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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Besetzung von Ancona.
wenn man nicht daran gewöhnt wäre, daß das französische wie das eng-
lische Ministerium Alles den Rücksichten der parlamentarischen Lage unter-
ordnet, Alles der nationalen Eitelkeit opfert."*)

Nach kurzer Frist beruhigten sich die Mächte wieder; sie erkannten bald,
daß die Besetzung von Ancona wirklich nur den Dünkel der französischen
Parteien beschwichtigte und sonst ohne jede Wirkung blieb. Die fünfzehn-
hundert Mann auf der halbzerfallenen Citadelle durften, da der Papst
Einspruch erhob, weder Verstärkungen herbeiziehen noch die Festungswerke
herstellen, sie mußten die päpstliche Flagge hissen, sie vertrieben sogar die
Liberalen aus der Stadt und leisteten der Polizei des Vaticans willig
Schergendienste. Fast sieben Jahre lang hielten sie in dieser lächerlichen
Lage aus, bis sie endlich im December 1838, gleichzeitig mit den Oester-
reichern das Land verließen. Inzwischen hatte sich das Priesterregiment
unter dem Schutze der kaiserlichen Waffen behaglich wieder eingerichtet.
Von ernsten Reformen war so wenig mehr die Rede, daß England schon
nach einigen Monaten seinen Bevollmächtigten von der nutzlosen römischen
Gesandtenconferenz abberief. Metternich freute sich des Starrsinns der
Curie keineswegs und ersparte ihr ernste Mahnungen nicht. Doch er
wußte auch, daß dieser Priesterstaat, den er selber bereits vor Jahren "ein
nur zu veraltetes, morsches Gebäude" genannt hatte,**) durchgreifende
Neuerungen kaum noch ertragen konnte, und schon um dem Bürger-
königthum keinen Triumph zu bereiten, wollte er den Papst nicht allzu
lebhaft bedrängen. Die Besetzung von Ancona brachte der Freiheit Italiens
keinen Gewinn; sie verhinderte sogar die bescheidenen Reformen, welche
unter der Herrschaft des gekrönten Priesters vielleicht noch möglich waren.
Der feine politische Instinkt der Italiener täuschte sich darüber nicht: die
Oesterreicher fürchtete man als harte, tapfere Feinde; der lärmende, an-
maßende, furchtsame französische Freund ward verachtet. Noch auf lange
hinaus schien die Herrschaft des Kaiserhauses auf der Halbinsel gesichert.

Das also war das Ergebniß dieser wirrenreichen Kämpfe. England
hatte die Wege des Liberalismus betreten, in Frankreich und Belgien war
die Revolution zum Siege gelangt, in Polen und Italien war sie unter-
legen. Das alte und das neue Europa hielten einander das Gleich-
gewicht. Welchem der beiden Lager würde Deutschland sich zuwenden?
-- an dieser Frage hing die nächste Zukunft der Staatengesellschaft. --



*) Ancillon an Maltzahn, 5. März 1832.
**) Metternich an Bernstorff, 17. Aug. 1820.
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 7

Beſetzung von Ancona.
wenn man nicht daran gewöhnt wäre, daß das franzöſiſche wie das eng-
liſche Miniſterium Alles den Rückſichten der parlamentariſchen Lage unter-
ordnet, Alles der nationalen Eitelkeit opfert.“*)

Nach kurzer Friſt beruhigten ſich die Mächte wieder; ſie erkannten bald,
daß die Beſetzung von Ancona wirklich nur den Dünkel der franzöſiſchen
Parteien beſchwichtigte und ſonſt ohne jede Wirkung blieb. Die fünfzehn-
hundert Mann auf der halbzerfallenen Citadelle durften, da der Papſt
Einſpruch erhob, weder Verſtärkungen herbeiziehen noch die Feſtungswerke
herſtellen, ſie mußten die päpſtliche Flagge hiſſen, ſie vertrieben ſogar die
Liberalen aus der Stadt und leiſteten der Polizei des Vaticans willig
Schergendienſte. Faſt ſieben Jahre lang hielten ſie in dieſer lächerlichen
Lage aus, bis ſie endlich im December 1838, gleichzeitig mit den Oeſter-
reichern das Land verließen. Inzwiſchen hatte ſich das Prieſterregiment
unter dem Schutze der kaiſerlichen Waffen behaglich wieder eingerichtet.
Von ernſten Reformen war ſo wenig mehr die Rede, daß England ſchon
nach einigen Monaten ſeinen Bevollmächtigten von der nutzloſen römiſchen
Geſandtenconferenz abberief. Metternich freute ſich des Starrſinns der
Curie keineswegs und erſparte ihr ernſte Mahnungen nicht. Doch er
wußte auch, daß dieſer Prieſterſtaat, den er ſelber bereits vor Jahren „ein
nur zu veraltetes, morſches Gebäude“ genannt hatte,**) durchgreifende
Neuerungen kaum noch ertragen konnte, und ſchon um dem Bürger-
königthum keinen Triumph zu bereiten, wollte er den Papſt nicht allzu
lebhaft bedrängen. Die Beſetzung von Ancona brachte der Freiheit Italiens
keinen Gewinn; ſie verhinderte ſogar die beſcheidenen Reformen, welche
unter der Herrſchaft des gekrönten Prieſters vielleicht noch möglich waren.
Der feine politiſche Inſtinkt der Italiener täuſchte ſich darüber nicht: die
Oeſterreicher fürchtete man als harte, tapfere Feinde; der lärmende, an-
maßende, furchtſame franzöſiſche Freund ward verachtet. Noch auf lange
hinaus ſchien die Herrſchaft des Kaiſerhauſes auf der Halbinſel geſichert.

