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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Metternich in Tegernsee.
Sophie verloben sollte; um des österreichischen Bündnisses willen hatte
sich der zärtliche Vater doch entschlossen, die Hand der schönen und klugen
Prinzessin diesem von der Natur gar stiefmütterlich behandelten zweiten
Sohne des Kaisers Franz zu schenken. Während die fürstlichen Herr-
schaften ihr glänzendes Familienfest feierten, unterhandelte Metternich ins-
geheim mit Rechberg, Wrede, Zentner, und legte ihnen zunächst die Denk-
schrift Münch's vor. Vorsichtig warf der Oesterreicher sodann die Frage
auf, ob nicht bei dieser Gelegenheit auch die dringend nöthige Abänderung
der neuen Landesverfassungen von Bundeswegen versucht werden könne.
Der Anlaß zu dieser Frage kam wieder von dem unverbesserlich reaktio-
nären badischen Hofe. Während der jüngsten Monate hatten die Ultras
in Karlsruhe nicht aufgehört, ihrem Wiener Beschützer die Befestigung des
monarchischen Princips, die Schließung der Zuhörertribünen in den Kam-
mern, die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit ans Herz zu legen;
im Januar war Berstett selbst nach Frankfurt geeilt um mit Münch wegen
der Bändigung des badischen Landtags zu verhandeln.*) Zu Metternich's
freudiger Ueberraschung nahm nicht blos Rechberg diese Eröffnungen
freundlich auf, sondern auch Zentner. Derselbe Mann, der vor kaum
fünf Jahren die Karlsbader Beschlüsse so eifrig bekämpft hatte, hielt jetzt
ihre Verlängerung für dringend nöthig. So unwiderstehlich riß die reaktio-
näre Strömung der Zeit auch die Besonnenen mit sich fort. Alle leiten-
den Staatsmänner Deutschlands, bis auf verschwindende Ausnahmen,
bekannten sich nunmehr offen zu Gentz's frechem Ausspruch: "das oberste
Gesetz des europäischen Bundes heißt Censur." Allen erschien es ruchlos,
unbegreiflich, daß die auf den Schlachtfeldern Südeuropas unterlegene
Revolution noch immer lebte, daß die geschlagene Partei noch zu reden
wagte und die Todten -- so höhnte Gentz -- wie Banquo's Schatten die
Lebendigen von ihren Stühlen trieben. In eine tiefgreifende Umgestal-
tung der Landesverfassungen wollte Zentner allerdings nicht willigen, doch
die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen -- "dieses erste und in
seinen täglichen Ausbrüchen größte aller neueren Uebel", wie Metternich
sich ausdrückte -- hielt auch er für verderblich, und auf das Andringen
des Oesterreichers legte er endlich (28. Mai) seine Vorschläge in einem
Aufsatze nieder, welcher die kühnsten Hoffnungen der Hofburg übertraf.**)

Die Denkschrift verlangte, daß Oesterreich in einem Präsidialvortrage
dem Bundestage die "bei scheinbarer äußerer Ruhe" noch fortwährende
bedrohliche Thätigkeit der revolutionären Parteien darstellen und darauf-
hin die Verlängerung der Karlsbader Beschlüsse, soweit sie nicht ohnedies

*) Berstett an Metternich, 5. April 1824 u. s. w. Küster's Berichte, 8., 22. Jan. 1824.
**) Zentner's Denkschrift steht wortgetreu abgedruckt in Ilse's Gesch. d. d. Bundes-
versammlung II, 341. Das Schriftstück hingegen, welches in Metternich's hinterlassenen
Papieren IV, 120 fälschlich für Zentner's Arbeit ausgegeben wird, ist in Wahrheit -- das
Promemoria Münch-Bellinghausen's vom 6. Jan. 1824. Näheres in Beilage 12.

