Convents vom Jahre IV der Republik, das die belgischen Departements mit Frankreich vereinigt hat, besteht noch immer zu Recht. Die Mehr- heit der Belgier wies diese Anschläge weit von sich. Darum wurden auch die republikanischen Pläne, mit denen de Potter sich trug, kurzerhand abgelehnt; denn nur mit Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg konnte sich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer monarchischen Verfassung durften die Belgier auf die Zustimmung der großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube- rufene nationale Congreß die verständigen, durch die Lage der Dinge ge- botenen Beschlüsse: Unabhängigkeit, Monarchie, Lossagung vom Hause Oranien.
So errang sich dies mehr durch die kirchliche Gesinnung als durch das Bewußtsein politischer Gemeinschaft zusammengehaltene kleine Volk das Recht der Selbstbestimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem Aufstande mißtrauisch zugesehen, da sein Ursprung unklar war und der belgische Pöbel sich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen Brüsseler Straßenkampfe schlug das Urtheil gänzlich um. Auch Brüssel hat seine drei Tage und seine drei Farben! -- schrieb frohlockend Ed. Gans, und seine Gesinnungsgenossen in der liberalen deutschen Presse entdeckten mit wachsender Bewunderung Zug für Zug immer neue Aehnlichkeiten zwischen Belgien und dem Musterlande der Freiheit: sie nannten de Potter den belgischen Lafayette, Jouvenel's Brabanconne die belgische Marseillaise. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marseillaise -- was brauchte ein Volk mehr um glücklich zu sein? und wer außer den entmenschten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch bestreiten, daß die Sonne über Europa im Westen aufging? --
Die so lange niedergehaltenen Parteien der deutschen Opposition athmeten fröhlich auf, als die erste Kunde von der großen Woche über den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radicalen Jugend das Wort von den Lippen, da er in übermüthigem Jubel die Pariser Zeitungen als in Papier gewickelte Sonnenstrahlen begrüßte: "Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marseillaise -- fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was ich muß. Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen. Blumen, Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme!" Mächtig wie die Freude im libe- ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachsender Be- sorgniß waren sie sämmtlich den vermessenen Unternehmungen Polignac's gefolgt; eine so furchtbare Erschütterung, die das ganze mühsame Friedens- werk der Wiener Verträge wieder in Frage stellte, kam ihnen doch allen
3*
Revolution in Brüſſel.
Convents vom Jahre IV der Republik, das die belgiſchen Departements mit Frankreich vereinigt hat, beſteht noch immer zu Recht. Die Mehr- heit der Belgier wies dieſe Anſchläge weit von ſich. Darum wurden auch die republikaniſchen Pläne, mit denen de Potter ſich trug, kurzerhand abgelehnt; denn nur mit Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg konnte ſich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer monarchiſchen Verfaſſung durften die Belgier auf die Zuſtimmung der großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube- rufene nationale Congreß die verſtändigen, durch die Lage der Dinge ge- botenen Beſchlüſſe: Unabhängigkeit, Monarchie, Losſagung vom Hauſe Oranien.
