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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Das Staatslexikon. Dahlmann's Politik.
es wenig, am wenigsten in Oesterreich, wo das Gegengewicht einer leben-
digen historischen Wissenschaft noch fast ganz fehlte. Die denkfaule Masse
der Leser wurde dadurch nur bestärkt in ihrer Neigung, über unverstan-
dene Dinge mit einigen schallenden Schlagworten abzusprechen, in jenem
blinden und zugleich bildungsstolzen Autoritätsglauben, der die Jahrhun-
derte der Vielwisserei so viel häßlicher erscheinen läßt, als die naiven gläu-
bigen Jugendzeiten der Gesittung.

Da entriß Dahlmann die Staatslehre dem Bannkreise der natur-
rechtlichen Formeln durch sein Buch: die Politik (1835). Indem er die
Politik "auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände" zurück-
führte, hob er die entgeistete constitutionelle Doctrin mit einem male auf die
freie Höhe, welche die Geschichtsforschung längst erreicht hatte und gab dem
deutschen Liberalismus zuerst einen festen wissenschaftlichen Boden. Gleich
seinem Freunde Niebuhr verwarf er die Hirngespinste vom Naturzustande
und Staatsvertrage, er faßte den Staat als "eine ursprüngliche Ordnung,
einen nothwendigen Zustand, ein Vermögen der Menschheit"; aber wäh-
rend die historischen Juristen den constitutionellen Staat bisher als eine
Ausgeburt der naturrechtlichen Wahnbegriffe bekämpft hatten, gelangte
Dahlmann gerade durch seine historische Methode zu dem Schlusse, daß
die constitutionellen Formen sich aus der Entwicklung des deutschen Staats-
lebens mit innerer Nothwendigkeit ergäben. So ward endlich mit wissen-
schaftlicher Strenge erwiesen, was in den Staatsschriften der Stein'schen
Reformperiode nur angedeutet war. Diese völlig neue Beweisführung
wirkte so überzeugend, daß selbst Heinrich Leo, der leidenschaftliche Feind
des Liberalismus, für kurze Zeit, leider nicht für immer, bekehrt wurde
und verwundert sagte, durch Dahlmann habe er erst gelernt, "daß diese
constitutionellen Formen tüchtiges politisches Leben einschließen können."

Das kühne Unternehmen, das gesammte Staatswesen historisch zu be-
trachten, konnte freilich nicht gleich beim ersten Anlaufe vollständig gelingen;
denn die Staatslehre muß Gattungsbegriffe und Imperative zu finden
suchen, während in der Geschichte doch überall die unberechenbare Freiheit
der Machtkämpfe und des persönlichen Wollens wirkt. Diesen Widerspruch
zu überwinden vermochte Dahlmann nicht überall. Unwillkürlich fiel er zu-
weilen in die Methode des Naturrechts zurück, die den lebendigen Staat
nur als das Ergebniß eines Denkprocesses auffaßte; und obwohl er nach-
drücklich aussprach "der Idealist löst Räthsel, die er sich selber aufgegeben",
so nannte er doch selbst die constitutionelle Monarchie schlechthin "den
guten Staat", als ob er an das Wahngebilde eines absoluten Staats-
ideales glaubte. Solchen Nachwirkungen der alten abstrakten Rechtsphilo-
sophie konnte sich in jenen Jahren noch kein Denker ganz entziehen. Auch
von dem britischen Staate, den er noch immer wie vor zwanzig Jahren
für das Musterbild der Freiheit hielt*), gab er nur ein unvollständiges

*) S. o. II. 111.

Das Staatslexikon. Dahlmann’s Politik.
es wenig, am wenigſten in Oeſterreich, wo das Gegengewicht einer leben-
digen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft noch faſt ganz fehlte. Die denkfaule Maſſe
der Leſer wurde dadurch nur beſtärkt in ihrer Neigung, über unverſtan-
dene Dinge mit einigen ſchallenden Schlagworten abzuſprechen, in jenem
blinden und zugleich bildungsſtolzen Autoritätsglauben, der die Jahrhun-
derte der Vielwiſſerei ſo viel häßlicher erſcheinen läßt, als die naiven gläu-
bigen Jugendzeiten der Geſittung.

Da entriß Dahlmann die Staatslehre dem Bannkreiſe der natur-
rechtlichen Formeln durch ſein Buch: die Politik (1835). Indem er die
Politik „auf den Grund und das Maß der gegebenen Zuſtände“ zurück-
führte, hob er die entgeiſtete conſtitutionelle Doctrin mit einem male auf die
freie Höhe, welche die Geſchichtsforſchung längſt erreicht hatte und gab dem
deutſchen Liberalismus zuerſt einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden. Gleich
ſeinem Freunde Niebuhr verwarf er die Hirngeſpinſte vom Naturzuſtande
und Staatsvertrage, er faßte den Staat als „eine urſprüngliche Ordnung,
einen nothwendigen Zuſtand, ein Vermögen der Menſchheit“; aber wäh-
rend die hiſtoriſchen Juriſten den conſtitutionellen Staat bisher als eine
Ausgeburt der naturrechtlichen Wahnbegriffe bekämpft hatten, gelangte
Dahlmann gerade durch ſeine hiſtoriſche Methode zu dem Schluſſe, daß
die conſtitutionellen Formen ſich aus der Entwicklung des deutſchen Staats-
lebens mit innerer Nothwendigkeit ergäben. So ward endlich mit wiſſen-
ſchaftlicher Strenge erwieſen, was in den Staatsſchriften der Stein’ſchen
Reformperiode nur angedeutet war. Dieſe völlig neue Beweisführung
wirkte ſo überzeugend, daß ſelbſt Heinrich Leo, der leidenſchaftliche Feind
des Liberalismus, für kurze Zeit, leider nicht für immer, bekehrt wurde
und verwundert ſagte, durch Dahlmann habe er erſt gelernt, „daß dieſe
conſtitutionellen Formen tüchtiges politiſches Leben einſchließen können.“

