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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
hohem Selbstgefühl, aber geringer Bildung und noch geringerem Ver-
stande. Er hatte bei den Unruhen des Jahres 1833 mitgeholfen und trieb
sich jetzt unter den deutschen Handwerkern in Paris umher. In seinem
Buche "Preußen und das Preußenthum" (1839) erklärte er kurzab: "Der
Anti-Geist der Freiheit hat Preußen geschaffen. Preußen wird untergehen,
sobald das deutsche Volk erwacht. Alle Institutionen Preußens haben nur
einen Zweck, den, unter dem Scheine des Volkswohls, der Aufklärung, des
Fortschritts und der Freiheit, die Ausbeutung der Mehrzahl des Volks
durch eine bevorzugte Minderzahl, Verdummung, Rückschritt, Knechtssinn
und Knechtschaft zu begründen." Solchen Feinden gegenüber behielt der
geistreiche alte Geheimrath K. Streckfuß freilich Recht, als er in der Schrift
"über die Garantien der preußischen Zustände" mit dem ganzen Selbst-
gefühle des preußischen Beamten ausführte: dieser Staat der Gerechtig-
keit, der Bildung, der Ehrlichkeit und der kriegerischen Kraft brauche weder
mit Frankreich noch mit England den Vergleich zu scheuen. Er irrte
nur, wenn er zuversichtlich hinzufügte: "unsere Zustände sind durch sich
selbst und ihren inneren Zusammenhang vollkommen gesichert."

Unverkennbar nahte ein großer Umschwung langsam heran. Mit seiner
letzten großen That, mit der Schöpfung des Zollvereins war die Lebens-
kraft des alten Systems erschöpft. Es hielt sich nur noch, weil überall an
zweiter Stelle ausgezeichnete Kräfte thätig waren; aber ihm fehlte die feste
Leitung. Der König alterte sichtlich; was er noch an Thatkraft besaß,
ging völlig auf in den peinlichen diplomatischen Händeln um die Erhal-
tung des Weltfriedens. Seit dem Tode von Motz und Maassen saß im
Ministerium Niemand mehr, der den Namen eines Staatsmannes ver-
diente. Die Leitung des Staatsraths erhielt nach dem Tode des Herzogs
Karl General Müffling, der sein Amt ganz in dem hochconservativen Sinne
seines Vorgängers führte, aber wenig Einfluß gewann, da der Staatsrath
seine alte Macht verloren hatte. Der neue Minister des Innern v. Brenn
hatte sich als sächsischer Beamter und dann als Regierungspräsident vor-
trefflich bewährt; eigener Gedanken zeigte er so wenig, daß bald alle Par-
teien ihn für einen unfähigen Minister erklärten.*) Die Polizei überließ
er ganz dem berüchtigten Demagogenverfolger Geh. Rath Tzschoppe, und
seitdem begann auch im Beamtenthum selber ein widerwärtiges Spüren,
das allen guten altpreußischen Sitten widersprach: mancher Subalterne
suchte sich bei dem Minister lieb Kind zu machen, indem er die Gesin-
nung seiner Vorgesetzten anschwärzte.**) In dem Eckhause der Charlotten-
straße, wo Tzschoppe zwei Treppen hoch wohnte, fanden sich alle die
schroffen Gegensätze des Berliner Lebens freundnachbarlich beisammen.
Im Erdgeschosse arbeitete Gans bei offenem Fenster an seinem Stehpulte,

*) Herzog Karl v. Mecklenburg an Wittgenstein, 8. Juli 1831.
**) Nach Kühne's Aufzeichnungen.

IV. 8. Stille Jahre.
hohem Selbſtgefühl, aber geringer Bildung und noch geringerem Ver-
ſtande. Er hatte bei den Unruhen des Jahres 1833 mitgeholfen und trieb
ſich jetzt unter den deutſchen Handwerkern in Paris umher. In ſeinem
Buche „Preußen und das Preußenthum“ (1839) erklärte er kurzab: „Der
Anti-Geiſt der Freiheit hat Preußen geſchaffen. Preußen wird untergehen,
ſobald das deutſche Volk erwacht. Alle Inſtitutionen Preußens haben nur
einen Zweck, den, unter dem Scheine des Volkswohls, der Aufklärung, des
Fortſchritts und der Freiheit, die Ausbeutung der Mehrzahl des Volks
durch eine bevorzugte Minderzahl, Verdummung, Rückſchritt, Knechtsſinn
und Knechtſchaft zu begründen.“ Solchen Feinden gegenüber behielt der
geiſtreiche alte Geheimrath K. Streckfuß freilich Recht, als er in der Schrift
„über die Garantien der preußiſchen Zuſtände“ mit dem ganzen Selbſt-
gefühle des preußiſchen Beamten ausführte: dieſer Staat der Gerechtig-
keit, der Bildung, der Ehrlichkeit und der kriegeriſchen Kraft brauche weder
mit Frankreich noch mit England den Vergleich zu ſcheuen. Er irrte
nur, wenn er zuverſichtlich hinzufügte: „unſere Zuſtände ſind durch ſich
ſelbſt und ihren inneren Zuſammenhang vollkommen geſichert.“

