Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland. entscheidend" -- und warf sofort die Frage auf: "Wie muß eine Ver-fassung überhaupt beschaffen sein, um den durch Vernunft und Geschichte gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entsprechen?" In einem regelrechten Kathedervortrage zählte er sodann, mit 1 und 2, mit a und b, alle die nothwendigen "Garantien des verfassungsmäßigen Volkslebens" her. Da prangten wie die aufgespießten Käfer einer In- sektensammlung neben einander: zuerst die Volkserziehung, die sittliche und die politische -- denn "die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht ebenso für eine Hauptstütze des monarchischen Freistaates, wie die Un- wissenheit und Stüpidität des Volks für eine Grundlage der Despotie" -- sodann "die Sprech- und Preßfreiheit, d. i. die Publicität", ferner eine unabhängige Gemeindeverfassung und eine kräftige Volksvertretung, endlich "die Nationalbewaffnung oder Landwehr" -- denn "der Geist einer Soldatesca ist schon an sich von dem Geiste des Volkes völlig verschieden" und muß, wenn das stehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min- destens durch kurze Dienstzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden. Nach diesen Grundsätzen wollte Jordan die Vorschläge der Regierung be- urtheilt sehen: "richtige Principien sind auch hier wie überall die Haupt- sache." Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland. entſcheidend“ — und warf ſofort die Frage auf: „Wie muß eine Ver-faſſung überhaupt beſchaffen ſein, um den durch Vernunft und Geſchichte gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entſprechen?“ In einem regelrechten Kathedervortrage zählte er ſodann, mit 1 und 2, mit a und b, alle die nothwendigen „Garantien des verfaſſungsmäßigen Volkslebens“ her. Da prangten wie die aufgeſpießten Käfer einer In- ſektenſammlung neben einander: zuerſt die Volkserziehung, die ſittliche und die politiſche — denn „die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht ebenſo für eine Hauptſtütze des monarchiſchen Freiſtaates, wie die Un- wiſſenheit und Stüpidität des Volks für eine Grundlage der Despotie“ — ſodann „die Sprech- und Preßfreiheit, d. i. die Publicität“, ferner eine unabhängige Gemeindeverfaſſung und eine kräftige Volksvertretung, endlich „die Nationalbewaffnung oder Landwehr“ — denn „der Geiſt einer Soldatesca iſt ſchon an ſich von dem Geiſte des Volkes völlig verſchieden“ und muß, wenn das ſtehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min- deſtens durch kurze Dienſtzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden. Nach dieſen Grundſätzen wollte Jordan die Vorſchläge der Regierung be- urtheilt ſehen: „richtige Principien ſind auch hier wie überall die Haupt- ſache.“ Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0146" n="132"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.</fw><lb/> entſcheidend“ — und warf ſofort die Frage auf: „Wie muß eine Ver-<lb/> faſſung überhaupt beſchaffen ſein, um den durch Vernunft und Geſchichte<lb/> gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entſprechen?“ In<lb/> einem regelrechten Kathedervortrage zählte er ſodann, mit 1 und 2, mit<lb/><hi rendition="#aq">a</hi> und <hi rendition="#aq">b</hi>, alle die nothwendigen „Garantien des verfaſſungsmäßigen<lb/> Volkslebens“ her. 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IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
entſcheidend“ — und warf ſofort die Frage auf: „Wie muß eine Ver-
faſſung überhaupt beſchaffen ſein, um den durch Vernunft und Geſchichte
gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entſprechen?“ In
einem regelrechten Kathedervortrage zählte er ſodann, mit 1 und 2, mit
a und b, alle die nothwendigen „Garantien des verfaſſungsmäßigen
Volkslebens“ her. Da prangten wie die aufgeſpießten Käfer einer In-
ſektenſammlung neben einander: zuerſt die Volkserziehung, die ſittliche
und die politiſche — denn „die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht
ebenſo für eine Hauptſtütze des monarchiſchen Freiſtaates, wie die Un-
wiſſenheit und Stüpidität des Volks für eine Grundlage der Despotie“
— ſodann „die Sprech- und Preßfreiheit, d. i. die Publicität“, ferner
eine unabhängige Gemeindeverfaſſung und eine kräftige Volksvertretung,
endlich „die Nationalbewaffnung oder Landwehr“ — denn „der Geiſt einer
Soldatesca iſt ſchon an ſich von dem Geiſte des Volkes völlig verſchieden“
und muß, wenn das ſtehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min-
deſtens durch kurze Dienſtzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden.
Nach dieſen Grundſätzen wollte Jordan die Vorſchläge der Regierung be-
urtheilt ſehen: „richtige Principien ſind auch hier wie überall die Haupt-
ſache.“
Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn
er verkündete mit ehrlicher Begeiſterung, mit einer Zuverſicht, als ob ein
Zweifel gar nicht möglich ſei, alle die Glaubensſätze des vernunftrecht-
lichen Katechismus, welche den deutſchen Liberalen heilig waren, und
hinter den doctrinären Gemeinplätzen verbarg ſich ein praktiſcher, nach
den trüben Erfahrungen der kurheſſiſchen Geſchichte nur allzu berechtigter
Gedanke: die Abſicht beſtändiger Vertheidigung gegen fürſtliche Ueber-
griffe. Jordan dachte ſeinen monarchiſchen Freiſtaat alſo einzurichten,
daß die Regierung von den Vorſchriften der Verfaſſung unmöglich ab-
weichen könnte, und da die Landſtände alleſammt, trotz ihrer unerſchütter-
lichen dynaſtiſchen Treue, den Argwohn gegen den Kurfürſten theilten,
ſo wurde der Verfaſſungsentwurf völlig umgeſtaltet. Der Marburger
Profeſſor behauptete dabei die unbeſtrittene Leitung. In ſeinen Collegien-
heften ſtanden alle die Paragraphen, welche ein Volk frei und glücklich
machen können, längſt ſäuberlich aufgezeichnet; für jeden Herzenswunſch
der öffentlichen Meinung fand er ſofort den vernunftrechtlichen Ausdruck,
und dieſe Fertigkeit des haſtigen Formulirens, die in unerfahrenen Par-
lamenten immer überſchätzt wird, verſchaffte ihm den Ruf ſtaatsmänniſcher
Weisheit. So gelangten die Verhandlungen raſch zum Ziele; man wußte
was man wollte, und für unnütze Redekünſte bot dieſer Landtag, der noch
geheim tagte, keinen Raum. Schon am 5. Januar 1831 ward die neue
Verfaſſung vom Kurfürſten unterzeichnet — eines der denkwürdigſten
deutſchen Grundgeſetze, bedeutſam nicht blos durch ſeine ſtürmiſchen Schick-
ſale, ſondern auch durch ſeinen Inhalt; denn nirgends ſonſt zeigte ſich
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