Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
Welt sprach wieder von der Glorie der Bastillestürmer, und in dies Selbst-
lob der Franzosen stimmte eine Schaar von Deutschen, die mit jedem Jahre
wuchs, begeistert ein. Unwiderstehlich drangen seit der Mitte der zwan-
ziger Jahre Frankreichs politische Ideen über den Rhein hinüber.

Niemals in aller Geschichte hat sich der Sieger so freiwillig unter
das Joch des Besiegten gebeugt. Als Frankreich im Zeitalter Lud-
wig's XIV. unsere Bildung beherrschte, da konnte das entvölkerte und ver-
stümmelte Deutschland von dem gallischen Sieger fast nur empfangen.
Jetzt behaupteten die Franzosen nur noch in den exakten Wissenschaften
den Vorrang, auf allen anderen Gebieten der Literatur und Kunst waren
die Deutschen ihnen ebenbürtig oder überlegen. Mochte der Deutsche seinen
Nachbarn um die früher errungene Staatseinheit mit Recht beneiden,
Preußen zum mindesten besaß in seiner nationalen Krone, seiner Wehr-
pflicht, seinem Schulwesen, seiner Selbstverwaltung, seinem redlichen Be-
amtenthum alle die Grundlagen eines geordneten und freien politischen
Lebens, welche dem französischen Staate fehlten. Aber der laute, von
den Pariser Kammerrednern und Zeitungsschreibern mit so glänzendem
Talent geführte Parteikampf erschien der radicalen Jugend Deutsch-
lands nicht als ein Beweis hoffnungslosen inneren Unfriedens, sondern
als ein Zeichen hochausgebildeter Freiheit; denn in weiten Kreisen der
Halbgebildeten herrschte noch von den ersten Zeiten der Revolution her,
wie Niebuhr mit Trauer bemerkte, die staatsfeindliche Ansicht: "daß die
ganze Aeußerung der Freiheit im Conflict besteht: im Conflict der Depu-
tirten und der Regierung, im Conflict des Einzelnen gegen den Souverän."
In Wahrheit hatten die Deutschen nur wenig zu lernen von der unnatür-
lichen Verquickung englischer Parlamentsbräuche mit napoleonischem Ver-
waltungsdespotismus, welche die Franzosen als constitutionelle Monarchie
rühmten. Was jetzt als neueste politische Weisheit aus Frankreich herüber-
kam, war für uns im Grunde nur ein Anachronismus, ein frischer Aufguß
jener durch Niebuhr und Savigny längst wissenschaftlich überwundenen
formalistischen Staatslehre, welche das Wesen der Freiheit allein in der
Verfassung suchte. Die Bewunderung des französischen Wesens wirkte jetzt
nur verwirrend und bethörend; sie entfremdete unsere Jugend dem Vater-
lande, sie raubte ihr die Ehrfurcht vor den Helden der Nation, sie verdarb
ihr das Verständniß für die vorhandenen Anfänge einer gesunden natio-
nalen Politik, sie vergiftete die ohnehin mächtige Mißstimmung noch künst-
lich durch die revolutionären Schlagworte und den maßlosen Parteihaß der
Nachbarn. Die jungen Deutschen, die in dem Bannkreise dieser französischen
Anschauungen aufwuchsen, wußten kaum, daß Gneisenau noch in voller
Manneskraft unter uns lebte, und von Motz hatten sie nie ein Wort
gehört; den General Foy, der in der Pariser Kammer die Tricolore, das
Banner der Marseillaise, für Frankreich zurückforderte, kannten und be-
wunderten sie alle.

III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Welt ſprach wieder von der Glorie der Baſtilleſtürmer, und in dies Selbſt-
lob der Franzoſen ſtimmte eine Schaar von Deutſchen, die mit jedem Jahre
wuchs, begeiſtert ein. Unwiderſtehlich drangen ſeit der Mitte der zwan-
ziger Jahre Frankreichs politiſche Ideen über den Rhein hinüber.

Niemals in aller Geſchichte hat ſich der Sieger ſo freiwillig unter
das Joch des Beſiegten gebeugt. Als Frankreich im Zeitalter Lud-
wig’s XIV. unſere Bildung beherrſchte, da konnte das entvölkerte und ver-
ſtümmelte Deutſchland von dem galliſchen Sieger faſt nur empfangen.