Das kühne Unternehmen, das geſammte Staatsweſen hiſtoriſch zu be-
trachten, konnte freilich nicht gleich beim erſten Anlaufe vollſtändig gelingen;
denn die Staatslehre muß Gattungsbegriffe und Imperative zu finden
ſuchen, während in der Geſchichte doch überall die unberechenbare Freiheit
der Machtkämpfe und des perſönlichen Wollens wirkt. Dieſen Widerſpruch
zu überwinden vermochte Dahlmann nicht überall. Unwillkürlich fiel er zu-
weilen in die Methode des Naturrechts zurück, die den lebendigen Staat
nur als das Ergebniß eines Denkproceſſes auffaßte; und obwohl er nach-
drücklich ausſprach „der Idealiſt löſt Räthſel, die er ſich ſelber aufgegeben“,
ſo nannte er doch ſelbſt die conſtitutionelle Monarchie ſchlechthin „den
guten Staat“, als ob er an das Wahngebilde eines abſoluten Staats-
ideales glaubte. Solchen Nachwirkungen der alten abſtrakten Rechtsphilo-
ſophie konnte ſich in jenen Jahren noch kein Denker ganz entziehen. Auch
von dem britiſchen Staate, den er noch immer wie vor zwanzig Jahren
für das Muſterbild der Freiheit hielt*), gab er nur ein unvollſtändiges

*) S. o. II. 111.
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[469/0483] Das Staatslexikon. Dahlmann’s Politik. es wenig, am wenigſten in Oeſterreich, wo das Gegengewicht einer leben- digen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft noch faſt ganz fehlte. Die denkfaule Maſſe der Leſer wurde dadurch nur beſtärkt in ihrer Neigung, über unverſtan- dene Dinge mit einigen ſchallenden Schlagworten abzuſprechen, in jenem blinden und zugleich bildungsſtolzen Autoritätsglauben, der die Jahrhun- derte der Vielwiſſerei ſo viel häßlicher erſcheinen läßt, als die naiven gläu- bigen Jugendzeiten der Geſittung. Da entriß Dahlmann die Staatslehre dem Bannkreiſe der natur- rechtlichen Formeln durch ſein Buch: die Politik (1835). Indem er die Politik „auf den Grund und das Maß der gegebenen Zuſtände“ zurück- führte, hob er die entgeiſtete conſtitutionelle Doctrin mit einem male auf die freie Höhe, welche die Geſchichtsforſchung längſt erreicht hatte und gab dem deutſchen Liberalismus zuerſt einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden. Gleich ſeinem Freunde Niebuhr verwarf er die Hirngeſpinſte vom Naturzuſtande und Staatsvertrage, er faßte den Staat als „eine urſprüngliche Ordnung, einen nothwendigen Zuſtand, ein Vermögen der Menſchheit“; aber wäh- rend die hiſtoriſchen Juriſten den conſtitutionellen Staat bisher als eine Ausgeburt der naturrechtlichen Wahnbegriffe bekämpft hatten, gelangte Dahlmann gerade durch ſeine hiſtoriſche Methode zu dem Schluſſe, daß die conſtitutionellen Formen ſich aus der Entwicklung des deutſchen Staats- lebens mit innerer Nothwendigkeit ergäben. So ward endlich mit wiſſen- ſchaftlicher Strenge erwieſen, was in den Staatsſchriften der Stein’ſchen Reformperiode nur angedeutet war. Dieſe völlig neue Beweisführung wirkte ſo überzeugend, daß ſelbſt Heinrich Leo, der leidenſchaftliche Feind des Liberalismus, für kurze Zeit, leider nicht für immer, bekehrt wurde und verwundert ſagte, durch Dahlmann habe er erſt gelernt, „daß dieſe conſtitutionellen Formen tüchtiges politiſches Leben einſchließen können.“ Das kühne Unternehmen, das geſammte Staatsweſen hiſtoriſch zu be- trachten, konnte freilich nicht gleich beim erſten Anlaufe vollſtändig gelingen; denn die Staatslehre muß Gattungsbegriffe und Imperative zu finden ſuchen, während in der Geſchichte doch überall die unberechenbare Freiheit der Machtkämpfe und des perſönlichen Wollens wirkt. Dieſen Widerſpruch zu überwinden vermochte Dahlmann nicht überall. Unwillkürlich fiel er zu- weilen in die Methode des Naturrechts zurück, die den lebendigen Staat nur als das Ergebniß eines Denkproceſſes auffaßte; und obwohl er nach- drücklich ausſprach „der Idealiſt löſt Räthſel, die er ſich ſelber aufgegeben“, ſo nannte er doch ſelbſt die conſtitutionelle Monarchie ſchlechthin „den guten Staat“, als ob er an das Wahngebilde eines abſoluten Staats- ideales glaubte. Solchen Nachwirkungen der alten abſtrakten Rechtsphilo- ſophie konnte ſich in jenen Jahren noch kein Denker ganz entziehen. Auch von dem britiſchen Staate, den er noch immer wie vor zwanzig Jahren für das Muſterbild der Freiheit hielt *), gab er nur ein unvollſtändiges *) S. o. II. 111.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/483>, abgerufen am 28.11.2024.