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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
Bild, da der hocharistokratische Charakter der altenglischen Selbstverwal-
tung und Parteiregierung in Deutschland noch nirgends recht verstanden
wurde; und über die drohenden socialen Gegensätze des Zeitalters urtheilte
er noch ganz im Sinne des selbstgefälligen liberalen Bürgerthums also:
"Fast überall im Welttheil bildet ein weit verbreiteter, stets an Gleich-
artigkeit wachsender Mittelstand den Kern der Bevölkerung."

Doch was bedeuteten diese Mängel neben den neuen, lebendigen Ge-
danken des Buchs! Rotteck's Schule war durch die Lehre der Volks-
souveränität und durch die erbitternden Kämpfe des Tages längst dahin
geführt worden, daß sie die monarchische Gewalt nur noch als ein nothwen-
diges Uebel betrachtete. Dahlmann aber nannte die Monarchie das ein-
zige Band der Gewohnheit in der deutschen Staatenwelt, während für
alle anderen politischen Elemente der Schwerpunkt erst im Werden sei;
er hielt den Lobrednern der Barrikaden das strenge Wort entgegen: jede
Revolution ist nicht nur das Zeichen eines ungeheueren Mißgeschicks, son-
dern selbst ein Mißgeschick, selbst schuldbelastet; er dachte sehr bescheiden
von der gerühmten Freiheit "des, wenn man so will, constitutionellen
Deutschlands" und verlangte für Preußens künftige Reichsstände nur solche
Rechte, die sich mit dem lebendigen Königthum vertragen könnten. Das
Alles in einer edlen, gedankenreichen, die Gewissen packenden Sprache, die
lebhaft an Jakob Grimm's monumentalen Stil erinnerte; und dazu überall
ein helles Verständniß für die Freiheit der historischen Größe, für den
Adel unserer classischen Bildung, für die frommen, den Staat erhalten-
den Kräfte des Gemüths -- ein vornehmer Sinn, der mit dem vorlauten
Hochmuth der Aufklärung nichts gemein hatte. Darum fand dies Be-
kenntniß des gebildeten Liberalismus zuerst im Norden Anklang, wo die
monarchische Gesinnung noch naturwüchsig, die Gesetzgebung Stein's noch
unvergessen war. Dahlmann glaubte an eine auch äußerliche Vollen-
dung der menschlichen Dinge am Ende der Geschichte, und dieser Glaube,
den in unseren erfahrungsreicheren Tagen nur noch jugendliche Schwär-
mer hegen, gab seinen Worten eine stolze, den Zeitgenossen unwidersteh-
liche Zuversicht. Schwerer trennten sich die Süddeutschen von ihrem Ver-
nunftrecht; indeß entstand auch dort allmählich eine gemäßigt liberale
Partei, die mindestens von den radicalen Schlagworten der alten Lehre,
von der Volkssouveränität, dem Gesellschaftsvertrage und dem Rechte der
Revolution nichts mehr hören wollte. Leider blieb Dahlmann's Buch un-
vollendet. Der wortkarge Mann entschloß sich zum Schreiben fast noch
schwerer als zum Reden, und er fand auch in der Wissenschaft keinen
Nachfolger, denn der Weg, den er gewiesen, war nur für ungewöhnliche
Talente gangbar. Bis zum heutigen Tage besitzen wir noch kein Werk,
das wirklich das gesammte Staatsleben aus den gegebenen Zuständen her-
aus erklärte und statt subjectiver politischer Behauptungen nur erweisbare
historische Wahrheiten aufstellte.

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Bild, da der hochariſtokratiſche Charakter der altengliſchen Selbſtverwal-
tung und Parteiregierung in Deutſchland noch nirgends recht verſtanden
wurde; und über die drohenden ſocialen Gegenſätze des Zeitalters urtheilte
er noch ganz im Sinne des ſelbſtgefälligen liberalen Bürgerthums alſo:
„Faſt überall im Welttheil bildet ein weit verbreiteter, ſtets an Gleich-
artigkeit wachſender Mittelſtand den Kern der Bevölkerung.“

