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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Das Petersburger Protokoll.
frohlockte, denn nunmehr schien es unmöglich, daß die Russen einseitig
gegen die Türken vorgingen. Als das Protokoll bekannt wurde, spendete die
liberale Welt ihrem Liebling überschwänglichen Beifall. Canning erschien
als der glorreiche Befreier der Hellenen; er allein hatte bewirkt, daß die
beiden alten Gegner England und Rußland sich zusammenthaten zur Rettung
der Griechen, die sonst unzweifelhaft den überlegenen Waffen der Aegypter
unterliegen mußten. In allen Ländern Europas nahm der Philhellenis-
mus einen neuen Aufschwung; selbst in Berlin wagte Hufeland jetzt seine
Sammlungen für die Griechen öffentlich anzukündigen.

Bald zeigte sich jedoch, daß Canning's kühne Schlauheit an dem
jungen Czaren ihren Meister gefunden hatte. Nicht Rußland war durch
das Londoner Protokoll gebunden, sondern England. Ohne die Zu-
stimmung seiner russischen Freunde durfte Canning fortan in den griechi-
schen Händeln keinen Schritt mehr unternehmen. Der Petersburger Hof
dagegen behielt die Hände frei; er hatte zwei Sehnen am Bogen, denn
da im Oriente niemals ein Vertrag ehrlich gehalten wird, so kann es
dort auch niemals an Kriegsvorwänden fehlen, und Czar Nikolaus säumte
nicht gegen den Divan drohende Beschwerden zu erheben wegen der noch
unerfüllten Verheißungen des Bukarester Friedens vom Jahre 1812.
Schon im März, noch bevor die Vereinbarung mit England zu Stande
kam, zeigte er den großen Mächten an, "die besondere Stellung" Ruß-
lands gegenüber der Türkei müsse ungesäumt geordnet werden. England
konnte ihn daran nicht hindern, da sich das Petersburger Protokoll nur
auf die griechische Frage bezog.

Metternich aber, verblendet durch den Doktrinarismus seiner Revo-
lutionsfurcht, arbeitete dem Czaren arglos in die Hände. Er wollte auf
der Welt nichts mehr sehen als die beiden großen Heerlager der Revo-
lution und der Legitimität; befangen in diesem Ideenkreise vermochte
er die harte Interessenpolitik, welche der Czar so gut wie Canning im
Oriente befolgte, nicht zu verstehen. Weil Canning von der liberalen
Welt vergöttert wurde, darum blieb er in Metternich's Augen die Welt-
geißel, das blendende Meteor des Unheils, das vor der dauernden
Größe der Wiener Staatskunst bald erbleichen mußte -- und wie die
freundlichen Ergüsse Metternich'scher Selbstberäucherung sonst lauteten;
nur vor Canning's revolutionären Umtrieben mußte der Sultan behütet
werden, obgleich der englische Staatsmann die Erhaltung des türkischen
Reichs ganz ebenso aufrichtig wünschte wie die Hofburg selber. Der
junge Czar hatte bei seiner Thronbesteigung die Revolution niedergewor-
fen und seinen Abscheu gegen die Griechen, diese Rebellen und unver-
besserlichen Barbaren, wiederholt und nachdrücklich ausgesprochen; folg-
lich war er nach Metternich's Urtheil der Mann des Friedens und der
Ordnung, Alles was er that und redete war parfait, unmöglich konnte
er daran denken, mit einem Heere, das selbst von revolutionären Ideen

Das Petersburger Protokoll.
frohlockte, denn nunmehr ſchien es unmöglich, daß die Ruſſen einſeitig
gegen die Türken vorgingen. Als das Protokoll bekannt wurde, ſpendete die
liberale Welt ihrem Liebling überſchwänglichen Beifall. Canning erſchien
als der glorreiche Befreier der Hellenen; er allein hatte bewirkt, daß die
beiden alten Gegner England und Rußland ſich zuſammenthaten zur Rettung
der Griechen, die ſonſt unzweifelhaft den überlegenen Waffen der Aegypter
unterliegen mußten. In allen Ländern Europas nahm der Philhellenis-
mus einen neuen Aufſchwung; ſelbſt in Berlin wagte Hufeland jetzt ſeine
Sammlungen für die Griechen öffentlich anzukündigen.

Bald zeigte ſich jedoch, daß Canning’s kühne Schlauheit an dem
jungen Czaren ihren Meiſter gefunden hatte. Nicht Rußland war durch
das Londoner Protokoll gebunden, ſondern England. Ohne die Zu-
ſtimmung ſeiner ruſſiſchen Freunde durfte Canning fortan in den griechi-
ſchen Händeln keinen Schritt mehr unternehmen. Der Petersburger Hof
dagegen behielt die Hände frei; er hatte zwei Sehnen am Bogen, denn
da im Oriente niemals ein Vertrag ehrlich gehalten wird, ſo kann es
dort auch niemals an Kriegsvorwänden fehlen, und Czar Nikolaus ſäumte
nicht gegen den Divan drohende Beſchwerden zu erheben wegen der noch
unerfüllten Verheißungen des Bukareſter Friedens vom Jahre 1812.
Schon im März, noch bevor die Vereinbarung mit England zu Stande
kam, zeigte er den großen Mächten an, „die beſondere Stellung“ Ruß-
lands gegenüber der Türkei müſſe ungeſäumt geordnet werden. England
konnte ihn daran nicht hindern, da ſich das Petersburger Protokoll nur
auf die griechiſche Frage bezog.

