Zweiter Abschnitt. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
Kleine Staaten erscheinen leicht lächerlich; denn der Staat ist Macht, und die Ohnmacht widerspricht sich selber sobald sie als Macht auftreten will. Wo aber die Thatkraft einer großen Nation sich nur in den arm- seligen Händeln kleiner Gemeinwesen zu äußern vermag, da werden folgen- schwere Wandlungen des Völkerlebens oft vorbereitet durch unscheinbare particularistische Bewegungen die für sich allein wenig, insgesammt viel bedeuten. Neue politische Gedanken können ihre Nothwendigkeit nicht über- zeugender erweisen, als wenn sie in einem zersplitterten Volke, zur selben Zeit an verschiedenen Stellen auftreten und durch mannichfaltige Hemmnisse hindurch sich ihre Bahn brechen; der gleiche Erfolg, die ungewollte und doch unverkennbare innere Verwandtschaft solcher Einzelkämpfe bekunden dann zugleich die schöpferische Naturgewalt der nationalen Einheit. Der- weil Europa die Pariser Barrikadenhelden mit Huldigungen überschüttete, wurden die Straßenunruhen der kleinen norddeutschen Hauptstädte im Auslande nur mit spöttischem Lächeln angesehen, ja manche der Führer dieser winzigen Revolutionen betrachteten sich selber nur als bescheidene Schüler der unerreichbaren Franzosen. Und doch war diese verzettelte deutsche Bewegung mit aller ihrer kleinstädtischen Abgeschmacktheit besser berechtigt und in ihrer letzten Nachwirkung fruchtbarer als ihr vielbe- wundertes Vorbild. Durch die Juli-Revolution nur gefördert, keineswegs verursacht, entsprang sie naturgemäß aus einer veralteten Gesellschafts- ordnung, die weit schwerer drückte als die politischen Mißgriffe der Bour- bonen, und verwirklichte in den altständischen Gemeinwesen des Nordens die Ideen der Rechtsgleichheit und des Staatsbürgerthums, welche im übrigen Deutschland sich schon längst durchgesetzt hatten, so daß jetzt erst eine allen Deutschen gemeinsame Staatsgesinnung, ein über die Grenzen der Einzelstaaten hinausreichendes Parteileben, ein bewußter Kampf um die Reform des nationalen Gesammtstaates nach und nach möglich wurde.
Unter allen diesen kleinen Staatsumwälzungen erregte der Braun- schweiger Aufstand das größte Aufsehen; denn hier allein wurde der noth- wendige Umschwung durch revolutionäre Mittel, durch offenbaren Rechts-
Zweiter Abſchnitt. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Kleine Staaten erſcheinen leicht lächerlich; denn der Staat iſt Macht, und die Ohnmacht widerſpricht ſich ſelber ſobald ſie als Macht auftreten will. Wo aber die Thatkraft einer großen Nation ſich nur in den arm- ſeligen Händeln kleiner Gemeinweſen zu äußern vermag, da werden folgen- ſchwere Wandlungen des Völkerlebens oft vorbereitet durch unſcheinbare particulariſtiſche Bewegungen die für ſich allein wenig, insgeſammt viel bedeuten. Neue politiſche Gedanken können ihre Nothwendigkeit nicht über- zeugender erweiſen, als wenn ſie in einem zerſplitterten Volke, zur ſelben Zeit an verſchiedenen Stellen auftreten und durch mannichfaltige Hemmniſſe hindurch ſich ihre Bahn brechen; der gleiche Erfolg, die ungewollte und doch unverkennbare innere Verwandtſchaft ſolcher Einzelkämpfe bekunden dann zugleich die ſchöpferiſche Naturgewalt der nationalen Einheit. Der- weil Europa die Pariſer Barrikadenhelden mit Huldigungen überſchüttete, wurden die Straßenunruhen der kleinen norddeutſchen Hauptſtädte im Auslande nur mit ſpöttiſchem Lächeln angeſehen, ja manche der Führer dieſer winzigen Revolutionen betrachteten ſich ſelber nur als beſcheidene Schüler der unerreichbaren Franzoſen. Und doch war dieſe verzettelte deutſche Bewegung mit aller ihrer kleinſtädtiſchen Abgeſchmacktheit beſſer berechtigt und in ihrer letzten Nachwirkung fruchtbarer als ihr vielbe- wundertes Vorbild. Durch die Juli-Revolution nur gefördert, keineswegs verurſacht, entſprang ſie naturgemäß aus einer veralteten Geſellſchafts- ordnung, die weit ſchwerer drückte als die politiſchen Mißgriffe der Bour- bonen, und verwirklichte in den altſtändiſchen Gemeinweſen des Nordens die Ideen der Rechtsgleichheit und des Staatsbürgerthums, welche im übrigen Deutſchland ſich ſchon längſt durchgeſetzt hatten, ſo daß jetzt erſt eine allen Deutſchen gemeinſame Staatsgeſinnung, ein über die Grenzen der Einzelſtaaten hinausreichendes Parteileben, ein bewußter Kampf um die Reform des nationalen Geſammtſtaates nach und nach möglich wurde.
