Der freie Geist, der unter den Historikern sich regte, drang nun end- lich auch in die Staatslehre ein. Es ward hohe Zeit; denn da die Schüler Niebuhr's, Savigny's, Eichhorn's sich fast allesammt der Philologie oder der Rechtsgeschichte zuwendeten, so blieben die bahnbrechenden Ge- danken der historischen Juristen der zünftigen Staatswissenschaft lange ganz unbekannt. Die liberalen Staatsgelehrten grasten vergnüglich auf der Gemeinweide ihres Naturrechts und rühmten sich des Fortschritts, wäh- rend sie arge Reaction trieben. Was für Plattheiten brachte der Leipziger Pölitz in seinem Buche über das constitutionelle Leben zu Markte: alles irdische Dasein ging ihm in "den beiden Begriffen Religion und Bürger- thum" auf, und nur "schriftliche Verfassungsurkunden" -- ohne Papier ging es nicht -- konnten die Freiheit des Bürgerthums sichern. Noch weit bedenklicher erschien die wissenschaftliche Verwahrlosung des deutschen Liberalismus in dem Staatslexikon, das Rotteck und Welcker seit dem Jahre 1834 herausgaben. Das wohlberechnete und klug geleitete Unter- nehmen zählte fast alle namhaften Männer des süddeutschen Liberalismus, daneben auch viele Norddeutsche, zu seinen Mitarbeitern und fand unter den Mittelklassen sogar noch größere Verbreitung als vordem Rotteck's Weltgeschichte. Wie viel leichter als eine ausführliche Geschichtserzählung ließen sich doch diese kurzen Artikel lesen, in der bequemen alphabetischen Ordnung, die schon seit dem Brockhausischen Conversationslexikon dem großen Publikum mundgerecht war; der gesinnungstüchtige Philister brauchte ja nur das Stichwort aufzuschlagen, um sofort zu wissen, was er über jede politische oder kirchliche Frage zu urtheilen habe. Gegen die untrüg- liche Sicherheit dieses Orakels kam kein Widerspruch auf; Rotteck vermaß sich im Vorwort kurzab "nur solche Lehren vorzutragen, daß deren An- feindung als Aeußerung der Böswilligkeit erscheinen müsse".
In jedem Landtagshause, in allen Redactionszimmern und Lesecabinets prangte die lange Bändereihe des Staatslexikons; der Kronprinz von Preu- ßen aber und seine romantischen Freunde bezeichneten fortan alle Verir- rungen des Zeitgeistes mit dem Schimpfnamen Rotteck-Welcker. Das Sam- melwerk enthielt einige brauchbare Arbeiten, namentlich gute volkswirthschaft- liche Aufsätze von List und Mathy; aber der Grundgedanke war unhaltbar und veraltet, die leidenschaftlichen und weitschweifigen leitenden Artikel der beiden Herausgeber sangen immer nur das alte Lied von dem allein wahren Vernunftrechte der französischen Revolution, dem das positive und das historische Recht nun endlich weichen müßten. Nun gar in den historischen Artikeln tummelte sich der liberale Philistergeist mit einer Selbstgefällig- keit, als ob Niebuhr nie gelebt hätte. Wie ein sparsamer Familienvater seinen liederlichen Sohn, schalt der Pfälzer Radicale Kolb den großen Friedrich aus, weil er so viel Geld und Blut an die Eroberung Schle- siens verschwendet hatte. Ein solches Werk konnte wohl der liberalen Partei neue Anhänger werben, die politische Bildung der Nation förderte
IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Der freie Geiſt, der unter den Hiſtorikern ſich regte, drang nun end- lich auch in die Staatslehre ein. Es ward hohe Zeit; denn da die Schüler Niebuhr’s, Savigny’s, Eichhorn’s ſich faſt alleſammt der Philologie oder der Rechtsgeſchichte zuwendeten, ſo blieben die bahnbrechenden Ge- danken der hiſtoriſchen Juriſten der zünftigen Staatswiſſenſchaft lange ganz unbekannt. Die liberalen Staatsgelehrten graſten vergnüglich auf der Gemeinweide ihres Naturrechts und rühmten ſich des Fortſchritts, wäh- rend ſie arge Reaction trieben. Was für Plattheiten brachte der Leipziger Pölitz in ſeinem Buche über das conſtitutionelle Leben zu Markte: alles irdiſche Daſein ging ihm in „den beiden Begriffen Religion und Bürger- thum“ auf, und nur „ſchriftliche Verfaſſungsurkunden“ — ohne Papier ging es nicht — konnten die Freiheit des Bürgerthums ſichern. Noch weit bedenklicher erſchien die wiſſenſchaftliche Verwahrloſung des deutſchen Liberalismus in dem Staatslexikon, das Rotteck und Welcker ſeit dem Jahre 1834 herausgaben. Das wohlberechnete und klug geleitete Unter- nehmen zählte faſt alle namhaften Männer des ſüddeutſchen Liberalismus, daneben auch viele Norddeutſche, zu ſeinen Mitarbeitern und fand unter den Mittelklaſſen ſogar noch größere Verbreitung als vordem Rotteck’s Weltgeſchichte. Wie viel leichter als eine ausführliche Geſchichtserzählung ließen ſich doch dieſe kurzen Artikel leſen, in der bequemen alphabetiſchen Ordnung, die ſchon ſeit dem Brockhauſiſchen Converſationslexikon dem großen Publikum mundgerecht war; der geſinnungstüchtige Philiſter brauchte ja nur das Stichwort aufzuſchlagen, um ſofort zu wiſſen, was er über jede politiſche oder kirchliche Frage zu urtheilen habe. Gegen die untrüg- liche Sicherheit dieſes Orakels kam kein Widerſpruch auf; Rotteck vermaß ſich im Vorwort kurzab „nur ſolche Lehren vorzutragen, daß deren An- feindung als Aeußerung der Böswilligkeit erſcheinen müſſe“.
