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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Ranke's Schule.
schauung der geschilderten Zeit, daß manche seiner Charakterschilderungen
fast den Eindruck erweckten, als ob zwei schlaue Monsignori des siebzehnten
Jahrhunderts sich einander vorstellten. Von den Höfen, denen er seine
diplomatische Kunde verdankte, blickte er ungern hinab in die Niederungen
der Gesellschaft. Und doch ist das Licht der evangelischen Wahrheit in so
vielen edlen Völkern unzweifelhaft nicht durch die diplomatischen Künste
kluger Cardinäle wieder ausgelöscht worden, sondern durch die rohen
Kräfte der Dummheit, des Aberglaubens, der Gewohnheit, des Hasses, die
in den blinden Massen arbeiteten und von den Staatsmännern des Vati-
cans nur benutzt wurden. Diese thierischen und dämonischen Mächte der
Geschichte beachtete Ranke wenig; weder die wiehernde Blutgier der Mord-
banden der Bartholomäusnacht noch das fanatische ni olvido ni perdon
der spanischen Soldatesca führte er den Lesern dicht unter die Augen. Er
zeigte nicht, weßhalb Martin Luther den gekrönten Priester für den Anti-
christ halten mußte; und auch die radicale Unvernunft des Jesuitenordens,
der doch alle Staaten, in denen er herrschte, zuletzt unfehlbar zu Grunde
richtete, trat nicht grell genug heraus. Die ernste Frage, warum die brutale
Macht einen halben Sieg über die Idee davontragen konnte, ward also
nicht vollständig beantwortet.

Während der Arbeit fühlte Ranke selbst, daß die sittliche Ueberlegen-
heit des germanischen Protestantismus in seinem Buche nicht recht zur
Geltung kam, und faßte schon den Plan, in einem neuen Werke, einem
Gegenbilde, die große Zeit der Anfänge der deutschen Reformation darzu-
stellen. Wie viel schwerer dies sei, wußte er wohl. "So etwas können
wir nicht zu Stande bringen," sagte er einmal über ein Buch von Aug.
Thierry, denn die Fülle des Moments aus der vaterländischen Vergangen-
heit herauszugreifen mußte den Franzosen allerdings leichter gelingen als
den Deutschen. Doch er traute sich's zu, durch die Wärme seines reli-
giösen Gefühls zu ersetzen was ihm an patriotischer Leidenschaft abging.
Unterdessen nahm er seine Berliner Vorlesungen wieder auf und begrün-
dete dort das erste der historischen Seminare, welche seitdem, durch seine
Schüler weitergebildet, auf allen unseren Universitäten die methodische
Quellenforschung gepflegt haben. Seine Schule wurde die Pflanzstätte
einer neuen Generation von Historikern. Waitz, Sybel und viele andere
aufstrebende Talente schlossen sich ihm an, auch die Bönhasen konnten
sich der Einwirkung seines schöpferischen Geistes bald nicht mehr entziehen.
Da die Stiftung Stein's, das große Sammelwerk der Monumenta Ger-
maniae
unter Pertz's Leitung rüstig vorgeschritten war, so regte Ranke
die jungen Männer zur Verwerthung des Rohstoffes an, und mit den
"Jahrbüchern des deutschen Reichs unter dem sächsischen Hause" begann
eine lange Reihe gründlicher Arbeiten, die den Thatbestand unserer mittel-
alterlichen Geschichte ganz anders sicher stellten als Raumer es einst ver-
mocht hatte.

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Ranke’s Schule.
ſchauung der geſchilderten Zeit, daß manche ſeiner Charakterſchilderungen
faſt den Eindruck erweckten, als ob zwei ſchlaue Monſignori des ſiebzehnten
Jahrhunderts ſich einander vorſtellten. Von den Höfen, denen er ſeine
diplomatiſche Kunde verdankte, blickte er ungern hinab in die Niederungen
der Geſellſchaft. Und doch iſt das Licht der evangeliſchen Wahrheit in ſo
vielen edlen Völkern unzweifelhaft nicht durch die diplomatiſchen Künſte
kluger Cardinäle wieder ausgelöſcht worden, ſondern durch die rohen
Kräfte der Dummheit, des Aberglaubens, der Gewohnheit, des Haſſes, die
in den blinden Maſſen arbeiteten und von den Staatsmännern des Vati-
cans nur benutzt wurden. Dieſe thieriſchen und dämoniſchen Mächte der
Geſchichte beachtete Ranke wenig; weder die wiehernde Blutgier der Mord-
banden der Bartholomäusnacht noch das fanatiſche ni olvido ni perdon
der ſpaniſchen Soldatesca führte er den Leſern dicht unter die Augen. Er
zeigte nicht, weßhalb Martin Luther den gekrönten Prieſter für den Anti-
chriſt halten mußte; und auch die radicale Unvernunft des Jeſuitenordens,
der doch alle Staaten, in denen er herrſchte, zuletzt unfehlbar zu Grunde
richtete, trat nicht grell genug heraus. Die ernſte Frage, warum die brutale
Macht einen halben Sieg über die Idee davontragen konnte, ward alſo
nicht vollſtändig beantwortet.

