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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Landwehr.
-- ist bei diesem System gelähmt. Die politische Einheit des Staates
ist ganz etwas anderes als der Complexus aller seiner Theile. Daraus
folgt, was ich für den ersten aller Verwaltungsgrundsätze ansehe, daß die
Verwaltung von ihrem höchsten Punkt bis zum untersten eine ununter-
brochene Reihe bilden und die oberste Hand noch in dem untersten Druck
fühlbar sein muß. Wo das nicht ist kann man weder für die Güte der
Normen noch für die der Ausführung stehen. Der politische Ausdruck
der Einheit aber ist die Subordination; wo in einer Reihe Coordination
eintritt, da sind zwei und nicht mehr eins."*) --

Ebenso glücklich wie die neue Verwaltungsorganisation bestand auch
das Wehrgesetz alle Anfechtungen. Seit den Soldatenrevolutionen Süd-
europas betrachteten die fremden Höfe das preußische Volksheer noch arg-
wöhnischer denn zuvor. So oft der König mit fremden Souveränen zu-
sammentraf, bekam er freundschaftliche Warnungen zu hören. Wenn
fremde Offiziere den preußischen Manövern beiwohnten, dann zeigten sie
selten ein Verständniß für den kriegerischen Geist dieses Volks in Waffen,
und manche erzählten daheim arge Märchen von der demokratischen Zucht-
losigkeit der Landwehr. Im Lande selbst dagegen verstummte allmählich
jeder Widerspruch; der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war dem
Volke in Fleisch und Blut gedrungen. Der König gab um das Jahr
1824 seine letzten Bedenken auf, nachdem er sich mehrmals persönlich von
den achtungswerthen Leistungen der Landwehr überzeugt hatte; und seine
Generale stimmten nach und nach alle darin überein, daß der Staat nur
durch das Landwehrsystem seine Stellung unter den großen Militärmächten
behaupten könne. Kaum minder lebhaft als Gneisenau vertheidigte sein
alter Gegner Müffling die Ideen Scharnhorst's. Fragen Sie England,
Frankreich, Oesterreich, Rußland, ob man uns bezwingen wolle -- schrieb
er dem Prinzen August -- so werden sie antworten: "daß ein Krieg mit
uns ein höchst gewagtes Spiel ist, weil wir nichts anderes mehr führen
können als Nationalkriege. Freilich mag es den Herren unbequem sein
sich sagen zu müssen, das kleine unbedeutende Preußen wäre so leicht zu
bewehren. Von dem Tage, an welchem wir unser Landwehrsystem in
ein Beurlaubtensystem umwandeln sollten, sinkt der preußische Staat in
die Kategorie jedes anderen Staates herab, der 50 Mill. Thlr. Ein-
nahmen hat, während er jetzt auf einer ganz unberechenbaren Höhe steht,
da keine von allen uns umgebenden Nationen fähig ist, das Landwehr-
system in seinem ganzen moralischen Umfange einzuführen."**)

*) Auf diese Denkschrift habe ich in den Preußischen Jahrbüchern 1877 (XXXVIII,
406) aufmerksam gemacht. Inzwischen ist sie vollständig veröffentlicht in den "Weiteren
Beiträgen und Nachträgen zu den Papieren des Ministers von Schön." Berlin 1881.
S. 187. Vgl. Beilage 13.
**) Müffling, Denkschrift über die Landwehr (an Prinz August). Dem Staats-
kanzler überreicht 12. Juli 1821.

Die Landwehr.
— iſt bei dieſem Syſtem gelähmt. Die politiſche Einheit des Staates
iſt ganz etwas anderes als der Complexus aller ſeiner Theile. Daraus
folgt, was ich für den erſten aller Verwaltungsgrundſätze anſehe, daß die
Verwaltung von ihrem höchſten Punkt bis zum unterſten eine ununter-
brochene Reihe bilden und die oberſte Hand noch in dem unterſten Druck
fühlbar ſein muß. Wo das nicht iſt kann man weder für die Güte der
Normen noch für die der Ausführung ſtehen. Der politiſche Ausdruck
der Einheit aber iſt die Subordination; wo in einer Reihe Coordination
eintritt, da ſind zwei und nicht mehr eins.“*)

Ebenſo glücklich wie die neue Verwaltungsorganiſation beſtand auch
das Wehrgeſetz alle Anfechtungen. Seit den Soldatenrevolutionen Süd-
europas betrachteten die fremden Höfe das preußiſche Volksheer noch arg-
wöhniſcher denn zuvor. So oft der König mit fremden Souveränen zu-
ſammentraf, bekam er freundſchaftliche Warnungen zu hören. Wenn
fremde Offiziere den preußiſchen Manövern beiwohnten, dann zeigten ſie
ſelten ein Verſtändniß für den kriegeriſchen Geiſt dieſes Volks in Waffen,
und manche erzählten daheim arge Märchen von der demokratiſchen Zucht-
loſigkeit der Landwehr. Im Lande ſelbſt dagegen verſtummte allmählich
jeder Widerſpruch; der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war dem
Volke in Fleiſch und Blut gedrungen. Der König gab um das Jahr
1824 ſeine letzten Bedenken auf, nachdem er ſich mehrmals perſönlich von
den achtungswerthen Leiſtungen der Landwehr überzeugt hatte; und ſeine
Generale ſtimmten nach und nach alle darin überein, daß der Staat nur
durch das Landwehrſyſtem ſeine Stellung unter den großen Militärmächten
behaupten könne. Kaum minder lebhaft als Gneiſenau vertheidigte ſein
alter Gegner Müffling die Ideen Scharnhorſt’s. Fragen Sie England,
Frankreich, Oeſterreich, Rußland, ob man uns bezwingen wolle — ſchrieb
er dem Prinzen Auguſt — ſo werden ſie antworten: „daß ein Krieg mit
uns ein höchſt gewagtes Spiel iſt, weil wir nichts anderes mehr führen
können als Nationalkriege. Freilich mag es den Herren unbequem ſein
ſich ſagen zu müſſen, das kleine unbedeutende Preußen wäre ſo leicht zu
bewehren. Von dem Tage, an welchem wir unſer Landwehrſyſtem in
ein Beurlaubtenſyſtem umwandeln ſollten, ſinkt der preußiſche Staat in
die Kategorie jedes anderen Staates herab, der 50 Mill. Thlr. Ein-
nahmen hat, während er jetzt auf einer ganz unberechenbaren Höhe ſteht,
da keine von allen uns umgebenden Nationen fähig iſt, das Landwehr-
ſyſtem in ſeinem ganzen moraliſchen Umfange einzuführen.“**)