In jedem Landtagshauſe, in allen Redactionszimmern und Leſecabinets prangte die lange Bändereihe des Staatslexikons; der Kronprinz von Preu- ßen aber und ſeine romantiſchen Freunde bezeichneten fortan alle Verir- rungen des Zeitgeiſtes mit dem Schimpfnamen Rotteck-Welcker. Das Sam- melwerk enthielt einige brauchbare Arbeiten, namentlich gute volkswirthſchaft- liche Aufſätze von Liſt und Mathy; aber der Grundgedanke war unhaltbar und veraltet, die leidenſchaftlichen und weitſchweifigen leitenden Artikel der beiden Herausgeber ſangen immer nur das alte Lied von dem allein wahren Vernunftrechte der franzöſiſchen Revolution, dem das poſitive und das hiſtoriſche Recht nun endlich weichen müßten. Nun gar in den hiſtoriſchen Artikeln tummelte ſich der liberale Philiſtergeiſt mit einer Selbſtgefällig- keit, als ob Niebuhr nie gelebt hätte. Wie ein ſparſamer Familienvater ſeinen liederlichen Sohn, ſchalt der Pfälzer Radicale Kolb den großen Friedrich aus, weil er ſo viel Geld und Blut an die Eroberung Schle- ſiens verſchwendet hatte. Ein ſolches Werk konnte wohl der liberalen Partei neue Anhänger werben, die politiſche Bildung der Nation förderte
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IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Der freie Geiſt, der unter den Hiſtorikern ſich regte, drang nun end-
lich auch in die Staatslehre ein. Es ward hohe Zeit; denn da die
Schüler Niebuhr’s, Savigny’s, Eichhorn’s ſich faſt alleſammt der Philologie
oder der Rechtsgeſchichte zuwendeten, ſo blieben die bahnbrechenden Ge-
danken der hiſtoriſchen Juriſten der zünftigen Staatswiſſenſchaft lange
ganz unbekannt. Die liberalen Staatsgelehrten graſten vergnüglich auf
der Gemeinweide ihres Naturrechts und rühmten ſich des Fortſchritts, wäh-
rend ſie arge Reaction trieben. Was für Plattheiten brachte der Leipziger
Pölitz in ſeinem Buche über das conſtitutionelle Leben zu Markte: alles
irdiſche Daſein ging ihm in „den beiden Begriffen Religion und Bürger-
thum“ auf, und nur „ſchriftliche Verfaſſungsurkunden“ — ohne Papier
ging es nicht — konnten die Freiheit des Bürgerthums ſichern. Noch
weit bedenklicher erſchien die wiſſenſchaftliche Verwahrloſung des deutſchen
Liberalismus in dem Staatslexikon, das Rotteck und Welcker ſeit dem
Jahre 1834 herausgaben. Das wohlberechnete und klug geleitete Unter-
nehmen zählte faſt alle namhaften Männer des ſüddeutſchen Liberalismus,
daneben auch viele Norddeutſche, zu ſeinen Mitarbeitern und fand unter
den Mittelklaſſen ſogar noch größere Verbreitung als vordem Rotteck’s
Weltgeſchichte. Wie viel leichter als eine ausführliche Geſchichtserzählung
ließen ſich doch dieſe kurzen Artikel leſen, in der bequemen alphabetiſchen
Ordnung, die ſchon ſeit dem Brockhauſiſchen Converſationslexikon dem
großen Publikum mundgerecht war; der geſinnungstüchtige Philiſter brauchte
ja nur das Stichwort aufzuſchlagen, um ſofort zu wiſſen, was er über
jede politiſche oder kirchliche Frage zu urtheilen habe. Gegen die untrüg-
liche Sicherheit dieſes Orakels kam kein Widerſpruch auf; Rotteck vermaß
ſich im Vorwort kurzab „nur ſolche Lehren vorzutragen, daß deren An-
feindung als Aeußerung der Böswilligkeit erſcheinen müſſe“.
In jedem Landtagshauſe, in allen Redactionszimmern und Leſecabinets
prangte die lange Bändereihe des Staatslexikons; der Kronprinz von Preu-
ßen aber und ſeine romantiſchen Freunde bezeichneten fortan alle Verir-
rungen des Zeitgeiſtes mit dem Schimpfnamen Rotteck-Welcker. Das Sam-
melwerk enthielt einige brauchbare Arbeiten, namentlich gute volkswirthſchaft-
liche Aufſätze von Liſt und Mathy; aber der Grundgedanke war unhaltbar
und veraltet, die leidenſchaftlichen und weitſchweifigen leitenden Artikel der
beiden Herausgeber ſangen immer nur das alte Lied von dem allein wahren
Vernunftrechte der franzöſiſchen Revolution, dem das poſitive und das
hiſtoriſche Recht nun endlich weichen müßten. Nun gar in den hiſtoriſchen
Artikeln tummelte ſich der liberale Philiſtergeiſt mit einer Selbſtgefällig-
keit, als ob Niebuhr nie gelebt hätte. Wie ein ſparſamer Familienvater
ſeinen liederlichen Sohn, ſchalt der Pfälzer Radicale Kolb den großen
Friedrich aus, weil er ſo viel Geld und Blut an die Eroberung Schle-
ſiens verſchwendet hatte. Ein ſolches Werk konnte wohl der liberalen
Partei neue Anhänger werben, die politiſche Bildung der Nation förderte
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/482>, abgerufen am 28.11.2024.
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