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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 10. Preußen und die orientalische Frage.
seinen gewaltigen Zornreden wider die Revolution vergaß er doch nicht,
daß die Empörung gegen den türkischen Erbfeind dem heiligen Rußland
Vortheil bringen konnte; und wenn er vor allem Volke in Berlin seinem
Schwiegervater mit ritterlicher Demuth die Hand küßte, so heuchelte er
nicht schlechthin -- denn der welterfahrene alte König war vielleicht der
einzige Mensch, der dem Czaren ein Gefühl der Ehrfurcht einflößte --,
aber er wußte auch sehr genau, wie solche Schauspiele kindlicher Zärtlichkeit
auf deutsche Gemüther wirken mußten.

Durch die Bändigung des Petersburger Aufstandes hatte er sich überall
in der Welt den Ruf unbeugsamer Willenskraft erworben. Der unge-
heuere Haß, der ihn späterhin, nach der polnischen Revolution, traf, lastete
jetzt noch nicht auf ihm; selbst die Liberalen erkannten die Thorheit der
Dekabristenbewegung und verdachten dem Czaren seine Gegenwehr nicht.
Aber Jedermann fühlte, daß die unrussische Politik der letzten Jahre Alexan-
ders nunmehr enden mußte. Das Volk murrte über die Bevorzugung der
Deutschen und der Polen. Der neue Czar that nur das Nothwendige,
als er die moskowitische Sitte wieder begünstigte, und nicht minder noth-
wendig war sein entschlossenes Auftreten gegenüber dem türkischen Nachbarn.
Er durfte bei den Kämpfen der griechischen Glaubensgenossen nicht thatlos
bleiben, schon weil sein von Parteien unterwühltes Heer der Beschäf-
tigung bedurfte.

Niemand durchschaute die veränderte Lage früher als Canning.
Der englische Staatsmann stand jetzt auf der Höhe seines Ruhmes.
Die Liberalen aller Länder jubelten auf bei seinem Trinkspruche: Freiheit,
politische und religiöse, in der ganzen Welt! -- und bald kam die Zeit,
da er in drohender Rede an den Schlauch des Aeolus erinnerte, an die
Mächte der Revolution, welche das freie England nach Belieben ent-
fesseln könne. Gehoben durch die Gunst der Nation meinte er sich stark
genug, die alten Ueberlieferungen der orientalischen Politik seines Landes
über Bord zu werfen und eine Verständigung mit Rußland zu wagen.
Wenn es gelang, dem jungen Czaren durch einen freundschaftlichen Ver-
trag die Hände zu binden, dann wurde das gräßliche Gemetzel der Aegypter
im Peloponnes beendigt und den Griechen eine bedingte Unabhängigkeit
errungen, aber auch der Bestand des unantastbaren Osmanenreichs ge-
sichert und die Erweiterung der russischen Macht im Orient verhindert.
Darum nahm Canning die geheimen Verhandlungen mit dem russischen
Gesandten, dem Fürsten Lieven, welche schon unter Czar Alexander be-
gonnen hatten, wieder auf und sendete dann den Herzog von Wellington
nach Petersburg, der als strenger Tory dem Selbstherrscher willkommen
sein mußte. Am 4. April 1826 unterzeichnete Wellington mit Nesselrode
ein geheimes Protokoll, wodurch sich die beiden Mächte verpflichteten, in
Griechenland, nach dem Vorbilde Serbiens und der Donaufürstenthümer,
einen halbsouveränen Schutz-Staat des Sultans zu errichten. Canning

III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
ſeinen gewaltigen Zornreden wider die Revolution vergaß er doch nicht,
daß die Empörung gegen den türkiſchen Erbfeind dem heiligen Rußland
Vortheil bringen konnte; und wenn er vor allem Volke in Berlin ſeinem
Schwiegervater mit ritterlicher Demuth die Hand küßte, ſo heuchelte er
nicht ſchlechthin — denn der welterfahrene alte König war vielleicht der
einzige Menſch, der dem Czaren ein Gefühl der Ehrfurcht einflößte —,
aber er wußte auch ſehr genau, wie ſolche Schauſpiele kindlicher Zärtlichkeit
auf deutſche Gemüther wirken mußten.

Durch die Bändigung des Petersburger Aufſtandes hatte er ſich überall
in der Welt den Ruf unbeugſamer Willenskraft erworben. Der unge-
heuere Haß, der ihn ſpäterhin, nach der polniſchen Revolution, traf, laſtete
jetzt noch nicht auf ihm; ſelbſt die Liberalen erkannten die Thorheit der
Dekabriſtenbewegung und verdachten dem Czaren ſeine Gegenwehr nicht.
Aber Jedermann fühlte, daß die unruſſiſche Politik der letzten Jahre Alexan-
ders nunmehr enden mußte. Das Volk murrte über die Bevorzugung der
Deutſchen und der Polen. Der neue Czar that nur das Nothwendige,
als er die moskowitiſche Sitte wieder begünſtigte, und nicht minder noth-
wendig war ſein entſchloſſenes Auftreten gegenüber dem türkiſchen Nachbarn.
Er durfte bei den Kämpfen der griechiſchen Glaubensgenoſſen nicht thatlos
bleiben, ſchon weil ſein von Parteien unterwühltes Heer der Beſchäf-
tigung bedurfte.

