der Arbeiter galt für ein unwandelbares Naturgesetz, von Pflichten der Arbeitgeber war kaum die Rede.
Auch die Staatsgewalt, die in Preußen so oft schon durch ihre zwin- gende Gerechtigkeit sociale Mißverhältnisse ausgeglichen hatte, beachtete diese neuen Zustände noch wenig; denn überall lebt der Staat langsamer als die Gesellschaft, er vermag ihren Wandlungen nur zu folgen. Was die Regierung durch ihre Schutzzölle, ihre technischen Lehranstalten, durch die Darlehen der Bank und der Seehandlung für den Gewerbfleiß that, kam unmittelbar fast allein den Unternehmern zu gute. Zumal die Noth der Hausindustrie in den Hungergebirgen Mitteldeutschlands blieb den Blicken der Behörden noch beinah ganz verborgen. Dort war das Elend schon sehr groß, tausende fleißiger Menschen litten unter den unberechenbaren Preis- schwankungen des Weltmarktes; in den armen Weberdörfern am Landes- huter Kamme ließ sich schon bemerken, wie die durchschnittliche Lebens- dauer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnahm. Alle diese socialen Gefahren waren erst im Werden; selbst in Englands unvergleichlich höher entwickelter Industrie gelangten die Arbeiter erst nach dem Siege der Reformbill auf den Gedanken, eine eigene Arbeiterpartei zu bilden. Doch unverkennbar nahte die Zeit heran, da die arbeitenden Massen durch den Druck un- verschuldeter Noth zum Selbstbewußtsein erwachen, ganz neue Ansprüche an Staat und Gesellschaft erheben mußten.
Einer der Ersten, welche diesen Wandel der Dinge erkannten, war der an guten Einfällen allezeit reiche Philosoph Franz v. Baader in München. Er veröffentlichte schon im Jahre 1835 eine Flugschrift über "das Miß- verhältniß der Vermögenslosen oder Proletairs" -- so sagte er mit einem bezeichnenden Fremdwort, denn seine besten Gedanken schöpfte er aus der Beobachtung der reicheren Volkswirthschaft Westeuropas. Er sah vor- aus, daß die socialen Fragen für die moderne Welt bald noch mehr be- deuten würden als die politischen, und verlangte, der Staat müsse die Verhältnisse der Arbeiter ordnen, nicht aus Wohlthätigkeit oder polizeilicher Vorsicht, sondern um des Rechtes willen; als die berufenen Vertreter des Arbeiterstandes betrachtete er freilich, nach seiner katholischen Weltanschauung, die Priester. Mittlerweile drangen auch die Ideen des französischen Socia- lismus langsam nach Deutschland hinüber. Wie Heine eine Zeit lang mit dem Vater Enfantin zusammenging, so schrieb Börne Beiträge für Raspail's socialistische Zeitschrift Le Reformateur. Den anderen Jung- deutschen mußte die bestehende Eigenthumsordnung schon darum wider- wärtig erscheinen, weil sie die Ehe bekämpften und überall Tisch und Bett zusammengehören; war doch bereits ihr Liebling Heinse in seinem Ardin- ghello zu dem Ideale der Güter- und Weibergemeinschaft gelangt. Wien- barg namentlich erging sich gern im Preise der "heiligen Armuth" und verdammte die Aristokratie des Reichthums fast noch härter als den Ge- burtsadel: "Alle Rosen der Welt werden die Beute eines windigen Ge-
Das Proletariat.
der Arbeiter galt für ein unwandelbares Naturgeſetz, von Pflichten der Arbeitgeber war kaum die Rede.
Auch die Staatsgewalt, die in Preußen ſo oft ſchon durch ihre zwin- gende Gerechtigkeit ſociale Mißverhältniſſe ausgeglichen hatte, beachtete dieſe neuen Zuſtände noch wenig; denn überall lebt der Staat langſamer als die Geſellſchaft, er vermag ihren Wandlungen nur zu folgen. Was die Regierung durch ihre Schutzzölle, ihre techniſchen Lehranſtalten, durch die Darlehen der Bank und der Seehandlung für den Gewerbfleiß that, kam unmittelbar faſt allein den Unternehmern zu gute. Zumal die Noth der Hausinduſtrie in den Hungergebirgen Mitteldeutſchlands blieb den Blicken der Behörden noch beinah ganz verborgen. Dort war das Elend ſchon ſehr groß, tauſende fleißiger Menſchen litten unter den unberechenbaren Preis- ſchwankungen des Weltmarktes; in den armen Weberdörfern am Landes- huter Kamme ließ ſich ſchon bemerken, wie die durchſchnittliche Lebens- dauer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnahm. Alle dieſe ſocialen Gefahren waren erſt im Werden; ſelbſt in Englands unvergleichlich höher entwickelter Induſtrie gelangten die Arbeiter erſt nach dem Siege der Reformbill auf den Gedanken, eine eigene Arbeiterpartei zu bilden. Doch unverkennbar nahte die Zeit heran, da die arbeitenden Maſſen durch den Druck un- verſchuldeter Noth zum Selbſtbewußtſein erwachen, ganz neue Anſprüche an Staat und Geſellſchaft erheben mußten.