Jetzt behaupteten die Franzoſen nur noch in den exakten Wiſſenſchaften
den Vorrang, auf allen anderen Gebieten der Literatur und Kunſt waren
die Deutſchen ihnen ebenbürtig oder überlegen. Mochte der Deutſche ſeinen
Nachbarn um die früher errungene Staatseinheit mit Recht beneiden,
Preußen zum mindeſten beſaß in ſeiner nationalen Krone, ſeiner Wehr-
pflicht, ſeinem Schulweſen, ſeiner Selbſtverwaltung, ſeinem redlichen Be-
amtenthum alle die Grundlagen eines geordneten und freien politiſchen
Lebens, welche dem franzöſiſchen Staate fehlten. Aber der laute, von
den Pariſer Kammerrednern und Zeitungsſchreibern mit ſo glänzendem
Talent geführte Parteikampf erſchien der radicalen Jugend Deutſch-
lands nicht als ein Beweis hoffnungsloſen inneren Unfriedens, ſondern
als ein Zeichen hochausgebildeter Freiheit; denn in weiten Kreiſen der
Halbgebildeten herrſchte noch von den erſten Zeiten der Revolution her,
wie Niebuhr mit Trauer bemerkte, die ſtaatsfeindliche Anſicht: „daß die
ganze Aeußerung der Freiheit im Conflict beſteht: im Conflict der Depu-
tirten und der Regierung, im Conflict des Einzelnen gegen den Souverän.“
In Wahrheit hatten die Deutſchen nur wenig zu lernen von der unnatür-
lichen Verquickung engliſcher Parlamentsbräuche mit napoleoniſchem Ver-
waltungsdespotismus, welche die Franzoſen als conſtitutionelle Monarchie
rühmten. Was jetzt als neueſte politiſche Weisheit aus Frankreich herüber-
kam, war für uns im Grunde nur ein Anachronismus, ein friſcher Aufguß
jener durch Niebuhr und Savigny längſt wiſſenſchaftlich überwundenen
formaliſtiſchen Staatslehre, welche das Weſen der Freiheit allein in der
Verfaſſung ſuchte. Die Bewunderung des franzöſiſchen Weſens wirkte jetzt
nur verwirrend und bethörend; ſie entfremdete unſere Jugend dem Vater-
lande, ſie raubte ihr die Ehrfurcht vor den Helden der Nation, ſie verdarb
ihr das Verſtändniß für die vorhandenen Anfänge einer geſunden natio-
nalen Politik, ſie vergiftete die ohnehin mächtige Mißſtimmung noch künſt-
lich durch die revolutionären Schlagworte und den maßloſen Parteihaß der
Nachbarn. Die jungen Deutſchen, die in dem Bannkreiſe dieſer franzöſiſchen
Anſchauungen aufwuchſen, wußten kaum, daß Gneiſenau noch in voller
Manneskraft unter uns lebte, und von Motz hatten ſie nie ein Wort
gehört; den General Foy, der in der Pariſer Kammer die Tricolore, das
Banner der Marſeillaiſe, für Frankreich zurückforderte, kannten und be-
wunderten ſie alle.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0718" n="702"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 9. Literari&#x017F;che Vorboten einer neuen Zeit.</fw><lb/>
Welt &#x017F;prach wieder von der Glorie der Ba&#x017F;tille&#x017F;türmer, und in dies Selb&#x017F;t-<lb/>
lob der Franzo&#x017F;en &#x017F;timmte eine Schaar von Deut&#x017F;chen, die mit jedem Jahre<lb/>
wuchs, begei&#x017F;tert ein. Unwider&#x017F;tehlich drangen &#x017F;eit der Mitte der zwan-<lb/>
ziger Jahre Frankreichs politi&#x017F;che Ideen über den Rhein hinüber.</p><lb/>
          <p>Niemals in aller Ge&#x017F;chichte hat &#x017F;ich der Sieger &#x017F;o freiwillig unter<lb/>
das Joch des Be&#x017F;iegten gebeugt. Als Frankreich im Zeitalter Lud-<lb/>
wig&#x2019;s <hi rendition="#aq">XIV.</hi> un&#x017F;ere Bildung beherr&#x017F;chte, da konnte das entvölkerte und ver-<lb/>
