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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
von Kaiser und Reich war die Frage rechtlich nicht zu lösen. Die Welfen
wußten sich wieder nicht zu helfen, und wieder mußte Preußen sie vor-
wärts treiben.

König Friedrich Wilhelm zeigte sich in diesem Handel überraschend
fest und sicher. Wie tief er auch von der Heiligkeit des monarchischen
Rechtes durchdrungen war, so sagte ihm doch sein ehrliches Gewissen, daß
jedem menschlichen Rechte eine letzte Schranke gesetzt ist. Er hielt es für
eine sittliche Pflicht, den deutschen Fürstenstand von einem Unwürdigen
zu befreien, und für ein Gebot der Klugheit, der Nation in dieser Zeit
der Gährung zu beweisen, daß mindestens das Uebermaß fürstlicher Will-
kür in Deutschland nicht geduldet werde. Kurz und kühl erwiderte er
auf einen neuen Brief des Flüchtlings: die Agnaten und dann der Bund
hätten noch einmal zu sprechen, die deutschen Fürsten würden Alles "aus
dem Gesichtspunkt fürstlicher Ehre und Würde in sorgfältige Erwägung
ziehen".*) Weder die legitimistischen Doctrinen seines Schwagers Karl von
Mecklenburg noch die Bitten der braunschweigischen Verwandtschaft ver-
mochten ihn umzustimmen. Als Karl's Großmutter, die greise, halb
erblindete Markgräfin Amalie von Baden und deren Tochter, die Königin-
Wittwe Karoline von Baiern ihm nach Frauenart vorstellten, der Ver-
bannte werde durch "sein schreckliches Unglück" hoffentlich gebessert wer-
den, da antwortete der König: "Zur Wiederherstellung der Ordnung im
Herzogthum und zur Sicherung der Ruhe in den Nachbarlanden giebt
es nur das eine Mittel: die Regierungsunfähigkeit, wovon Herzog Karl
nur zu arge Proben gegeben hat, förmlich anzuerkennen und die Staats-
gewalt in den Händen seines Bruders gesetzlich zu befestigen."**)

In diesem Sinne war auch die neue Denkschrift gehalten, welche das
Auswärtige Amt am 9. Jan. 1831 dem hannoverschen Gesandten Reden
für die Agnaten übergab. Sie führte aus: nachdem die Statthalterschaft
durch Karl's letzte Schritte unmöglich geworden, sollten die Agnaten nicht
als Richter auftreten, sondern lediglich die Thatsache der "absoluten Re-
gierungsunfähigkeit" des Herzogs feststellen. "Eine in Ausübung der
Regierungsgewalt bewiesene Bösartigkeit, welche gerade wegen der dabei
vorhandenen völligen Zurechnungsfähigkeit die Gemüther seiner Unter-
thanen gegen ihn empört hat," macht ihn unfähig zu regieren, "weil der
Eindruck seiner Handlungen nicht ausgelöscht zu werden vermag." Solche
Pflichtverletzungen würden, von einem Privatmann begangen, nicht zur
Entmündigung führen, sondern "ganz andere Folgen haben". Ist die
Thatsache der Regierungsunfähigkeit Karl's durch die Agnaten förmlich
anerkannt, so übernimmt Herzog Wilhelm, nicht durch Uebertragung, son-

*) König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 19. Jan. 1831.
**) Markgr. Amalie an K. Karoline, 30. Nov. K. Karoline an K. Friedrich Wilhelm,
3. Dec. Antwort, 16. Dec. 1830.

IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
von Kaiſer und Reich war die Frage rechtlich nicht zu löſen. Die Welfen
wußten ſich wieder nicht zu helfen, und wieder mußte Preußen ſie vor-
wärts treiben.

König Friedrich Wilhelm zeigte ſich in dieſem Handel überraſchend
feſt und ſicher. Wie tief er auch von der Heiligkeit des monarchiſchen
Rechtes durchdrungen war, ſo ſagte ihm doch ſein ehrliches Gewiſſen, daß
jedem menſchlichen Rechte eine letzte Schranke geſetzt iſt. Er hielt es für
eine ſittliche Pflicht, den deutſchen Fürſtenſtand von einem Unwürdigen
zu befreien, und für ein Gebot der Klugheit, der Nation in dieſer Zeit
der Gährung zu beweiſen, daß mindeſtens das Uebermaß fürſtlicher Will-
kür in Deutſchland nicht geduldet werde. Kurz und kühl erwiderte er
auf einen neuen Brief des Flüchtlings: die Agnaten und dann der Bund
hätten noch einmal zu ſprechen, die deutſchen Fürſten würden Alles „aus
dem Geſichtspunkt fürſtlicher Ehre und Würde in ſorgfältige Erwägung
ziehen“.*) Weder die legitimiſtiſchen Doctrinen ſeines Schwagers Karl von
Mecklenburg noch die Bitten der braunſchweigiſchen Verwandtſchaft ver-
mochten ihn umzuſtimmen. Als Karl’s Großmutter, die greiſe, halb
erblindete Markgräfin Amalie von Baden und deren Tochter, die Königin-
Wittwe Karoline von Baiern ihm nach Frauenart vorſtellten, der Ver-
bannte werde durch „ſein ſchreckliches Unglück“ hoffentlich gebeſſert wer-
den, da antwortete der König: „Zur Wiederherſtellung der Ordnung im
Herzogthum und zur Sicherung der Ruhe in den Nachbarlanden giebt
es nur das eine Mittel: die Regierungsunfähigkeit, wovon Herzog Karl
nur zu arge Proben gegeben hat, förmlich anzuerkennen und die Staats-
gewalt in den Händen ſeines Bruders geſetzlich zu befeſtigen.“**)