Metternich in Tegernſee.
Sophie verloben ſollte; um des öſterreichiſchen Bündniſſes willen hatte
ſich der zärtliche Vater doch entſchloſſen, die Hand der ſchönen und klugen
Prinzeſſin dieſem von der Natur gar ſtiefmütterlich behandelten zweiten
Sohne des Kaiſers Franz zu ſchenken. Während die fürſtlichen Herr-
ſchaften ihr glänzendes Familienfeſt feierten, unterhandelte Metternich ins-
geheim mit Rechberg, Wrede, Zentner, und legte ihnen zunächſt die Denk-
ſchrift Münch’s vor. Vorſichtig warf der Oeſterreicher ſodann die Frage
auf, ob nicht bei dieſer Gelegenheit auch die dringend nöthige Abänderung
der neuen Landesverfaſſungen von Bundeswegen verſucht werden könne.
Der Anlaß zu dieſer Frage kam wieder von dem unverbeſſerlich reaktio-
nären badiſchen Hofe. Während der jüngſten Monate hatten die Ultras
in Karlsruhe nicht aufgehört, ihrem Wiener Beſchützer die Befeſtigung des
monarchiſchen Princips, die Schließung der Zuhörertribünen in den Kam-
mern, die Aufhebung der akademiſchen Gerichtsbarkeit ans Herz zu legen;
im Januar war Berſtett ſelbſt nach Frankfurt geeilt um mit Münch wegen
der Bändigung des badiſchen Landtags zu verhandeln.*) Zu Metternich’s
freudiger Ueberraſchung nahm nicht blos Rechberg dieſe Eröffnungen
freundlich auf, ſondern auch Zentner. Derſelbe Mann, der vor kaum
fünf Jahren die Karlsbader Beſchlüſſe ſo eifrig bekämpft hatte, hielt jetzt
ihre Verlängerung für dringend nöthig. So unwiderſtehlich riß die reaktio-
näre Strömung der Zeit auch die Beſonnenen mit ſich fort. Alle leiten-
den Staatsmänner Deutſchlands, bis auf verſchwindende Ausnahmen,
bekannten ſich nunmehr offen zu Gentz’s frechem Ausſpruch: „das oberſte
Geſetz des europäiſchen Bundes heißt Cenſur.“ Allen erſchien es ruchlos,
unbegreiflich, daß die auf den Schlachtfeldern Südeuropas unterlegene
Revolution noch immer lebte, daß die geſchlagene Partei noch zu reden
wagte und die Todten — ſo höhnte Gentz — wie Banquo’s Schatten die
Lebendigen von ihren Stühlen trieben. In eine tiefgreifende Umgeſtal-
tung der Landesverfaſſungen wollte Zentner allerdings nicht willigen, doch
die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen — „dieſes erſte und in
ſeinen täglichen Ausbrüchen größte aller neueren Uebel“, wie Metternich
ſich ausdrückte — hielt auch er für verderblich, und auf das Andringen
des Oeſterreichers legte er endlich (28. Mai) ſeine Vorſchläge in einem
Aufſatze nieder, welcher die kühnſten Hoffnungen der Hofburg übertraf.**)

Die Denkſchrift verlangte, daß Oeſterreich in einem Präſidialvortrage
dem Bundestage die „bei ſcheinbarer äußerer Ruhe“ noch fortwährende
bedrohliche Thätigkeit der revolutionären Parteien darſtellen und darauf-
hin die Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe, ſoweit ſie nicht ohnedies