&#x017F;tümmelte Deut&#x017F;chland von dem galli&#x017F;chen Sieger fa&#x017F;t nur empfangen.<lb/>
Jetzt behaupteten die Franzo&#x017F;en nur noch in den exakten Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
den Vorrang, auf allen anderen Gebieten der Literatur und Kun&#x017F;t waren<lb/>
die Deut&#x017F;chen ihnen ebenbürtig oder überlegen. Mochte der Deut&#x017F;che &#x017F;einen<lb/>
Nachbarn um die früher errungene Staatseinheit mit Recht beneiden,<lb/>
Preußen zum minde&#x017F;ten be&#x017F;aß in &#x017F;einer nationalen Krone, &#x017F;einer Wehr-<lb/>
pflicht, &#x017F;einem Schulwe&#x017F;en, &#x017F;einer Selb&#x017F;tverwaltung, &#x017F;einem redlichen Be-<lb/>
amtenthum alle die Grundlagen eines geordneten und freien politi&#x017F;chen<lb/>
Lebens, welche dem franzö&#x017F;i&#x017F;chen Staate fehlten. Aber der laute, von<lb/>
den Pari&#x017F;er Kammerrednern und Zeitungs&#x017F;chreibern mit &#x017F;o glänzendem<lb/>
Talent geführte Parteikampf er&#x017F;chien der radicalen Jugend Deut&#x017F;ch-<lb/>
lands nicht als ein Beweis hoffnungslo&#x017F;en inneren Unfriedens, &#x017F;ondern<lb/>
als ein Zeichen hochausgebildeter Freiheit; denn in weiten Krei&#x017F;en der<lb/>
Halbgebildeten herr&#x017F;chte noch von den er&#x017F;ten Zeiten der Revolution her,<lb/>
wie Niebuhr mit Trauer bemerkte, die &#x017F;taatsfeindliche An&#x017F;icht: &#x201E;daß die<lb/>
ganze Aeußerung der Freiheit im Conflict be&#x017F;teht: im Conflict der Depu-<lb/>
tirten und der Regierung, im Conflict des Einzelnen gegen den Souverän.&#x201C;<lb/>
In Wahrheit hatten die Deut&#x017F;chen nur wenig zu lernen von der unnatür-<lb/>
lichen Verquickung engli&#x017F;cher Parlamentsbräuche mit napoleoni&#x017F;chem Ver-<lb/>
waltungsdespotismus, welche die Franzo&#x017F;en als con&#x017F;titutionelle Monarchie<lb/>
rühmten. Was jetzt als neue&#x017F;te politi&#x017F;che Weisheit aus Frankreich herüber-<lb/>
kam, war für uns im Grunde nur ein Anachronismus, ein fri&#x017F;cher Aufguß<lb/>
jener durch Niebuhr und Savigny läng&#x017F;t wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich überwundenen<lb/>
formali&#x017F;ti&#x017F;chen Staatslehre, welche das We&#x017F;en der Freiheit allein in der<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;uchte. Die Bewunderung des franzö&#x017F;i&#x017F;chen We&#x017F;ens wirkte jetzt<lb/>
nur verwirrend und bethörend; &#x017F;ie entfremdete un&#x017F;ere Jugend dem Vater-<lb/>
lande, &#x017F;ie raubte ihr die Ehrfurcht vor den Helden der Nation, &#x017F;ie verdarb<lb/>
ihr das Ver&#x017F;tändniß für die vorhandenen Anfänge einer ge&#x017F;unden natio-<lb/>
nalen Politik, &#x017F;ie vergiftete die ohnehin mächtige Miß&#x017F;timmung noch kün&#x017F;t-<lb/>
lich durch die revolutionären Schlagworte und den maßlo&#x017F;en Parteihaß der<lb/>
Nachbarn. Die jungen Deut&#x017F;chen, die in dem Bannkrei&#x017F;e die&#x017F;er franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
An&#x017F;chauungen aufwuch&#x017F;en, wußten kaum, daß Gnei&#x017F;enau noch in voller<lb/>
Manneskraft unter uns lebte, und von Motz hatten &#x017F;ie nie ein Wort<lb/>
gehört; den General Foy, der in der Pari&#x017F;er Kammer die Tricolore, das<lb/>
Banner der Mar&#x017F;eillai&#x017F;e, für Frankreich zurückforderte, kannten und be-<lb/>
