Religion die Einsamkeit hasse. Jetzt war längst erfüllt, was damals Arnim unter dem Eindruck der Reden über die Religion gesungen hatte:
Doch wo Viele sind beisammen, Zeigen sich der Andacht Flammen. Wie der Blitz wo Wolk' an Wolke Zündet Andacht sich im Volke.
In ungewohnter Kraft regte sich wieder das kirchliche Leben, und mit ihm eine Fülle des Hasses. Die unversöhnlichen Gegensätze, welche Deutsch- land barg, traten häßlich zu Tage, als Voß starb (1826) und über dem Grabe des alten Kämpfers die Parteien ihre Schwerter kreuzten. Pau- lus, Tiedemann, Schlosser verherrlichten den streitbaren Rationalisten, als ob ihm ein Platz dicht neben Luther und Lessing gebührte. Görres aber machte sich den Hochmuth der Rationalisten zu nutze und schilderte in einer gewandten Streitschrift den Verstorbenen als den geistigen König von Niederdeutschland: in ihm, wie einst in der Reformation, hätte sich der hausbackene Bauernverstand der sassischen Niederungen verkörpert. Dieser nordischen Welt des platten Verstandes stehe aber ein anderes, schöneres Deutschland gegenüber: der reiche Süden mit seiner Phantasie, seiner Kunst, seiner katholischen Kirche! -- Wo war die Brücke, welche über diese ungeheuere Kluft hinüberführte?
Unterdessen begannen die radicalen Ideen, welche seit den Revolu- tionen Südeuropas den Welttheil wieder erfüllten, auch in die deutsche Literatur einzudringen. Die prahlerische Selbstgefälligkeit des Teutonen- thums konnte nach so vielen getäuschten Hoffnungen nicht mehr dauern, ein Umschwung war nothwendig, und in der Geschichte unseres schwer lebenden Volkes pflegen solche Rückschläge meist heftig, gewaltsam, mit elementarischer Macht einzutreten. Immer blieb es ein Zeichen politischer Unreife und verschrobener Zustände, daß die Umstimmung diesmal so ganz unvermittelt erfolgte. Der neue Radicalismus, der jetzt, ohne die Spitzen unserer Bildung zu berühren, in der Jugend und den Mittel- klassen überhandnahm, war undeutsch vom Wirbel bis zur Sohle; er ver- höhnte schlechthin Alles was den Helden von Leipzig und Belle-Alliance heilig gewesen, unsere Dichtung und Wissenschaft, unseren christlichen Glauben, selbst die Thaten des Befreiungskrieges, und suchte seine Ideale in demselben Lande, das jene Aelteren mit glühendem Hasse verfolgt hatten. Es war ein Unheil für die beiden Nachbarvölker, und leider eine nothwendige Folge der vielen zwischen ihnen noch schwebenden ungelösten Machtfragen, daß sie niemals in ein ruhiges Verhältniß gegenseitiger Achtung gelangten; das Urtheil der Deutschen über die Franzosen schwankte unsicher zwischen Haß und Ueberschätzung. In Frankreich wuchs ein junges Geschlecht heran, die blutigen Gräuel der Revolution waren vergessen, alle
Schleiermacher’s Glaubenslehre.
Religion die Einſamkeit haſſe. Jetzt war längſt erfüllt, was damals Arnim unter dem Eindruck der Reden über die Religion geſungen hatte:
Doch wo Viele ſind beiſammen, Zeigen ſich der Andacht Flammen. Wie der Blitz wo Wolk’ an Wolke Zündet Andacht ſich im Volke.
In ungewohnter Kraft regte ſich wieder das kirchliche Leben, und mit ihm eine Fülle des Haſſes. Die unverſöhnlichen Gegenſätze, welche Deutſch- land barg, traten häßlich zu Tage, als Voß ſtarb (1826) und über dem Grabe des alten Kämpfers die Parteien ihre Schwerter kreuzten. Pau- lus, Tiedemann, Schloſſer verherrlichten den ſtreitbaren Rationaliſten, als ob ihm ein Platz dicht neben Luther und Leſſing gebührte. Görres aber machte ſich den Hochmuth der Rationaliſten zu nutze und ſchilderte in einer gewandten Streitſchrift den Verſtorbenen als den geiſtigen König von Niederdeutſchland: in ihm, wie einſt in der Reformation, hätte ſich der hausbackene Bauernverſtand der ſaſſiſchen Niederungen verkörpert. Dieſer nordiſchen Welt des platten Verſtandes ſtehe aber ein anderes, ſchöneres Deutſchland gegenüber: der reiche Süden mit ſeiner Phantaſie, ſeiner Kunſt, ſeiner katholiſchen Kirche! — Wo war die Brücke, welche über dieſe ungeheuere Kluft hinüberführte?