Unverkennbar nahte ein großer Umſchwung langſam heran. Mit ſeiner
letzten großen That, mit der Schöpfung des Zollvereins war die Lebens-
kraft des alten Syſtems erſchöpft. Es hielt ſich nur noch, weil überall an
zweiter Stelle ausgezeichnete Kräfte thätig waren; aber ihm fehlte die feſte
Leitung. Der König alterte ſichtlich; was er noch an Thatkraft beſaß,
ging völlig auf in den peinlichen diplomatiſchen Händeln um die Erhal-
tung des Weltfriedens. Seit dem Tode von Motz und Maaſſen ſaß im
Miniſterium Niemand mehr, der den Namen eines Staatsmannes ver-
diente. Die Leitung des Staatsraths erhielt nach dem Tode des Herzogs
Karl General Müffling, der ſein Amt ganz in dem hochconſervativen Sinne
ſeines Vorgängers führte, aber wenig Einfluß gewann, da der Staatsrath
ſeine alte Macht verloren hatte. Der neue Miniſter des Innern v. Brenn
hatte ſich als ſächſiſcher Beamter und dann als Regierungspräſident vor-
trefflich bewährt; eigener Gedanken zeigte er ſo wenig, daß bald alle Par-
teien ihn für einen unfähigen Miniſter erklärten.*) Die Polizei überließ
er ganz dem berüchtigten Demagogenverfolger Geh. Rath Tzſchoppe, und
ſeitdem begann auch im Beamtenthum ſelber ein widerwärtiges Spüren,
das allen guten altpreußiſchen Sitten widerſprach: mancher Subalterne
ſuchte ſich bei dem Miniſter lieb Kind zu machen, indem er die Geſin-
nung ſeiner Vorgeſetzten anſchwärzte.**) In dem Eckhauſe der Charlotten-
ſtraße, wo Tzſchoppe zwei Treppen hoch wohnte, fanden ſich alle die
ſchroffen Gegenſätze des Berliner Lebens freundnachbarlich beiſammen.
Im Erdgeſchoſſe arbeitete Gans bei offenem Fenſter an ſeinem Stehpulte,

*) Herzog Karl v. Mecklenburg an Wittgenſtein, 8. Juli 1831.
**) Nach Kühne’s Aufzeichnungen.
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[542/0556] IV. 8. Stille Jahre. hohem Selbſtgefühl, aber geringer Bildung und noch geringerem Ver- ſtande. Er hatte bei den Unruhen des Jahres 1833 mitgeholfen und trieb ſich jetzt unter den deutſchen Handwerkern in Paris umher. In ſeinem Buche „Preußen und das Preußenthum“ (1839) erklärte er kurzab: „Der Anti-Geiſt der Freiheit hat Preußen geſchaffen. Preußen wird untergehen, ſobald das deutſche Volk erwacht. Alle Inſtitutionen Preußens haben nur einen Zweck, den, unter dem Scheine des Volkswohls, der Aufklärung, des Fortſchritts und der Freiheit, die Ausbeutung der Mehrzahl des Volks durch eine bevorzugte Minderzahl, Verdummung, Rückſchritt, Knechtsſinn und Knechtſchaft zu begründen.“ Solchen Feinden gegenüber behielt der geiſtreiche alte Geheimrath K. Streckfuß freilich Recht, als er in der Schrift „über die Garantien der preußiſchen Zuſtände“ mit dem ganzen Selbſt- gefühle des preußiſchen Beamten ausführte: dieſer Staat der Gerechtig- keit, der Bildung, der Ehrlichkeit und der kriegeriſchen Kraft brauche weder mit Frankreich noch mit England den Vergleich zu ſcheuen. Er irrte nur, wenn er zuverſichtlich hinzufügte: „unſere Zuſtände ſind durch ſich ſelbſt und ihren inneren Zuſammenhang vollkommen geſichert.“ Unverkennbar nahte ein großer Umſchwung langſam heran. Mit ſeiner letzten großen That, mit der Schöpfung des Zollvereins war die Lebens- kraft des alten Syſtems erſchöpft. Es hielt ſich nur noch, weil überall an zweiter Stelle ausgezeichnete Kräfte thätig waren; aber ihm fehlte die feſte Leitung. Der König alterte ſichtlich; was er noch an Thatkraft beſaß, ging völlig auf in den peinlichen diplomatiſchen Händeln um die Erhal- tung des Weltfriedens. Seit dem Tode von Motz und Maaſſen ſaß im Miniſterium Niemand mehr, der den Namen eines Staatsmannes ver- diente. Die Leitung des Staatsraths erhielt nach dem Tode des Herzogs Karl General Müffling, der ſein Amt ganz in dem hochconſervativen Sinne ſeines Vorgängers führte, aber wenig Einfluß gewann, da der Staatsrath ſeine alte Macht verloren hatte. Der neue Miniſter des Innern v. Brenn hatte ſich als ſächſiſcher Beamter und dann als Regierungspräſident vor- trefflich bewährt; eigener Gedanken zeigte er ſo wenig, daß bald alle Par- teien ihn für einen unfähigen Miniſter erklärten. *) Die Polizei überließ er ganz dem berüchtigten Demagogenverfolger Geh. Rath Tzſchoppe, und ſeitdem begann auch im Beamtenthum ſelber ein widerwärtiges Spüren, das allen guten altpreußiſchen Sitten widerſprach: mancher Subalterne ſuchte ſich bei dem Miniſter lieb Kind zu machen, indem er die Geſin- nung ſeiner Vorgeſetzten anſchwärzte. **) In dem Eckhauſe der Charlotten- ſtraße, wo Tzſchoppe zwei Treppen hoch wohnte, fanden ſich alle die ſchroffen Gegenſätze des Berliner Lebens freundnachbarlich beiſammen. Im Erdgeſchoſſe arbeitete Gans bei offenem Fenſter an ſeinem Stehpulte, *) Herzog Karl v. Mecklenburg an Wittgenſtein, 8. Juli 1831. **) Nach Kühne’s Aufzeichnungen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/556>, abgerufen am 24.11.2024.