Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.Canning und die Unabhängigkeit Südamerikas. sollte die Handelsherrschaft Englands treten, und für England allerdingseröffnete sich damit die Aussicht auf glückliche neue Jahrhunderte. Auch die Vereinigten Staaten ließ er über seine Absichten nicht im Zweifel, er erklärte ihnen sehr bestimmt, daß er die Monroe-Doctrin "Amerika für die Amerikaner" keineswegs anerkenne. Aber das englische Handelsinteresse entsprach in der That augenblicklich dem großen Zuge der Geschichte, den Lebensbedingungen der jungen Völkerwelt des Westens und nicht minder den Hoffnungen des Liberalismus, der längst nach einem Gegengewicht gegen die große Allianz verlangte. Arglos stimmte daher die gesammte liberale Welt in den wohlberechtigten nationalen Freudenruf der Briten ein und wiederholte frohlockend den Ausspruch Canning's: "ich rief die neue Welt ins Leben um das Gleichgewicht in der alten herzustellen." Fast noch lauter erklang die Zustimmung, als Canning bald darauf durch eine kühne Flottenfahrt nach Lissabon zugleich den Portugiesen ihre neue constitutionelle Staatsordnung und der englischen Handelspolitik ihren alten Brückenkopf sicherte. So endete die spanische Restauration mit einer schweren Niederlage der Ostmächte; sie erwarb ihren Urhebern nur neuen Haß und schenkte den amerikanischen Rebellen die Unabhängigkeit, der britischen Flagge ein unermeßliches Handelsgebiet. -- Auch die Wirren in Osteuropa konnte Metternich nicht mit der Be- Canning und die Unabhängigkeit Südamerikas. ſollte die Handelsherrſchaft Englands treten, und für England allerdingseröffnete ſich damit die Ausſicht auf glückliche neue Jahrhunderte. Auch die Vereinigten Staaten ließ er über ſeine Abſichten nicht im Zweifel, er erklärte ihnen ſehr beſtimmt, daß er die Monroe-Doctrin „Amerika für die Amerikaner“ keineswegs anerkenne. Aber das engliſche Handelsintereſſe entſprach in der That augenblicklich dem großen Zuge der Geſchichte, den Lebensbedingungen der jungen Völkerwelt des Weſtens und nicht minder den Hoffnungen des Liberalismus, der längſt nach einem Gegengewicht gegen die große Allianz verlangte. Arglos ſtimmte daher die geſammte liberale Welt in den wohlberechtigten nationalen Freudenruf der Briten ein und wiederholte frohlockend den Ausſpruch Canning’s: „ich rief die neue Welt ins Leben um das Gleichgewicht in der alten herzuſtellen.“ Faſt noch lauter erklang die Zuſtimmung, als Canning bald darauf durch eine kühne Flottenfahrt nach Liſſabon zugleich den Portugieſen ihre neue conſtitutionelle Staatsordnung und der engliſchen Handelspolitik ihren alten Brückenkopf ſicherte. So endete die ſpaniſche Reſtauration mit einer ſchweren Niederlage der Oſtmächte; ſie erwarb ihren Urhebern nur neuen Haß und ſchenkte den amerikaniſchen Rebellen die Unabhängigkeit, der britiſchen Flagge ein unermeßliches Handelsgebiet. — Auch die Wirren in Oſteuropa konnte Metternich nicht mit der Be- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0373" n="357"/><fw place="top" type="header">Canning und die Unabhängigkeit Südamerikas.</fw><lb/> ſollte die Handelsherrſchaft Englands treten, und für England allerdings<lb/> eröffnete ſich damit die Ausſicht auf glückliche neue Jahrhunderte. Auch<lb/> die Vereinigten Staaten ließ er über ſeine Abſichten nicht im Zweifel, er<lb/> erklärte ihnen ſehr beſtimmt, daß er die Monroe-Doctrin „Amerika für<lb/> die Amerikaner“ keineswegs anerkenne. 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Sein Urtheil über die türkiſchen<lb/> Dinge faßte er zuſammen in dem monumentalen Satze: „was man die<lb/> orientaliſche Frage nennt iſt nur eine Frage zwiſchen Rußland und dem<lb/> übrigen Europa; in der Türkei giebt es keine orientaliſche Frage!“ Dieſer<lb/> Weisheitsſpruch war durchaus nach dem Sinne des Meiſters. Was küm-<lb/> merten den Wiener Hof die Verhöhnung des Kreuzes durch den Halbmond<lb/> und das himmelſchreiende Elend der Rajahvölker, wenn nur Rußlands<lb/> Einmiſchung abgewendet und der treueſte Alliirte, der Sultan in ſeinem<lb/> legitimen Beſitzſtande geſichert wurde! Metternich rühmte ſich geradezu dieſer<lb/> gedankenloſen Unfruchtbarkeit und meinte: „die diplomatiſch ſtärkſte Stellung<lb/> iſt ſtets die Defenſive.“ Er fand, die griechiſche Frage ſei „die leichteſte<lb/> von allen“ — ſchade nur daß die anderen Staatsmänner nicht ebenſo weiſe<lb/> waren wie er ſelber, der erfüllt „von unüberwindlichem Haß gegen Worte<lb/> und Phraſen, ſich ſtets zu Thaten getrieben fühlte! Meine Stellung iſt<lb/> ein Fels, an dem die Fluth ſich brechen wird. Der Fels fordert nicht<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [357/0373]
Canning und die Unabhängigkeit Südamerikas.
