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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.

Aber wie unfertig war dies System noch in seiner Durchbildung,
wie weit stand die Wirklichkeit hinter dem Ideale der allgemeinen Wehr-
pflicht zurück. Der enge Rahmen des stehenden Heeres reichte kaum aus
um die Hälfte der Dienstfähigen aufzunehmen. Auch der Nothbehelf der
Landwehr-Rekruten bewährte sich schlecht; diese mangelhaft ausgebildeten
Krümper paßten am wenigsten zu den altgedienten Wehrmännern. Da
der unüberschreitbare Ausgabenetat schlechterdings keine Vermehrung der
Linientruppen gestattete, so schien nur noch ein Mittel übrig, um mindestens
die Mehrzahl der Wehrpflichtigen durch die Schule des stehenden Heeres
gehen zu lassen: die Herabsetzung der Dienstzeit auf zwei Jahre. Diesen
Ausweg empfahlen Müffling und mehrere andere Generale, der König
aber trug Bedenken, die ohnehin allzu schwache Linienarmee auch noch in
ihrer technischen Ausbildung zu schädigen. Die falsche Sparsamkeit des
Kriegsministers Hake, der den dringenden Mahnungen der Finanzver-
waltung nie zu widersprechen wagte, wurde bereits zur Verschwendung, da
die Ausgaben für das Heer ihren Zweck nicht mehr ganz erreichten. Die
Kriegstüchtigkeit der Landwehr sank, seit das zweite Aufgebot gar nicht
mehr, das erste nur noch einmal jährlich auf vierzehn Tage zu Uebungen
einberufen wurde. Für die schleunige Mobilmachung des Heeres war nur
mangelhaft vorgesorgt; der Generalstab, der im Kriege 100 Offiziere brauchte,
mußte sich im Frieden mit 44 begnügen, wovon 26 an die Armeecorps
vertheilt waren. Mit Sorge berechneten die Generale, daß Preußen bei
plötzlich einbrechender Kriegsgefahr seine Rüstungen zwar vielleicht etwas
schneller als die Nachbarstaaten beenden könne, aber nicht schnell genug
um mit Sicherheit die Offensive zu ergreifen, welche dem Charakter und
den Ueberlieferungen dieses Heeres entsprach.

Auch die preußische Armee blieb nicht unberührt von der Erstarrung,
welche in dieser langen Friedenszeit alle großen Heere Europas, am ärgsten
das österreichische, überfiel. Das Avancement stockte gänzlich, Leutnants mit
zwanzig Dienstjahren waren schon nicht selten; kein Regiment, das nicht
einige überzählige Offiziere in den Listen führte. Die Formen des Dienstes,
die sich während des Krieges etwas aufgelockert hatten, wurden wieder
mit altpreußischer Peinlichkeit gehandhabt, denn der König erkannte, daß
bei so kurzer Dienstzeit die Mannschaft nur durch unnachsichtliche Strenge
militärisch erzogen werden konnte; aber auch die unfruchtbaren Künste des
Exercirplatzes erlangten wieder eine übermäßige Geltung. Bei vielen In-
fanterieregimentern wurde auf Lehrschritt und Parademarsch mehr Werth
gelegt, als auf Felddienst und Schießübungen. Mancher General der
Cavallerie meinte das Höchste gelungen, wenn er seine Schwadronen in
schnurgerader Front -- die Pferde scharf gezäumt, stark versammelt und
mit hoch aufgerichteten Hälsen -- in feierlichem kurzem Galopp oder Trab
defiliren sah; die wichtigste Aufgabe der Reiterei, das rasche Durchmessen
weiter Entfernungen, fand wenig Beachtung. Selbst die Allgemeine Kriegs-

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.

Aber wie unfertig war dies Syſtem noch in ſeiner Durchbildung,
wie weit ſtand die Wirklichkeit hinter dem Ideale der allgemeinen Wehr-
pflicht zurück. Der enge Rahmen des ſtehenden Heeres reichte kaum aus
um die Hälfte der Dienſtfähigen aufzunehmen. Auch der Nothbehelf der
Landwehr-Rekruten bewährte ſich ſchlecht; dieſe mangelhaft ausgebildeten
Krümper paßten am wenigſten zu den altgedienten Wehrmännern. Da
der unüberſchreitbare Ausgabenetat ſchlechterdings keine Vermehrung der
Linientruppen geſtattete, ſo ſchien nur noch ein Mittel übrig, um mindeſtens
die Mehrzahl der Wehrpflichtigen durch die Schule des ſtehenden Heeres
gehen zu laſſen: die Herabſetzung der Dienſtzeit auf zwei Jahre. Dieſen
Ausweg empfahlen Müffling und mehrere andere Generale, der König
aber trug Bedenken, die ohnehin allzu ſchwache Linienarmee auch noch in
ihrer techniſchen Ausbildung zu ſchädigen. Die falſche Sparſamkeit des
Kriegsminiſters Hake, der den dringenden Mahnungen der Finanzver-
waltung nie zu widerſprechen wagte, wurde bereits zur Verſchwendung, da
die Ausgaben für das Heer ihren Zweck nicht mehr ganz erreichten. Die
Kriegstüchtigkeit der Landwehr ſank, ſeit das zweite Aufgebot gar nicht
mehr, das erſte nur noch einmal jährlich auf vierzehn Tage zu Uebungen
einberufen wurde. Für die ſchleunige Mobilmachung des Heeres war nur
mangelhaft vorgeſorgt; der Generalſtab, der im Kriege 100 Offiziere brauchte,
mußte ſich im Frieden mit 44 begnügen, wovon 26 an die Armeecorps
vertheilt waren. Mit Sorge berechneten die Generale, daß Preußen bei
plötzlich einbrechender Kriegsgefahr ſeine Rüſtungen zwar vielleicht etwas
ſchneller als die Nachbarſtaaten beenden könne, aber nicht ſchnell genug
um mit Sicherheit die Offenſive zu ergreifen, welche dem Charakter und
den Ueberlieferungen dieſes Heeres entſprach.