Einer der Erſten, welche dieſen Wandel der Dinge erkannten, war der an guten Einfällen allezeit reiche Philoſoph Franz v. Baader in München. Er veröffentlichte ſchon im Jahre 1835 eine Flugſchrift über „das Miß- verhältniß der Vermögensloſen oder Proletairs“ — ſo ſagte er mit einem bezeichnenden Fremdwort, denn ſeine beſten Gedanken ſchöpfte er aus der Beobachtung der reicheren Volkswirthſchaft Weſteuropas. Er ſah vor- aus, daß die ſocialen Fragen für die moderne Welt bald noch mehr be- deuten würden als die politiſchen, und verlangte, der Staat müſſe die Verhältniſſe der Arbeiter ordnen, nicht aus Wohlthätigkeit oder polizeilicher Vorſicht, ſondern um des Rechtes willen; als die berufenen Vertreter des Arbeiterſtandes betrachtete er freilich, nach ſeiner katholiſchen Weltanſchauung, die Prieſter. Mittlerweile drangen auch die Ideen des franzöſiſchen Socia- lismus langſam nach Deutſchland hinüber. Wie Heine eine Zeit lang mit dem Vater Enfantin zuſammenging, ſo ſchrieb Börne Beiträge für Raspail’s ſocialiſtiſche Zeitſchrift Le Réformateur. Den anderen Jung- deutſchen mußte die beſtehende Eigenthumsordnung ſchon darum wider- wärtig erſcheinen, weil ſie die Ehe bekämpften und überall Tiſch und Bett zuſammengehören; war doch bereits ihr Liebling Heinſe in ſeinem Ardin- ghello zu dem Ideale der Güter- und Weibergemeinſchaft gelangt. Wien- barg namentlich erging ſich gern im Preiſe der „heiligen Armuth“ und verdammte die Ariſtokratie des Reichthums faſt noch härter als den Ge- burtsadel: „Alle Roſen der Welt werden die Beute eines windigen Ge-
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Das Proletariat.
der Arbeiter galt für ein unwandelbares Naturgeſetz, von Pflichten der
Arbeitgeber war kaum die Rede.
Auch die Staatsgewalt, die in Preußen ſo oft ſchon durch ihre zwin-
gende Gerechtigkeit ſociale Mißverhältniſſe ausgeglichen hatte, beachtete dieſe
neuen Zuſtände noch wenig; denn überall lebt der Staat langſamer als
die Geſellſchaft, er vermag ihren Wandlungen nur zu folgen. Was die
Regierung durch ihre Schutzzölle, ihre techniſchen Lehranſtalten, durch die
Darlehen der Bank und der Seehandlung für den Gewerbfleiß that, kam
unmittelbar faſt allein den Unternehmern zu gute. Zumal die Noth der
Hausinduſtrie in den Hungergebirgen Mitteldeutſchlands blieb den Blicken
der Behörden noch beinah ganz verborgen. Dort war das Elend ſchon ſehr
groß, tauſende fleißiger Menſchen litten unter den unberechenbaren Preis-
ſchwankungen des Weltmarktes; in den armen Weberdörfern am Landes-
huter Kamme ließ ſich ſchon bemerken, wie die durchſchnittliche Lebens-
dauer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnahm. Alle dieſe ſocialen Gefahren
waren erſt im Werden; ſelbſt in Englands unvergleichlich höher entwickelter
Induſtrie gelangten die Arbeiter erſt nach dem Siege der Reformbill auf
den Gedanken, eine eigene Arbeiterpartei zu bilden. Doch unverkennbar
nahte die Zeit heran, da die arbeitenden Maſſen durch den Druck un-
verſchuldeter Noth zum Selbſtbewußtſein erwachen, ganz neue Anſprüche
an Staat und Geſellſchaft erheben mußten.
Einer der Erſten, welche dieſen Wandel der Dinge erkannten, war
der an guten Einfällen allezeit reiche Philoſoph Franz v. Baader in München.
Er veröffentlichte ſchon im Jahre 1835 eine Flugſchrift über „das Miß-
verhältniß der Vermögensloſen oder Proletairs“ — ſo ſagte er mit einem
bezeichnenden Fremdwort, denn ſeine beſten Gedanken ſchöpfte er aus der
Beobachtung der reicheren Volkswirthſchaft Weſteuropas. Er ſah vor-
aus, daß die ſocialen Fragen für die moderne Welt bald noch mehr be-
deuten würden als die politiſchen, und verlangte, der Staat müſſe die
Verhältniſſe der Arbeiter ordnen, nicht aus Wohlthätigkeit oder polizeilicher
Vorſicht, ſondern um des Rechtes willen; als die berufenen Vertreter des
Arbeiterſtandes betrachtete er freilich, nach ſeiner katholiſchen Weltanſchauung,
die Prieſter. Mittlerweile drangen auch die Ideen des franzöſiſchen Socia-
lismus langſam nach Deutſchland hinüber. Wie Heine eine Zeit lang
mit dem Vater Enfantin zuſammenging, ſo ſchrieb Börne Beiträge für
Raspail’s ſocialiſtiſche Zeitſchrift Le Réformateur. Den anderen Jung-
deutſchen mußte die beſtehende Eigenthumsordnung ſchon darum wider-
wärtig erſcheinen, weil ſie die Ehe bekämpften und überall Tiſch und Bett
zuſammengehören; war doch bereits ihr Liebling Heinſe in ſeinem Ardin-
ghello zu dem Ideale der Güter- und Weibergemeinſchaft gelangt. Wien-
barg namentlich erging ſich gern im Preiſe der „heiligen Armuth“ und
verdammte die Ariſtokratie des Reichthums faſt noch härter als den Ge-
burtsadel: „Alle Roſen der Welt werden die Beute eines windigen Ge-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/613>, abgerufen am 24.11.2024.
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