So errang ſich dies mehr durch die kirchliche Geſinnung als durch das Bewußtſein politiſcher Gemeinſchaft zuſammengehaltene kleine Volk das Recht der Selbſtbeſtimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem Aufſtande mißtrauiſch zugeſehen, da ſein Urſprung unklar war und der belgiſche Pöbel ſich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen Brüſſeler Straßenkampfe ſchlug das Urtheil gänzlich um. Auch Brüſſel hat ſeine drei Tage und ſeine drei Farben! — ſchrieb frohlockend Ed. Gans, und ſeine Geſinnungsgenoſſen in der liberalen deutſchen Preſſe entdeckten mit wachſender Bewunderung Zug für Zug immer neue Aehnlichkeiten zwiſchen Belgien und dem Muſterlande der Freiheit: ſie nannten de Potter den belgiſchen Lafayette, Jouvenel’s Brabançonne die belgiſche Marſeillaiſe. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marſeillaiſe — was brauchte ein Volk mehr um glücklich zu ſein? und wer außer den entmenſchten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch beſtreiten, daß die Sonne über Europa im Weſten aufging? —
Die ſo lange niedergehaltenen Parteien der deutſchen Oppoſition athmeten fröhlich auf, als die erſte Kunde von der großen Woche über den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radicalen Jugend das Wort von den Lippen, da er in übermüthigem Jubel die Pariſer Zeitungen als in Papier gewickelte Sonnenſtrahlen begrüßte: „Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marſeillaiſe — fort iſt meine Sehnſucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich ſoll, was ich muß. Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zauberſegen ausgeſprochen. Blumen, Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und Geſang, ganz Schwert und Flamme!“ Mächtig wie die Freude im libe- ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachſender Be- ſorgniß waren ſie ſämmtlich den vermeſſenen Unternehmungen Polignac’s gefolgt; eine ſo furchtbare Erſchütterung, die das ganze mühſame Friedens- werk der Wiener Verträge wieder in Frage ſtellte, kam ihnen doch allen
3*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0049"n="35"/><fwplace="top"type="header">Revolution in Brüſſel.</fw><lb/>
Convents vom Jahre <hirendition="#aq">IV</hi> der Republik, das die belgiſchen Departements<lb/>
mit Frankreich vereinigt hat, beſteht noch immer zu Recht. Die Mehr-<lb/>
heit der Belgier wies dieſe Anſchläge weit von ſich. Darum wurden<lb/>
auch die republikaniſchen Pläne, mit denen de Potter ſich trug, kurzerhand<lb/>
abgelehnt; denn nur mit Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg<lb/>
konnte ſich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer<lb/>
monarchiſchen Verfaſſung durften die Belgier auf die Zuſtimmung der<lb/>
großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube-<lb/>
rufene nationale Congreß die verſtändigen, durch die Lage der Dinge ge-<lb/>
botenen Beſchlüſſe: Unabhängigkeit, Monarchie, Losſagung vom Hauſe<lb/>
Oranien.</p><lb/><p>So errang ſich dies mehr durch die kirchliche Geſinnung als durch<lb/>
das Bewußtſein politiſcher Gemeinſchaft zuſammengehaltene kleine Volk<lb/>
das Recht der Selbſtbeſtimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem<lb/>
Aufſtande mißtrauiſch zugeſehen, da ſein Urſprung unklar war und<lb/>
der belgiſche Pöbel ſich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen<lb/>
Brüſſeler Straßenkampfe ſchlug das Urtheil gänzlich um. Auch Brüſſel<lb/>
hat ſeine drei Tage und ſeine drei Farben! —ſchrieb frohlockend<lb/>
Ed. Gans, und ſeine Geſinnungsgenoſſen in der liberalen deutſchen<lb/>
Preſſe entdeckten mit wachſender Bewunderung Zug für Zug immer neue<lb/>
Aehnlichkeiten zwiſchen Belgien und dem Muſterlande der Freiheit: ſie<lb/>
nannten de Potter den belgiſchen Lafayette, Jouvenel’s Braban<hirendition="#aq">ç</hi>onne die<lb/>
belgiſche Marſeillaiſe. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marſeillaiſe<lb/>— was brauchte ein Volk mehr um glücklich zu ſein? und wer außer<lb/>
den entmenſchten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch beſtreiten, daß<lb/>
die Sonne über Europa im Weſten aufging? —</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Die ſo lange niedergehaltenen Parteien der deutſchen Oppoſition<lb/>
athmeten fröhlich auf, als die erſte Kunde von der großen Woche über<lb/>
den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radicalen Jugend das Wort<lb/>
von den Lippen, da er in übermüthigem Jubel die Pariſer Zeitungen als<lb/>
in Papier gewickelte Sonnenſtrahlen begrüßte: „Lafayette, die dreifarbige<lb/>
Fahne, die Marſeillaiſe — fort iſt meine Sehnſucht nach Ruhe. Ich<lb/>
weiß jetzt wieder was ich will, was ich ſoll, was ich muß. Ich bin der<lb/>
Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber<lb/>
meine Mutter ihren Zauberſegen ausgeſprochen. Blumen, Blumen! Ich<lb/>
will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und<lb/>
Geſang, ganz Schwert und Flamme!“ Mächtig wie die Freude im libe-<lb/>
ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachſender Be-<lb/>ſorgniß waren ſie ſämmtlich den vermeſſenen Unternehmungen Polignac’s<lb/>
gefolgt; eine ſo furchtbare Erſchütterung, die das ganze mühſame Friedens-<lb/>
werk der Wiener Verträge wieder in Frage ſtellte, kam ihnen doch allen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">3*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[35/0049]
Revolution in Brüſſel.