Doch was bedeuteten dieſe Mängel neben den neuen, lebendigen Ge-
danken des Buchs! Rotteck’s Schule war durch die Lehre der Volks-
ſouveränität und durch die erbitternden Kämpfe des Tages längſt dahin
geführt worden, daß ſie die monarchiſche Gewalt nur noch als ein nothwen-
diges Uebel betrachtete. Dahlmann aber nannte die Monarchie das ein-
zige Band der Gewohnheit in der deutſchen Staatenwelt, während für
alle anderen politiſchen Elemente der Schwerpunkt erſt im Werden ſei;
er hielt den Lobrednern der Barrikaden das ſtrenge Wort entgegen: jede
Revolution iſt nicht nur das Zeichen eines ungeheueren Mißgeſchicks, ſon-
dern ſelbſt ein Mißgeſchick, ſelbſt ſchuldbelaſtet; er dachte ſehr beſcheiden
von der gerühmten Freiheit „des, wenn man ſo will, conſtitutionellen
Deutſchlands“ und verlangte für Preußens künftige Reichsſtände nur ſolche
Rechte, die ſich mit dem lebendigen Königthum vertragen könnten. Das
Alles in einer edlen, gedankenreichen, die Gewiſſen packenden Sprache, die
lebhaft an Jakob Grimm’s monumentalen Stil erinnerte; und dazu überall
ein helles Verſtändniß für die Freiheit der hiſtoriſchen Größe, für den
Adel unſerer claſſiſchen Bildung, für die frommen, den Staat erhalten-
den Kräfte des Gemüths — ein vornehmer Sinn, der mit dem vorlauten
Hochmuth der Aufklärung nichts gemein hatte. Darum fand dies Be-
kenntniß des gebildeten Liberalismus zuerſt im Norden Anklang, wo die
monarchiſche Geſinnung noch naturwüchſig, die Geſetzgebung Stein’s noch
unvergeſſen war. Dahlmann glaubte an eine auch äußerliche Vollen-
dung der menſchlichen Dinge am Ende der Geſchichte, und dieſer Glaube,
den in unſeren erfahrungsreicheren Tagen nur noch jugendliche Schwär-
mer hegen, gab ſeinen Worten eine ſtolze, den Zeitgenoſſen unwiderſteh-
liche Zuverſicht. Schwerer trennten ſich die Süddeutſchen von ihrem Ver-
nunftrecht; indeß entſtand auch dort allmählich eine gemäßigt liberale
Partei, die mindeſtens von den radicalen Schlagworten der alten Lehre,
von der Volksſouveränität, dem Geſellſchaftsvertrage und dem Rechte der
Revolution nichts mehr hören wollte. Leider blieb Dahlmann’s Buch un-
vollendet. Der wortkarge Mann entſchloß ſich zum Schreiben faſt noch
ſchwerer als zum Reden, und er fand auch in der Wiſſenſchaft keinen
Nachfolger, denn der Weg, den er gewieſen, war nur für ungewöhnliche
Talente gangbar. Bis zum heutigen Tage beſitzen wir noch kein Werk,
das wirklich das geſammte Staatsleben aus den gegebenen Zuſtänden her-
aus erklärte und ſtatt ſubjectiver politiſcher Behauptungen nur erweisbare
hiſtoriſche Wahrheiten aufſtellte.

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[470/0484] IV. 7. Das Junge Deutſchland. Bild, da der hochariſtokratiſche Charakter der altengliſchen Selbſtverwal- tung und Parteiregierung in Deutſchland noch nirgends recht verſtanden wurde; und über die drohenden ſocialen Gegenſätze des Zeitalters urtheilte er noch ganz im Sinne des ſelbſtgefälligen liberalen Bürgerthums alſo: „Faſt überall im Welttheil bildet ein weit verbreiteter, ſtets an Gleich- artigkeit wachſender Mittelſtand den Kern der Bevölkerung.“ Doch was bedeuteten dieſe Mängel neben den neuen, lebendigen Ge- danken des Buchs! Rotteck’s Schule war durch die Lehre der Volks- ſouveränität und durch die erbitternden Kämpfe des Tages längſt dahin geführt worden, daß ſie die monarchiſche Gewalt nur noch als ein nothwen- diges Uebel betrachtete. Dahlmann aber nannte die Monarchie das ein- zige Band der Gewohnheit in der deutſchen Staatenwelt, während für alle anderen politiſchen Elemente der Schwerpunkt erſt im Werden ſei; er hielt den Lobrednern der Barrikaden das ſtrenge Wort entgegen: jede Revolution iſt nicht nur das Zeichen eines ungeheueren Mißgeſchicks, ſon- dern ſelbſt ein Mißgeſchick, ſelbſt ſchuldbelaſtet; er dachte ſehr beſcheiden von der gerühmten Freiheit „des, wenn man ſo will, conſtitutionellen Deutſchlands“ und verlangte für Preußens künftige Reichsſtände nur ſolche Rechte, die ſich mit dem lebendigen Königthum vertragen könnten. Das Alles in einer edlen, gedankenreichen, die Gewiſſen packenden Sprache, die lebhaft an Jakob Grimm’s monumentalen Stil erinnerte; und dazu überall ein helles Verſtändniß für die Freiheit der hiſtoriſchen Größe, für den Adel unſerer claſſiſchen Bildung, für die frommen, den Staat erhalten- den Kräfte des Gemüths — ein vornehmer Sinn, der mit dem vorlauten Hochmuth der Aufklärung nichts gemein hatte. Darum fand dies Be- kenntniß des gebildeten Liberalismus zuerſt im Norden Anklang, wo die monarchiſche Geſinnung noch naturwüchſig, die Geſetzgebung Stein’s noch unvergeſſen war. Dahlmann glaubte an eine auch äußerliche Vollen- dung der menſchlichen Dinge am Ende der Geſchichte, und dieſer Glaube, den in unſeren erfahrungsreicheren Tagen nur noch jugendliche Schwär- mer hegen, gab ſeinen Worten eine ſtolze, den Zeitgenoſſen unwiderſteh- liche Zuverſicht. Schwerer trennten ſich die Süddeutſchen von ihrem Ver- nunftrecht; indeß entſtand auch dort allmählich eine gemäßigt liberale Partei, die mindeſtens von den radicalen Schlagworten der alten Lehre, von der Volksſouveränität, dem Geſellſchaftsvertrage und dem Rechte der Revolution nichts mehr hören wollte. Leider blieb Dahlmann’s Buch un- vollendet. Der wortkarge Mann entſchloß ſich zum Schreiben faſt noch ſchwerer als zum Reden, und er fand auch in der Wiſſenſchaft keinen Nachfolger, denn der Weg, den er gewieſen, war nur für ungewöhnliche Talente gangbar. Bis zum heutigen Tage beſitzen wir noch kein Werk, das wirklich das geſammte Staatsleben aus den gegebenen Zuſtänden her- aus erklärte und ſtatt ſubjectiver politiſcher Behauptungen nur erweisbare hiſtoriſche Wahrheiten aufſtellte.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/484>, abgerufen am 03.05.2024.