Metternich aber, verblendet durch den Doktrinarismus ſeiner Revo-
lutionsfurcht, arbeitete dem Czaren arglos in die Hände. Er wollte auf
der Welt nichts mehr ſehen als die beiden großen Heerlager der Revo-
lution und der Legitimität; befangen in dieſem Ideenkreiſe vermochte
er die harte Intereſſenpolitik, welche der Czar ſo gut wie Canning im
Oriente befolgte, nicht zu verſtehen. Weil Canning von der liberalen
Welt vergöttert wurde, darum blieb er in Metternich’s Augen die Welt-
geißel, das blendende Meteor des Unheils, das vor der dauernden
Größe der Wiener Staatskunſt bald erbleichen mußte — und wie die
freundlichen Ergüſſe Metternich’ſcher Selbſtberäucherung ſonſt lauteten;
nur vor Canning’s revolutionären Umtrieben mußte der Sultan behütet
werden, obgleich der engliſche Staatsmann die Erhaltung des türkiſchen
Reichs ganz ebenſo aufrichtig wünſchte wie die Hofburg ſelber. Der
junge Czar hatte bei ſeiner Thronbeſteigung die Revolution niedergewor-
fen und ſeinen Abſcheu gegen die Griechen, dieſe Rebellen und unver-
beſſerlichen Barbaren, wiederholt und nachdrücklich ausgeſprochen; folg-
lich war er nach Metternich’s Urtheil der Mann des Friedens und der
Ordnung, Alles was er that und redete war parfait, unmöglich konnte
er daran denken, mit einem Heere, das ſelbſt von revolutionären Ideen

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[729/0745] Das Petersburger Protokoll. frohlockte, denn nunmehr ſchien es unmöglich, daß die Ruſſen einſeitig gegen die Türken vorgingen. Als das Protokoll bekannt wurde, ſpendete die liberale Welt ihrem Liebling überſchwänglichen Beifall. Canning erſchien als der glorreiche Befreier der Hellenen; er allein hatte bewirkt, daß die beiden alten Gegner England und Rußland ſich zuſammenthaten zur Rettung der Griechen, die ſonſt unzweifelhaft den überlegenen Waffen der Aegypter unterliegen mußten. In allen Ländern Europas nahm der Philhellenis- mus einen neuen Aufſchwung; ſelbſt in Berlin wagte Hufeland jetzt ſeine Sammlungen für die Griechen öffentlich anzukündigen. Bald zeigte ſich jedoch, daß Canning’s kühne Schlauheit an dem jungen Czaren ihren Meiſter gefunden hatte. Nicht Rußland war durch das Londoner Protokoll gebunden, ſondern England. Ohne die Zu- ſtimmung ſeiner ruſſiſchen Freunde durfte Canning fortan in den griechi- ſchen Händeln keinen Schritt mehr unternehmen. Der Petersburger Hof dagegen behielt die Hände frei; er hatte zwei Sehnen am Bogen, denn da im Oriente niemals ein Vertrag ehrlich gehalten wird, ſo kann es dort auch niemals an Kriegsvorwänden fehlen, und Czar Nikolaus ſäumte nicht gegen den Divan drohende Beſchwerden zu erheben wegen der noch unerfüllten Verheißungen des Bukareſter Friedens vom Jahre 1812. Schon im März, noch bevor die Vereinbarung mit England zu Stande kam, zeigte er den großen Mächten an, „die beſondere Stellung“ Ruß- lands gegenüber der Türkei müſſe ungeſäumt geordnet werden. England konnte ihn daran nicht hindern, da ſich das Petersburger Protokoll nur auf die griechiſche Frage bezog. Metternich aber, verblendet durch den Doktrinarismus ſeiner Revo- lutionsfurcht, arbeitete dem Czaren arglos in die Hände. Er wollte auf der Welt nichts mehr ſehen als die beiden großen Heerlager der Revo- lution und der Legitimität; befangen in dieſem Ideenkreiſe vermochte er die harte Intereſſenpolitik, welche der Czar ſo gut wie Canning im Oriente befolgte, nicht zu verſtehen. Weil Canning von der liberalen Welt vergöttert wurde, darum blieb er in Metternich’s Augen die Welt- geißel, das blendende Meteor des Unheils, das vor der dauernden Größe der Wiener Staatskunſt bald erbleichen mußte — und wie die freundlichen Ergüſſe Metternich’ſcher Selbſtberäucherung ſonſt lauteten; nur vor Canning’s revolutionären Umtrieben mußte der Sultan behütet werden, obgleich der engliſche Staatsmann die Erhaltung des türkiſchen Reichs ganz ebenſo aufrichtig wünſchte wie die Hofburg ſelber. Der junge Czar hatte bei ſeiner Thronbeſteigung die Revolution niedergewor- fen und ſeinen Abſcheu gegen die Griechen, dieſe Rebellen und unver- beſſerlichen Barbaren, wiederholt und nachdrücklich ausgeſprochen; folg- lich war er nach Metternich’s Urtheil der Mann des Friedens und der Ordnung, Alles was er that und redete war parfait, unmöglich konnte er daran denken, mit einem Heere, das ſelbſt von revolutionären Ideen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 729. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/745>, abgerufen am 25.11.2024.