Convents vom Jahre IV der Republik, das die belgiſchen Departements
mit Frankreich vereinigt hat, beſteht noch immer zu Recht. Die Mehr-
heit der Belgier wies dieſe Anſchläge weit von ſich. Darum wurden
auch die republikaniſchen Pläne, mit denen de Potter ſich trug, kurzerhand
abgelehnt; denn nur mit Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg
konnte ſich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer
monarchiſchen Verfaſſung durften die Belgier auf die Zuſtimmung der
großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube-
rufene nationale Congreß die verſtändigen, durch die Lage der Dinge ge-
botenen Beſchlüſſe: Unabhängigkeit, Monarchie, Losſagung vom Hauſe
Oranien.
So errang ſich dies mehr durch die kirchliche Geſinnung als durch
das Bewußtſein politiſcher Gemeinſchaft zuſammengehaltene kleine Volk
das Recht der Selbſtbeſtimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem
Aufſtande mißtrauiſch zugeſehen, da ſein Urſprung unklar war und
der belgiſche Pöbel ſich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen
Brüſſeler Straßenkampfe ſchlug das Urtheil gänzlich um. Auch Brüſſel
hat ſeine drei Tage und ſeine drei Farben! — ſchrieb frohlockend
Ed. Gans, und ſeine Geſinnungsgenoſſen in der liberalen deutſchen
Preſſe entdeckten mit wachſender Bewunderung Zug für Zug immer neue
Aehnlichkeiten zwiſchen Belgien und dem Muſterlande der Freiheit: ſie
nannten de Potter den belgiſchen Lafayette, Jouvenel’s Brabançonne die
belgiſche Marſeillaiſe. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marſeillaiſe
— was brauchte ein Volk mehr um glücklich zu ſein? und wer außer
den entmenſchten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch beſtreiten, daß
die Sonne über Europa im Weſten aufging? —
Die ſo lange niedergehaltenen Parteien der deutſchen Oppoſition
athmeten fröhlich auf, als die erſte Kunde von der großen Woche über
den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radicalen Jugend das Wort
von den Lippen, da er in übermüthigem Jubel die Pariſer Zeitungen als
in Papier gewickelte Sonnenſtrahlen begrüßte: „Lafayette, die dreifarbige
Fahne, die Marſeillaiſe — fort iſt meine Sehnſucht nach Ruhe. Ich
weiß jetzt wieder was ich will, was ich ſoll, was ich muß. Ich bin der
Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber
meine Mutter ihren Zauberſegen ausgeſprochen. Blumen, Blumen! Ich
will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und
Geſang, ganz Schwert und Flamme!“ Mächtig wie die Freude im libe-
ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachſender Be-
ſorgniß waren ſie ſämmtlich den vermeſſenen Unternehmungen Polignac’s
gefolgt; eine ſo furchtbare Erſchütterung, die das ganze mühſame Friedens-
werk der Wiener Verträge wieder in Frage ſtellte, kam ihnen doch allen
3*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/49>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.