Während der Arbeit fühlte Ranke ſelbſt, daß die ſittliche Ueberlegen-
heit des germaniſchen Proteſtantismus in ſeinem Buche nicht recht zur
Geltung kam, und faßte ſchon den Plan, in einem neuen Werke, einem
Gegenbilde, die große Zeit der Anfänge der deutſchen Reformation darzu-
ſtellen. Wie viel ſchwerer dies ſei, wußte er wohl. „So etwas können
wir nicht zu Stande bringen,“ ſagte er einmal über ein Buch von Aug.
Thierry, denn die Fülle des Moments aus der vaterländiſchen Vergangen-
heit herauszugreifen mußte den Franzoſen allerdings leichter gelingen als
den Deutſchen. Doch er traute ſich’s zu, durch die Wärme ſeines reli-
giöſen Gefühls zu erſetzen was ihm an patriotiſcher Leidenſchaft abging.
Unterdeſſen nahm er ſeine Berliner Vorleſungen wieder auf und begrün-
dete dort das erſte der hiſtoriſchen Seminare, welche ſeitdem, durch ſeine
Schüler weitergebildet, auf allen unſeren Univerſitäten die methodiſche
Quellenforſchung gepflegt haben. Seine Schule wurde die Pflanzſtätte
einer neuen Generation von Hiſtorikern. Waitz, Sybel und viele andere
aufſtrebende Talente ſchloſſen ſich ihm an, auch die Bönhaſen konnten
ſich der Einwirkung ſeines ſchöpferiſchen Geiſtes bald nicht mehr entziehen.
Da die Stiftung Stein’s, das große Sammelwerk der Monumenta Ger-
maniae
unter Pertz’s Leitung rüſtig vorgeſchritten war, ſo regte Ranke
die jungen Männer zur Verwerthung des Rohſtoffes an, und mit den
„Jahrbüchern des deutſchen Reichs unter dem ſächſiſchen Hauſe“ begann
eine lange Reihe gründlicher Arbeiten, die den Thatbeſtand unſerer mittel-
alterlichen Geſchichte ganz anders ſicher ſtellten als Raumer es einſt ver-
mocht hatte.

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[467/0481] Ranke’s Schule. ſchauung der geſchilderten Zeit, daß manche ſeiner Charakterſchilderungen faſt den Eindruck erweckten, als ob zwei ſchlaue Monſignori des ſiebzehnten Jahrhunderts ſich einander vorſtellten. Von den Höfen, denen er ſeine diplomatiſche Kunde verdankte, blickte er ungern hinab in die Niederungen der Geſellſchaft. Und doch iſt das Licht der evangeliſchen Wahrheit in ſo vielen edlen Völkern unzweifelhaft nicht durch die diplomatiſchen Künſte kluger Cardinäle wieder ausgelöſcht worden, ſondern durch die rohen Kräfte der Dummheit, des Aberglaubens, der Gewohnheit, des Haſſes, die in den blinden Maſſen arbeiteten und von den Staatsmännern des Vati- cans nur benutzt wurden. Dieſe thieriſchen und dämoniſchen Mächte der Geſchichte beachtete Ranke wenig; weder die wiehernde Blutgier der Mord- banden der Bartholomäusnacht noch das fanatiſche ni olvido ni perdon der ſpaniſchen Soldatesca führte er den Leſern dicht unter die Augen. Er zeigte nicht, weßhalb Martin Luther den gekrönten Prieſter für den Anti- chriſt halten mußte; und auch die radicale Unvernunft des Jeſuitenordens, der doch alle Staaten, in denen er herrſchte, zuletzt unfehlbar zu Grunde richtete, trat nicht grell genug heraus. Die ernſte Frage, warum die brutale Macht einen halben Sieg über die Idee davontragen konnte, ward alſo nicht vollſtändig beantwortet. Während der Arbeit fühlte Ranke ſelbſt, daß die ſittliche Ueberlegen- heit des germaniſchen Proteſtantismus in ſeinem Buche nicht recht zur Geltung kam, und faßte ſchon den Plan, in einem neuen Werke, einem Gegenbilde, die große Zeit der Anfänge der deutſchen Reformation darzu- ſtellen. Wie viel ſchwerer dies ſei, wußte er wohl. „So etwas können wir nicht zu Stande bringen,“ ſagte er einmal über ein Buch von Aug. Thierry, denn die Fülle des Moments aus der vaterländiſchen Vergangen- heit herauszugreifen mußte den Franzoſen allerdings leichter gelingen als den Deutſchen. Doch er traute ſich’s zu, durch die Wärme ſeines reli- giöſen Gefühls zu erſetzen was ihm an patriotiſcher Leidenſchaft abging. Unterdeſſen nahm er ſeine Berliner Vorleſungen wieder auf und begrün- dete dort das erſte der hiſtoriſchen Seminare, welche ſeitdem, durch ſeine Schüler weitergebildet, auf allen unſeren Univerſitäten die methodiſche Quellenforſchung gepflegt haben. Seine Schule wurde die Pflanzſtätte einer neuen Generation von Hiſtorikern. Waitz, Sybel und viele andere aufſtrebende Talente ſchloſſen ſich ihm an, auch die Bönhaſen konnten ſich der Einwirkung ſeines ſchöpferiſchen Geiſtes bald nicht mehr entziehen. Da die Stiftung Stein’s, das große Sammelwerk der Monumenta Ger- maniae unter Pertz’s Leitung rüſtig vorgeſchritten war, ſo regte Ranke die jungen Männer zur Verwerthung des Rohſtoffes an, und mit den „Jahrbüchern des deutſchen Reichs unter dem ſächſiſchen Hauſe“ begann eine lange Reihe gründlicher Arbeiten, die den Thatbeſtand unſerer mittel- alterlichen Geſchichte ganz anders ſicher ſtellten als Raumer es einſt ver- mocht hatte. 30*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/481>, abgerufen am 24.11.2024.