*) Auf dieſe Denkſchrift habe ich in den Preußiſchen Jahrbüchern 1877 (XXXVIII,
406) aufmerkſam gemacht. Inzwiſchen iſt ſie vollſtändig veröffentlicht in den „Weiteren
Beiträgen und Nachträgen zu den Papieren des Miniſters von Schön.“ Berlin 1881.
S. 187. Vgl. Beilage 13.
**) Müffling, Denkſchrift über die Landwehr (an Prinz Auguſt). Dem Staats-
kanzler überreicht 12. Juli 1821.
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[421/0437] Die Landwehr. — iſt bei dieſem Syſtem gelähmt. Die politiſche Einheit des Staates iſt ganz etwas anderes als der Complexus aller ſeiner Theile. Daraus folgt, was ich für den erſten aller Verwaltungsgrundſätze anſehe, daß die Verwaltung von ihrem höchſten Punkt bis zum unterſten eine ununter- brochene Reihe bilden und die oberſte Hand noch in dem unterſten Druck fühlbar ſein muß. Wo das nicht iſt kann man weder für die Güte der Normen noch für die der Ausführung ſtehen. Der politiſche Ausdruck der Einheit aber iſt die Subordination; wo in einer Reihe Coordination eintritt, da ſind zwei und nicht mehr eins.“ *) — Ebenſo glücklich wie die neue Verwaltungsorganiſation beſtand auch das Wehrgeſetz alle Anfechtungen. Seit den Soldatenrevolutionen Süd- europas betrachteten die fremden Höfe das preußiſche Volksheer noch arg- wöhniſcher denn zuvor. So oft der König mit fremden Souveränen zu- ſammentraf, bekam er freundſchaftliche Warnungen zu hören. Wenn fremde Offiziere den preußiſchen Manövern beiwohnten, dann zeigten ſie ſelten ein Verſtändniß für den kriegeriſchen Geiſt dieſes Volks in Waffen, und manche erzählten daheim arge Märchen von der demokratiſchen Zucht- loſigkeit der Landwehr. Im Lande ſelbſt dagegen verſtummte allmählich jeder Widerſpruch; der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war dem Volke in Fleiſch und Blut gedrungen. Der König gab um das Jahr 1824 ſeine letzten Bedenken auf, nachdem er ſich mehrmals perſönlich von den achtungswerthen Leiſtungen der Landwehr überzeugt hatte; und ſeine Generale ſtimmten nach und nach alle darin überein, daß der Staat nur durch das Landwehrſyſtem ſeine Stellung unter den großen Militärmächten behaupten könne. Kaum minder lebhaft als Gneiſenau vertheidigte ſein alter Gegner Müffling die Ideen Scharnhorſt’s. Fragen Sie England, Frankreich, Oeſterreich, Rußland, ob man uns bezwingen wolle — ſchrieb er dem Prinzen Auguſt — ſo werden ſie antworten: „daß ein Krieg mit uns ein höchſt gewagtes Spiel iſt, weil wir nichts anderes mehr führen können als Nationalkriege. Freilich mag es den Herren unbequem ſein ſich ſagen zu müſſen, das kleine unbedeutende Preußen wäre ſo leicht zu bewehren. Von dem Tage, an welchem wir unſer Landwehrſyſtem in ein Beurlaubtenſyſtem umwandeln ſollten, ſinkt der preußiſche Staat in die Kategorie jedes anderen Staates herab, der 50 Mill. Thlr. Ein- nahmen hat, während er jetzt auf einer ganz unberechenbaren Höhe ſteht, da keine von allen uns umgebenden Nationen fähig iſt, das Landwehr- ſyſtem in ſeinem ganzen moraliſchen Umfange einzuführen.“ **) *) Auf dieſe Denkſchrift habe ich in den Preußiſchen Jahrbüchern 1877 (XXXVIII, 406) aufmerkſam gemacht. Inzwiſchen iſt ſie vollſtändig veröffentlicht in den „Weiteren Beiträgen und Nachträgen zu den Papieren des Miniſters von Schön.“ Berlin 1881. S. 187. Vgl. Beilage 13. **) Müffling, Denkſchrift über die Landwehr (an Prinz Auguſt). Dem Staats- kanzler überreicht 12. Juli 1821.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/437>, abgerufen am 24.11.2024.