ſollte die Handelsherrſchaft Englands treten, und für England allerdings
eröffnete ſich damit die Ausſicht auf glückliche neue Jahrhunderte. Auch
die Vereinigten Staaten ließ er über ſeine Abſichten nicht im Zweifel, er
erklärte ihnen ſehr beſtimmt, daß er die Monroe-Doctrin „Amerika für
die Amerikaner“ keineswegs anerkenne. Aber das engliſche Handelsintereſſe
entſprach in der That augenblicklich dem großen Zuge der Geſchichte, den
Lebensbedingungen der jungen Völkerwelt des Weſtens und nicht minder
den Hoffnungen des Liberalismus, der längſt nach einem Gegengewicht
gegen die große Allianz verlangte. Arglos ſtimmte daher die geſammte
liberale Welt in den wohlberechtigten nationalen Freudenruf der Briten
ein und wiederholte frohlockend den Ausſpruch Canning’s: „ich rief die
neue Welt ins Leben um das Gleichgewicht in der alten herzuſtellen.“
Faſt noch lauter erklang die Zuſtimmung, als Canning bald darauf durch
eine kühne Flottenfahrt nach Liſſabon zugleich den Portugieſen ihre neue
conſtitutionelle Staatsordnung und der engliſchen Handelspolitik ihren
alten Brückenkopf ſicherte. So endete die ſpaniſche Reſtauration mit einer
ſchweren Niederlage der Oſtmächte; ſie erwarb ihren Urhebern nur neuen
Haß und ſchenkte den amerikaniſchen Rebellen die Unabhängigkeit, der
britiſchen Flagge ein unermeßliches Handelsgebiet. —
Auch die Wirren in Oſteuropa konnte Metternich nicht mit der Be-
friedigung des Siegers betrachten. Das Geheimniß ſeiner orientaliſchen
Politik hat Niemand beſſer errathen als ſein gelehriger Schüler Haupt-
mann Prokeſch, ein federgewandter, betriebſamer, mehr durch großſpreche-
riſche Anmaßung als durch echtes Talent ausgezeichneter junger Diplomat,
der in Wien für ein Genie gehalten und ſeit dem Jahre 1824 zur Beob-
achtung des Orients verwendet wurde. Prokeſch’s Berichte galten in der
Hofburg als Orakelſprüche, weil er die glückliche Gabe beſaß Alles zu
ſehen was er ſehen wollte und demnach die griechiſchen Rebellen einfach
als ein verkommenes Geſindel darſtellte. Sein Urtheil über die türkiſchen
Dinge faßte er zuſammen in dem monumentalen Satze: „was man die
orientaliſche Frage nennt iſt nur eine Frage zwiſchen Rußland und dem
übrigen Europa; in der Türkei giebt es keine orientaliſche Frage!“ Dieſer
Weisheitsſpruch war durchaus nach dem Sinne des Meiſters. Was küm-
merten den Wiener Hof die Verhöhnung des Kreuzes durch den Halbmond
und das himmelſchreiende Elend der Rajahvölker, wenn nur Rußlands
Einmiſchung abgewendet und der treueſte Alliirte, der Sultan in ſeinem
legitimen Beſitzſtande geſichert wurde! Metternich rühmte ſich geradezu dieſer
gedankenloſen Unfruchtbarkeit und meinte: „die diplomatiſch ſtärkſte Stellung
iſt ſtets die Defenſive.“ Er fand, die griechiſche Frage ſei „die leichteſte
von allen“ — ſchade nur daß die anderen Staatsmänner nicht ebenſo weiſe
waren wie er ſelber, der erfüllt „von unüberwindlichem Haß gegen Worte
und Phraſen, ſich ſtets zu Thaten getrieben fühlte! Meine Stellung iſt
ein Fels, an dem die Fluth ſich brechen wird. Der Fels fordert nicht
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