Niemand durchſchaute die veränderte Lage früher als Canning.
Der engliſche Staatsmann ſtand jetzt auf der Höhe ſeines Ruhmes.
Die Liberalen aller Länder jubelten auf bei ſeinem Trinkſpruche: Freiheit,
politiſche und religiöſe, in der ganzen Welt! — und bald kam die Zeit,
da er in drohender Rede an den Schlauch des Aeolus erinnerte, an die
Mächte der Revolution, welche das freie England nach Belieben ent-
feſſeln könne. Gehoben durch die Gunſt der Nation meinte er ſich ſtark
genug, die alten Ueberlieferungen der orientaliſchen Politik ſeines Landes
über Bord zu werfen und eine Verſtändigung mit Rußland zu wagen.
Wenn es gelang, dem jungen Czaren durch einen freundſchaftlichen Ver-
trag die Hände zu binden, dann wurde das gräßliche Gemetzel der Aegypter
im Peloponnes beendigt und den Griechen eine bedingte Unabhängigkeit
errungen, aber auch der Beſtand des unantaſtbaren Osmanenreichs ge-
ſichert und die Erweiterung der ruſſiſchen Macht im Orient verhindert.
Darum nahm Canning die geheimen Verhandlungen mit dem ruſſiſchen
Geſandten, dem Fürſten Lieven, welche ſchon unter Czar Alexander be-
gonnen hatten, wieder auf und ſendete dann den Herzog von Wellington
nach Petersburg, der als ſtrenger Tory dem Selbſtherrſcher willkommen
ſein mußte. Am 4. April 1826 unterzeichnete Wellington mit Neſſelrode
ein geheimes Protokoll, wodurch ſich die beiden Mächte verpflichteten, in
Griechenland, nach dem Vorbilde Serbiens und der Donaufürſtenthümer,
einen halbſouveränen Schutz-Staat des Sultans zu errichten. Canning

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[728/0744] III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage. ſeinen gewaltigen Zornreden wider die Revolution vergaß er doch nicht, daß die Empörung gegen den türkiſchen Erbfeind dem heiligen Rußland Vortheil bringen konnte; und wenn er vor allem Volke in Berlin ſeinem Schwiegervater mit ritterlicher Demuth die Hand küßte, ſo heuchelte er nicht ſchlechthin — denn der welterfahrene alte König war vielleicht der einzige Menſch, der dem Czaren ein Gefühl der Ehrfurcht einflößte —, aber er wußte auch ſehr genau, wie ſolche Schauſpiele kindlicher Zärtlichkeit auf deutſche Gemüther wirken mußten. Durch die Bändigung des Petersburger Aufſtandes hatte er ſich überall in der Welt den Ruf unbeugſamer Willenskraft erworben. Der unge- heuere Haß, der ihn ſpäterhin, nach der polniſchen Revolution, traf, laſtete jetzt noch nicht auf ihm; ſelbſt die Liberalen erkannten die Thorheit der Dekabriſtenbewegung und verdachten dem Czaren ſeine Gegenwehr nicht. Aber Jedermann fühlte, daß die unruſſiſche Politik der letzten Jahre Alexan- ders nunmehr enden mußte. Das Volk murrte über die Bevorzugung der Deutſchen und der Polen. Der neue Czar that nur das Nothwendige, als er die moskowitiſche Sitte wieder begünſtigte, und nicht minder noth- wendig war ſein entſchloſſenes Auftreten gegenüber dem türkiſchen Nachbarn. Er durfte bei den Kämpfen der griechiſchen Glaubensgenoſſen nicht thatlos bleiben, ſchon weil ſein von Parteien unterwühltes Heer der Beſchäf- tigung bedurfte. Niemand durchſchaute die veränderte Lage früher als Canning. Der engliſche Staatsmann ſtand jetzt auf der Höhe ſeines Ruhmes. Die Liberalen aller Länder jubelten auf bei ſeinem Trinkſpruche: Freiheit, politiſche und religiöſe, in der ganzen Welt! — und bald kam die Zeit, da er in drohender Rede an den Schlauch des Aeolus erinnerte, an die Mächte der Revolution, welche das freie England nach Belieben ent- feſſeln könne. Gehoben durch die Gunſt der Nation meinte er ſich ſtark genug, die alten Ueberlieferungen der orientaliſchen Politik ſeines Landes über Bord zu werfen und eine Verſtändigung mit Rußland zu wagen. Wenn es gelang, dem jungen Czaren durch einen freundſchaftlichen Ver- trag die Hände zu binden, dann wurde das gräßliche Gemetzel der Aegypter im Peloponnes beendigt und den Griechen eine bedingte Unabhängigkeit errungen, aber auch der Beſtand des unantaſtbaren Osmanenreichs ge- ſichert und die Erweiterung der ruſſiſchen Macht im Orient verhindert. Darum nahm Canning die geheimen Verhandlungen mit dem ruſſiſchen Geſandten, dem Fürſten Lieven, welche ſchon unter Czar Alexander be- gonnen hatten, wieder auf und ſendete dann den Herzog von Wellington nach Petersburg, der als ſtrenger Tory dem Selbſtherrſcher willkommen ſein mußte. Am 4. April 1826 unterzeichnete Wellington mit Neſſelrode ein geheimes Protokoll, wodurch ſich die beiden Mächte verpflichteten, in Griechenland, nach dem Vorbilde Serbiens und der Donaufürſtenthümer, einen halbſouveränen Schutz-Staat des Sultans zu errichten. Canning

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 728. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/744>, abgerufen am 25.11.2024.