In dieſem Sinne war auch die neue Denkſchrift gehalten, welche das
Auswärtige Amt am 9. Jan. 1831 dem hannoverſchen Geſandten Reden
für die Agnaten übergab. Sie führte aus: nachdem die Statthalterſchaft
durch Karl’s letzte Schritte unmöglich geworden, ſollten die Agnaten nicht
als Richter auftreten, ſondern lediglich die Thatſache der „abſoluten Re-
gierungsunfähigkeit“ des Herzogs feſtſtellen. „Eine in Ausübung der
Regierungsgewalt bewieſene Bösartigkeit, welche gerade wegen der dabei
vorhandenen völligen Zurechnungsfähigkeit die Gemüther ſeiner Unter-
thanen gegen ihn empört hat,“ macht ihn unfähig zu regieren, „weil der
Eindruck ſeiner Handlungen nicht ausgelöſcht zu werden vermag.“ Solche
Pflichtverletzungen würden, von einem Privatmann begangen, nicht zur
Entmündigung führen, ſondern „ganz andere Folgen haben“. Iſt die
Thatſache der Regierungsunfähigkeit Karl’s durch die Agnaten förmlich
anerkannt, ſo übernimmt Herzog Wilhelm, nicht durch Uebertragung, ſon-

*) König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 19. Jan. 1831.
**) Markgr. Amalie an K. Karoline, 30. Nov. K. Karoline an K. Friedrich Wilhelm,
3. Dec. Antwort, 16. Dec. 1830.
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[114/0128] IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland. von Kaiſer und Reich war die Frage rechtlich nicht zu löſen. Die Welfen wußten ſich wieder nicht zu helfen, und wieder mußte Preußen ſie vor- wärts treiben. König Friedrich Wilhelm zeigte ſich in dieſem Handel überraſchend feſt und ſicher. Wie tief er auch von der Heiligkeit des monarchiſchen Rechtes durchdrungen war, ſo ſagte ihm doch ſein ehrliches Gewiſſen, daß jedem menſchlichen Rechte eine letzte Schranke geſetzt iſt. Er hielt es für eine ſittliche Pflicht, den deutſchen Fürſtenſtand von einem Unwürdigen zu befreien, und für ein Gebot der Klugheit, der Nation in dieſer Zeit der Gährung zu beweiſen, daß mindeſtens das Uebermaß fürſtlicher Will- kür in Deutſchland nicht geduldet werde. Kurz und kühl erwiderte er auf einen neuen Brief des Flüchtlings: die Agnaten und dann der Bund hätten noch einmal zu ſprechen, die deutſchen Fürſten würden Alles „aus dem Geſichtspunkt fürſtlicher Ehre und Würde in ſorgfältige Erwägung ziehen“. *) Weder die legitimiſtiſchen Doctrinen ſeines Schwagers Karl von Mecklenburg noch die Bitten der braunſchweigiſchen Verwandtſchaft ver- mochten ihn umzuſtimmen. Als Karl’s Großmutter, die greiſe, halb erblindete Markgräfin Amalie von Baden und deren Tochter, die Königin- Wittwe Karoline von Baiern ihm nach Frauenart vorſtellten, der Ver- bannte werde durch „ſein ſchreckliches Unglück“ hoffentlich gebeſſert wer- den, da antwortete der König: „Zur Wiederherſtellung der Ordnung im Herzogthum und zur Sicherung der Ruhe in den Nachbarlanden giebt es nur das eine Mittel: die Regierungsunfähigkeit, wovon Herzog Karl nur zu arge Proben gegeben hat, förmlich anzuerkennen und die Staats- gewalt in den Händen ſeines Bruders geſetzlich zu befeſtigen.“ **) In dieſem Sinne war auch die neue Denkſchrift gehalten, welche das Auswärtige Amt am 9. Jan. 1831 dem hannoverſchen Geſandten Reden für die Agnaten übergab. Sie führte aus: nachdem die Statthalterſchaft durch Karl’s letzte Schritte unmöglich geworden, ſollten die Agnaten nicht als Richter auftreten, ſondern lediglich die Thatſache der „abſoluten Re- gierungsunfähigkeit“ des Herzogs feſtſtellen. „Eine in Ausübung der Regierungsgewalt bewieſene Bösartigkeit, welche gerade wegen der dabei vorhandenen völligen Zurechnungsfähigkeit die Gemüther ſeiner Unter- thanen gegen ihn empört hat,“ macht ihn unfähig zu regieren, „weil der Eindruck ſeiner Handlungen nicht ausgelöſcht zu werden vermag.“ Solche Pflichtverletzungen würden, von einem Privatmann begangen, nicht zur Entmündigung führen, ſondern „ganz andere Folgen haben“. Iſt die Thatſache der Regierungsunfähigkeit Karl’s durch die Agnaten förmlich anerkannt, ſo übernimmt Herzog Wilhelm, nicht durch Uebertragung, ſon- *) König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 19. Jan. 1831. **) Markgr. Amalie an K. Karoline, 30. Nov. K. Karoline an K. Friedrich Wilhelm, 3. Dec. Antwort, 16. Dec. 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/128>, abgerufen am 22.12.2024.