Auch die preußiſche Armee blieb nicht unberührt von der Erſtarrung,
welche in dieſer langen Friedenszeit alle großen Heere Europas, am ärgſten
das öſterreichiſche, überfiel. Das Avancement ſtockte gänzlich, Leutnants mit
zwanzig Dienſtjahren waren ſchon nicht ſelten; kein Regiment, das nicht
einige überzählige Offiziere in den Liſten führte. Die Formen des Dienſtes,
die ſich während des Krieges etwas aufgelockert hatten, wurden wieder
mit altpreußiſcher Peinlichkeit gehandhabt, denn der König erkannte, daß
bei ſo kurzer Dienſtzeit die Mannſchaft nur durch unnachſichtliche Strenge
militäriſch erzogen werden konnte; aber auch die unfruchtbaren Künſte des
Exercirplatzes erlangten wieder eine übermäßige Geltung. Bei vielen In-
fanterieregimentern wurde auf Lehrſchritt und Parademarſch mehr Werth
gelegt, als auf Felddienſt und Schießübungen. Mancher General der
Cavallerie meinte das Höchſte gelungen, wenn er ſeine Schwadronen in
ſchnurgerader Front — die Pferde ſcharf gezäumt, ſtark verſammelt und
mit hoch aufgerichteten Hälſen — in feierlichem kurzem Galopp oder Trab
defiliren ſah; die wichtigſte Aufgabe der Reiterei, das raſche Durchmeſſen
weiter Entfernungen, fand wenig Beachtung. Selbſt die Allgemeine Kriegs-

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[422/0438] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. Aber wie unfertig war dies Syſtem noch in ſeiner Durchbildung, wie weit ſtand die Wirklichkeit hinter dem Ideale der allgemeinen Wehr- pflicht zurück. Der enge Rahmen des ſtehenden Heeres reichte kaum aus um die Hälfte der Dienſtfähigen aufzunehmen. Auch der Nothbehelf der Landwehr-Rekruten bewährte ſich ſchlecht; dieſe mangelhaft ausgebildeten Krümper paßten am wenigſten zu den altgedienten Wehrmännern. Da der unüberſchreitbare Ausgabenetat ſchlechterdings keine Vermehrung der Linientruppen geſtattete, ſo ſchien nur noch ein Mittel übrig, um mindeſtens die Mehrzahl der Wehrpflichtigen durch die Schule des ſtehenden Heeres gehen zu laſſen: die Herabſetzung der Dienſtzeit auf zwei Jahre. Dieſen Ausweg empfahlen Müffling und mehrere andere Generale, der König aber trug Bedenken, die ohnehin allzu ſchwache Linienarmee auch noch in ihrer techniſchen Ausbildung zu ſchädigen. Die falſche Sparſamkeit des Kriegsminiſters Hake, der den dringenden Mahnungen der Finanzver- waltung nie zu widerſprechen wagte, wurde bereits zur Verſchwendung, da die Ausgaben für das Heer ihren Zweck nicht mehr ganz erreichten. Die Kriegstüchtigkeit der Landwehr ſank, ſeit das zweite Aufgebot gar nicht mehr, das erſte nur noch einmal jährlich auf vierzehn Tage zu Uebungen einberufen wurde. Für die ſchleunige Mobilmachung des Heeres war nur mangelhaft vorgeſorgt; der Generalſtab, der im Kriege 100 Offiziere brauchte, mußte ſich im Frieden mit 44 begnügen, wovon 26 an die Armeecorps vertheilt waren. Mit Sorge berechneten die Generale, daß Preußen bei plötzlich einbrechender Kriegsgefahr ſeine Rüſtungen zwar vielleicht etwas ſchneller als die Nachbarſtaaten beenden könne, aber nicht ſchnell genug um mit Sicherheit die Offenſive zu ergreifen, welche dem Charakter und den Ueberlieferungen dieſes Heeres entſprach. Auch die preußiſche Armee blieb nicht unberührt von der Erſtarrung, welche in dieſer langen Friedenszeit alle großen Heere Europas, am ärgſten das öſterreichiſche, überfiel. Das Avancement ſtockte gänzlich, Leutnants mit zwanzig Dienſtjahren waren ſchon nicht ſelten; kein Regiment, das nicht einige überzählige Offiziere in den Liſten führte. Die Formen des Dienſtes, die ſich während des Krieges etwas aufgelockert hatten, wurden wieder mit altpreußiſcher Peinlichkeit gehandhabt, denn der König erkannte, daß bei ſo kurzer Dienſtzeit die Mannſchaft nur durch unnachſichtliche Strenge militäriſch erzogen werden konnte; aber auch die unfruchtbaren Künſte des Exercirplatzes erlangten wieder eine übermäßige Geltung. Bei vielen In- fanterieregimentern wurde auf Lehrſchritt und Parademarſch mehr Werth gelegt, als auf Felddienſt und Schießübungen. Mancher General der Cavallerie meinte das Höchſte gelungen, wenn er ſeine Schwadronen in ſchnurgerader Front — die Pferde ſcharf gezäumt, ſtark verſammelt und mit hoch aufgerichteten Hälſen — in feierlichem kurzem Galopp oder Trab defiliren ſah; die wichtigſte Aufgabe der Reiterei, das raſche Durchmeſſen weiter Entfernungen, fand wenig Beachtung. Selbſt die Allgemeine Kriegs-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/438>, abgerufen am 24.11.2024.