Unter allen dieſen kleinen Staatsumwälzungen erregte der Braun- ſchweiger Aufſtand das größte Aufſehen; denn hier allein wurde der noth- wendige Umſchwung durch revolutionäre Mittel, durch offenbaren Rechts-
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Zweiter Abſchnitt.
Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Kleine Staaten erſcheinen leicht lächerlich; denn der Staat iſt Macht,
und die Ohnmacht widerſpricht ſich ſelber ſobald ſie als Macht auftreten
will. Wo aber die Thatkraft einer großen Nation ſich nur in den arm-
ſeligen Händeln kleiner Gemeinweſen zu äußern vermag, da werden folgen-
ſchwere Wandlungen des Völkerlebens oft vorbereitet durch unſcheinbare
particulariſtiſche Bewegungen die für ſich allein wenig, insgeſammt viel
bedeuten. Neue politiſche Gedanken können ihre Nothwendigkeit nicht über-
zeugender erweiſen, als wenn ſie in einem zerſplitterten Volke, zur ſelben Zeit
an verſchiedenen Stellen auftreten und durch mannichfaltige Hemmniſſe
hindurch ſich ihre Bahn brechen; der gleiche Erfolg, die ungewollte und
doch unverkennbare innere Verwandtſchaft ſolcher Einzelkämpfe bekunden
dann zugleich die ſchöpferiſche Naturgewalt der nationalen Einheit. Der-
weil Europa die Pariſer Barrikadenhelden mit Huldigungen überſchüttete,
wurden die Straßenunruhen der kleinen norddeutſchen Hauptſtädte im
Auslande nur mit ſpöttiſchem Lächeln angeſehen, ja manche der Führer
dieſer winzigen Revolutionen betrachteten ſich ſelber nur als beſcheidene
Schüler der unerreichbaren Franzoſen. Und doch war dieſe verzettelte
deutſche Bewegung mit aller ihrer kleinſtädtiſchen Abgeſchmacktheit beſſer
berechtigt und in ihrer letzten Nachwirkung fruchtbarer als ihr vielbe-
wundertes Vorbild. Durch die Juli-Revolution nur gefördert, keineswegs
verurſacht, entſprang ſie naturgemäß aus einer veralteten Geſellſchafts-
ordnung, die weit ſchwerer drückte als die politiſchen Mißgriffe der Bour-
bonen, und verwirklichte in den altſtändiſchen Gemeinweſen des Nordens
die Ideen der Rechtsgleichheit und des Staatsbürgerthums, welche im
übrigen Deutſchland ſich ſchon längſt durchgeſetzt hatten, ſo daß jetzt erſt
eine allen Deutſchen gemeinſame Staatsgeſinnung, ein über die Grenzen
der Einzelſtaaten hinausreichendes Parteileben, ein bewußter Kampf um
die Reform des nationalen Geſammtſtaates nach und nach möglich wurde.
Unter allen dieſen kleinen Staatsumwälzungen erregte der Braun-
ſchweiger Aufſtand das größte Aufſehen; denn hier allein wurde der noth-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [98]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/112>, abgerufen am 30.11.2024.
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