Berliner Witze erkünſtelte. Da tauſchten der Eckenſteher Nante, die Droſchkenkutſcher, die Budiker, die Dienſtmädchen ihre Gedanken über Welt und Zeit aus; die Politik berührten ſie ſelten, aber allen Wider- ſprüchen und Lächerlichkeiten des ſocialen Lebens gingen ſie mit ihren ſcharfen Zungen zu Leibe, dreiſt, vorlaut, aufgeklärt, immer feſte auf die Weſte, immer in der ſtolzen Zuverſicht, daß der richtige Berliner Alles macht was gemacht werden kann. Der Witz iſt jederzeit demokratiſch, weil er Alles gleich ſtellt. Das erſtarkende Selbſtgefühl der Maſſen ſprach aus dieſen Berliner Sittenbildern ebenſo vernehmlich wie einſt aus dem Eulen- ſpiegel und den Grobiansſchriften des Zeitalters der Reformation. Noch blieb der ſociale Friede überall ungeſtört; nur die Pforzheimer Goldarbeiter wagten einmal (1839) wegen Verlängerung der Arbeitszeit einen Aufruhr, den die Truppen niederſchlagen mußten. Was ſich aber von langer Hand her vorbereitete, das lehrte die Haltung der deutſchen Arbeiter im Auslande. Die große Mehrzahl der deutſchen Handwerks-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/614>, abgerufen am 24.11.2024.