*) Berſtett an Metternich, 5. April 1824 u. ſ. w. Küſter’s Berichte, 8., 22. Jan. 1824.
**) Zentner’s Denkſchrift ſteht wortgetreu abgedruckt in Ilſe’s Geſch. d. d. Bundes-
verſammlung II, 341. Das Schriftſtück hingegen, welches in Metternich’s hinterlaſſenen
Papieren IV, 120 fälſchlich für Zentner’s Arbeit ausgegeben wird, iſt in Wahrheit — das
Promemoria Münch-Bellinghauſen’s vom 6. Jan. 1824. Näheres in Beilage 12.
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[335/0351] Metternich in Tegernſee. Sophie verloben ſollte; um des öſterreichiſchen Bündniſſes willen hatte ſich der zärtliche Vater doch entſchloſſen, die Hand der ſchönen und klugen Prinzeſſin dieſem von der Natur gar ſtiefmütterlich behandelten zweiten Sohne des Kaiſers Franz zu ſchenken. Während die fürſtlichen Herr- ſchaften ihr glänzendes Familienfeſt feierten, unterhandelte Metternich ins- geheim mit Rechberg, Wrede, Zentner, und legte ihnen zunächſt die Denk- ſchrift Münch’s vor. Vorſichtig warf der Oeſterreicher ſodann die Frage auf, ob nicht bei dieſer Gelegenheit auch die dringend nöthige Abänderung der neuen Landesverfaſſungen von Bundeswegen verſucht werden könne. Der Anlaß zu dieſer Frage kam wieder von dem unverbeſſerlich reaktio- nären badiſchen Hofe. Während der jüngſten Monate hatten die Ultras in Karlsruhe nicht aufgehört, ihrem Wiener Beſchützer die Befeſtigung des monarchiſchen Princips, die Schließung der Zuhörertribünen in den Kam- mern, die Aufhebung der akademiſchen Gerichtsbarkeit ans Herz zu legen; im Januar war Berſtett ſelbſt nach Frankfurt geeilt um mit Münch wegen der Bändigung des badiſchen Landtags zu verhandeln. *) Zu Metternich’s freudiger Ueberraſchung nahm nicht blos Rechberg dieſe Eröffnungen freundlich auf, ſondern auch Zentner. Derſelbe Mann, der vor kaum fünf Jahren die Karlsbader Beſchlüſſe ſo eifrig bekämpft hatte, hielt jetzt ihre Verlängerung für dringend nöthig. So unwiderſtehlich riß die reaktio- näre Strömung der Zeit auch die Beſonnenen mit ſich fort. Alle leiten- den Staatsmänner Deutſchlands, bis auf verſchwindende Ausnahmen, bekannten ſich nunmehr offen zu Gentz’s frechem Ausſpruch: „das oberſte Geſetz des europäiſchen Bundes heißt Cenſur.“ Allen erſchien es ruchlos, unbegreiflich, daß die auf den Schlachtfeldern Südeuropas unterlegene Revolution noch immer lebte, daß die geſchlagene Partei noch zu reden wagte und die Todten — ſo höhnte Gentz — wie Banquo’s Schatten die Lebendigen von ihren Stühlen trieben. In eine tiefgreifende Umgeſtal- tung der Landesverfaſſungen wollte Zentner allerdings nicht willigen, doch die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen — „dieſes erſte und in ſeinen täglichen Ausbrüchen größte aller neueren Uebel“, wie Metternich ſich ausdrückte — hielt auch er für verderblich, und auf das Andringen des Oeſterreichers legte er endlich (28. Mai) ſeine Vorſchläge in einem Aufſatze nieder, welcher die kühnſten Hoffnungen der Hofburg übertraf. **) Die Denkſchrift verlangte, daß Oeſterreich in einem Präſidialvortrage dem Bundestage die „bei ſcheinbarer äußerer Ruhe“ noch fortwährende bedrohliche Thätigkeit der revolutionären Parteien darſtellen und darauf- hin die Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe, ſoweit ſie nicht ohnedies *) Berſtett an Metternich, 5. April 1824 u. ſ. w. Küſter’s Berichte, 8., 22. Jan. 1824. **) Zentner’s Denkſchrift ſteht wortgetreu abgedruckt in Ilſe’s Geſch. d. d. Bundes- verſammlung II, 341. Das Schriftſtück hingegen, welches in Metternich’s hinterlaſſenen Papieren IV, 120 fälſchlich für Zentner’s Arbeit ausgegeben wird, iſt in Wahrheit — das Promemoria Münch-Bellinghauſen’s vom 6. Jan. 1824. Näheres in Beilage 12.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/351>, abgerufen am 25.11.2024.