Unterdeſſen begannen die radicalen Ideen, welche ſeit den Revolu- tionen Südeuropas den Welttheil wieder erfüllten, auch in die deutſche Literatur einzudringen. Die prahleriſche Selbſtgefälligkeit des Teutonen- thums konnte nach ſo vielen getäuſchten Hoffnungen nicht mehr dauern, ein Umſchwung war nothwendig, und in der Geſchichte unſeres ſchwer lebenden Volkes pflegen ſolche Rückſchläge meiſt heftig, gewaltſam, mit elementariſcher Macht einzutreten. Immer blieb es ein Zeichen politiſcher Unreife und verſchrobener Zuſtände, daß die Umſtimmung diesmal ſo ganz unvermittelt erfolgte. Der neue Radicalismus, der jetzt, ohne die Spitzen unſerer Bildung zu berühren, in der Jugend und den Mittel- klaſſen überhandnahm, war undeutſch vom Wirbel bis zur Sohle; er ver- höhnte ſchlechthin Alles was den Helden von Leipzig und Belle-Alliance heilig geweſen, unſere Dichtung und Wiſſenſchaft, unſeren chriſtlichen Glauben, ſelbſt die Thaten des Befreiungskrieges, und ſuchte ſeine Ideale in demſelben Lande, das jene Aelteren mit glühendem Haſſe verfolgt hatten. Es war ein Unheil für die beiden Nachbarvölker, und leider eine nothwendige Folge der vielen zwiſchen ihnen noch ſchwebenden ungelöſten Machtfragen, daß ſie niemals in ein ruhiges Verhältniß gegenſeitiger Achtung gelangten; das Urtheil der Deutſchen über die Franzoſen ſchwankte unſicher zwiſchen Haß und Ueberſchätzung. In Frankreich wuchs ein junges Geſchlecht heran, die blutigen Gräuel der Revolution waren vergeſſen, alle
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Schleiermacher’s Glaubenslehre.
Religion die Einſamkeit haſſe. Jetzt war längſt erfüllt, was damals
Arnim unter dem Eindruck der Reden über die Religion geſungen hatte:
Doch wo Viele ſind beiſammen,
Zeigen ſich der Andacht Flammen.
Wie der Blitz wo Wolk’ an Wolke
Zündet Andacht ſich im Volke.
In ungewohnter Kraft regte ſich wieder das kirchliche Leben, und mit ihm
eine Fülle des Haſſes. Die unverſöhnlichen Gegenſätze, welche Deutſch-
land barg, traten häßlich zu Tage, als Voß ſtarb (1826) und über dem
Grabe des alten Kämpfers die Parteien ihre Schwerter kreuzten. Pau-
lus, Tiedemann, Schloſſer verherrlichten den ſtreitbaren Rationaliſten, als
ob ihm ein Platz dicht neben Luther und Leſſing gebührte. Görres aber
machte ſich den Hochmuth der Rationaliſten zu nutze und ſchilderte in
einer gewandten Streitſchrift den Verſtorbenen als den geiſtigen König
von Niederdeutſchland: in ihm, wie einſt in der Reformation, hätte ſich
der hausbackene Bauernverſtand der ſaſſiſchen Niederungen verkörpert.
Dieſer nordiſchen Welt des platten Verſtandes ſtehe aber ein anderes,
ſchöneres Deutſchland gegenüber: der reiche Süden mit ſeiner Phantaſie,
ſeiner Kunſt, ſeiner katholiſchen Kirche! — Wo war die Brücke, welche
über dieſe ungeheuere Kluft hinüberführte?
Unterdeſſen begannen die radicalen Ideen, welche ſeit den Revolu-
tionen Südeuropas den Welttheil wieder erfüllten, auch in die deutſche
Literatur einzudringen. Die prahleriſche Selbſtgefälligkeit des Teutonen-
thums konnte nach ſo vielen getäuſchten Hoffnungen nicht mehr dauern,
ein Umſchwung war nothwendig, und in der Geſchichte unſeres ſchwer
lebenden Volkes pflegen ſolche Rückſchläge meiſt heftig, gewaltſam, mit
elementariſcher Macht einzutreten. Immer blieb es ein Zeichen politiſcher
Unreife und verſchrobener Zuſtände, daß die Umſtimmung diesmal ſo
ganz unvermittelt erfolgte. Der neue Radicalismus, der jetzt, ohne die
Spitzen unſerer Bildung zu berühren, in der Jugend und den Mittel-
klaſſen überhandnahm, war undeutſch vom Wirbel bis zur Sohle; er ver-
höhnte ſchlechthin Alles was den Helden von Leipzig und Belle-Alliance
heilig geweſen, unſere Dichtung und Wiſſenſchaft, unſeren chriſtlichen
Glauben, ſelbſt die Thaten des Befreiungskrieges, und ſuchte ſeine Ideale
in demſelben Lande, das jene Aelteren mit glühendem Haſſe verfolgt
hatten. Es war ein Unheil für die beiden Nachbarvölker, und leider eine
nothwendige Folge der vielen zwiſchen ihnen noch ſchwebenden ungelöſten
Machtfragen, daß ſie niemals in ein ruhiges Verhältniß gegenſeitiger
Achtung gelangten; das Urtheil der Deutſchen über die Franzoſen ſchwankte
unſicher zwiſchen Haß und Ueberſchätzung. In Frankreich wuchs ein junges
Geſchlecht heran, die blutigen Gräuel der Revolution waren vergeſſen, alle
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 701. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/717>, abgerufen am 25.11.2024.
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