wunderten &#x017F;ie alle.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[702/0718] III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit. Welt ſprach wieder von der Glorie der Baſtilleſtürmer, und in dies Selbſt- lob der Franzoſen ſtimmte eine Schaar von Deutſchen, die mit jedem Jahre wuchs, begeiſtert ein. Unwiderſtehlich drangen ſeit der Mitte der zwan- ziger Jahre Frankreichs politiſche Ideen über den Rhein hinüber. Niemals in aller Geſchichte hat ſich der Sieger ſo freiwillig unter das Joch des Beſiegten gebeugt. Als Frankreich im Zeitalter Lud- wig’s XIV. unſere Bildung beherrſchte, da konnte das entvölkerte und ver- ſtümmelte Deutſchland von dem galliſchen Sieger faſt nur empfangen. Jetzt behaupteten die Franzoſen nur noch in den exakten Wiſſenſchaften den Vorrang, auf allen anderen Gebieten der Literatur und Kunſt waren die Deutſchen ihnen ebenbürtig oder überlegen. Mochte der Deutſche ſeinen Nachbarn um die früher errungene Staatseinheit mit Recht beneiden, Preußen zum mindeſten beſaß in ſeiner nationalen Krone, ſeiner Wehr- pflicht, ſeinem Schulweſen, ſeiner Selbſtverwaltung, ſeinem redlichen Be- amtenthum alle die Grundlagen eines geordneten und freien politiſchen Lebens, welche dem franzöſiſchen Staate fehlten. Aber der laute, von den Pariſer Kammerrednern und Zeitungsſchreibern mit ſo glänzendem Talent geführte Parteikampf erſchien der radicalen Jugend Deutſch- lands nicht als ein Beweis hoffnungsloſen inneren Unfriedens, ſondern als ein Zeichen hochausgebildeter Freiheit; denn in weiten Kreiſen der Halbgebildeten herrſchte noch von den erſten Zeiten der Revolution her, wie Niebuhr mit Trauer bemerkte, die ſtaatsfeindliche Anſicht: „daß die ganze Aeußerung der Freiheit im Conflict beſteht: im Conflict der Depu- tirten und der Regierung, im Conflict des Einzelnen gegen den Souverän.“ In Wahrheit hatten die Deutſchen nur wenig zu lernen von der unnatür- lichen Verquickung engliſcher Parlamentsbräuche mit napoleoniſchem Ver- waltungsdespotismus, welche die Franzoſen als conſtitutionelle Monarchie rühmten. Was jetzt als neueſte politiſche Weisheit aus Frankreich herüber- kam, war für uns im Grunde nur ein Anachronismus, ein friſcher Aufguß jener durch Niebuhr und Savigny längſt wiſſenſchaftlich überwundenen formaliſtiſchen Staatslehre, welche das Weſen der Freiheit allein in der Verfaſſung ſuchte. Die Bewunderung des franzöſiſchen Weſens wirkte jetzt nur verwirrend und bethörend; ſie entfremdete unſere Jugend dem Vater- lande, ſie raubte ihr die Ehrfurcht vor den Helden der Nation, ſie verdarb ihr das Verſtändniß für die vorhandenen Anfänge einer geſunden natio- nalen Politik, ſie vergiftete die ohnehin mächtige Mißſtimmung noch künſt- lich durch die revolutionären Schlagworte und den maßloſen Parteihaß der Nachbarn. Die jungen Deutſchen, die in dem Bannkreiſe dieſer franzöſiſchen Anſchauungen aufwuchſen, wußten kaum, daß Gneiſenau noch in voller Manneskraft unter uns lebte, und von Motz hatten ſie nie ein Wort gehört; den General Foy, der in der Pariſer Kammer die Tricolore, das Banner der Marſeillaiſe, für Frankreich zurückforderte, kannten und be- wunderten ſie alle.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/718
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/718>, abgerufen am 25.11.2024.