Das alſo war das Ergebniß dieſer wirrenreichen Kämpfe. England
hatte die Wege des Liberalismus betreten, in Frankreich und Belgien war
die Revolution zum Siege gelangt, in Polen und Italien war ſie unter-
legen. Das alte und das neue Europa hielten einander das Gleich-
gewicht. Welchem der beiden Lager würde Deutſchland ſich zuwenden?
— an dieſer Frage hing die nächſte Zukunft der Staatengeſellſchaft. —



*) Ancillon an Maltzahn, 5. März 1832.
**) Metternich an Bernſtorff, 17. Aug. 1820.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 7
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[97/0111] Beſetzung von Ancona. wenn man nicht daran gewöhnt wäre, daß das franzöſiſche wie das eng- liſche Miniſterium Alles den Rückſichten der parlamentariſchen Lage unter- ordnet, Alles der nationalen Eitelkeit opfert.“ *) Nach kurzer Friſt beruhigten ſich die Mächte wieder; ſie erkannten bald, daß die Beſetzung von Ancona wirklich nur den Dünkel der franzöſiſchen Parteien beſchwichtigte und ſonſt ohne jede Wirkung blieb. Die fünfzehn- hundert Mann auf der halbzerfallenen Citadelle durften, da der Papſt Einſpruch erhob, weder Verſtärkungen herbeiziehen noch die Feſtungswerke herſtellen, ſie mußten die päpſtliche Flagge hiſſen, ſie vertrieben ſogar die Liberalen aus der Stadt und leiſteten der Polizei des Vaticans willig Schergendienſte. Faſt ſieben Jahre lang hielten ſie in dieſer lächerlichen Lage aus, bis ſie endlich im December 1838, gleichzeitig mit den Oeſter- reichern das Land verließen. Inzwiſchen hatte ſich das Prieſterregiment unter dem Schutze der kaiſerlichen Waffen behaglich wieder eingerichtet. Von ernſten Reformen war ſo wenig mehr die Rede, daß England ſchon nach einigen Monaten ſeinen Bevollmächtigten von der nutzloſen römiſchen Geſandtenconferenz abberief. Metternich freute ſich des Starrſinns der Curie keineswegs und erſparte ihr ernſte Mahnungen nicht. Doch er wußte auch, daß dieſer Prieſterſtaat, den er ſelber bereits vor Jahren „ein nur zu veraltetes, morſches Gebäude“ genannt hatte, **) durchgreifende Neuerungen kaum noch ertragen konnte, und ſchon um dem Bürger- königthum keinen Triumph zu bereiten, wollte er den Papſt nicht allzu lebhaft bedrängen. Die Beſetzung von Ancona brachte der Freiheit Italiens keinen Gewinn; ſie verhinderte ſogar die beſcheidenen Reformen, welche unter der Herrſchaft des gekrönten Prieſters vielleicht noch möglich waren. Der feine politiſche Inſtinkt der Italiener täuſchte ſich darüber nicht: die Oeſterreicher fürchtete man als harte, tapfere Feinde; der lärmende, an- maßende, furchtſame franzöſiſche Freund ward verachtet. Noch auf lange hinaus ſchien die Herrſchaft des Kaiſerhauſes auf der Halbinſel geſichert. Das alſo war das Ergebniß dieſer wirrenreichen Kämpfe. England hatte die Wege des Liberalismus betreten, in Frankreich und Belgien war die Revolution zum Siege gelangt, in Polen und Italien war ſie unter- legen. Das alte und das neue Europa hielten einander das Gleich- gewicht. Welchem der beiden Lager würde Deutſchland ſich zuwenden? — an dieſer Frage hing die nächſte Zukunft der Staatengeſellſchaft. — *) Ancillon an Maltzahn, 5. März 1832. **) Metternich an Bernſtorff, 17. Aug. 1820. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 7

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/111>, abgerufen am 30.11.2024.