Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.Verständigung der drei Ostmächte. peinlich. Nur die Preußen stimmten dem Oesterreicher zu. Die übrigenBevollmächtigten beobachteten ein verlegenes Stillschweigen; denn der ge- heime Wiener Vertrag war bisher dem französischen, wahrscheinlich auch dem russischen Hofe ganz unbekannt geblieben, und indem die Hofburg sich darauf berief, gab sie unzweideutig zu verstehen, daß sie Neapel als ihr Vasallenland ansah, daß sie dort nicht eine gemäßigte Regierung, sondern "die alten monarchischen Institutionen", den Absolutismus wieder- herstellen wollte. Am 2. November ließ der Czar die österreichische Denk- schrift beantworten; er fand es anstößig, daß die großen Mächte sich auf die Klagen des meineidigen Bourbonen berufen sollten, und wünschte durch einen Aufruf die Neapolitaner über ihre politische Unabhängigkeit zu beruhigen; jedenfalls müsse man den Schein vermeiden, als ob die Intervention nicht um Europas willen, sondern zum Besten einer ein- zigen Macht erfolge. Die preußischen Staatsmänner erriethen sogleich, wie wenig Wider- Welch ein Gedanke! Dieser meineidige Bourbone, der von allen Mit- *) Preußische Denkschrift, 28. Okt.; russische Denkschrift, 2. Nov.; Hardenberg's und Bernstorff's Bericht, 4. Nov.; Bernstorff an Ancillon, 8. Nov.; Hardenberg's Tage- buch, 7., 10. Nov. 1820. 11*
Verſtändigung der drei Oſtmächte. peinlich. Nur die Preußen ſtimmten dem Oeſterreicher zu. Die übrigenBevollmächtigten beobachteten ein verlegenes Stillſchweigen; denn der ge- heime Wiener Vertrag war bisher dem franzöſiſchen, wahrſcheinlich auch dem ruſſiſchen Hofe ganz unbekannt geblieben, und indem die Hofburg ſich darauf berief, gab ſie unzweideutig zu verſtehen, daß ſie Neapel als ihr Vaſallenland anſah, daß ſie dort nicht eine gemäßigte Regierung, ſondern „die alten monarchiſchen Inſtitutionen“, den Abſolutismus wieder- herſtellen wollte. Am 2. November ließ der Czar die öſterreichiſche Denk- ſchrift beantworten; er fand es anſtößig, daß die großen Mächte ſich auf die Klagen des meineidigen Bourbonen berufen ſollten, und wünſchte durch einen Aufruf die Neapolitaner über ihre politiſche Unabhängigkeit zu beruhigen; jedenfalls müſſe man den Schein vermeiden, als ob die Intervention nicht um Europas willen, ſondern zum Beſten einer ein- zigen Macht erfolge. Die preußiſchen Staatsmänner erriethen ſogleich, wie wenig Wider- Welch ein Gedanke! Dieſer meineidige Bourbone, der von allen Mit- *) Preußiſche Denkſchrift, 28. Okt.; ruſſiſche Denkſchrift, 2. Nov.; Hardenberg’s und Bernſtorff’s Bericht, 4. Nov.; Bernſtorff an Ancillon, 8. Nov.; Hardenberg’s Tage- buch, 7., 10. Nov. 1820. 11*
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Verſtändigung der drei Oſtmächte.
peinlich. Nur die Preußen ſtimmten dem Oeſterreicher zu. Die übrigen
Bevollmächtigten beobachteten ein verlegenes Stillſchweigen; denn der ge-
heime Wiener Vertrag war bisher dem franzöſiſchen, wahrſcheinlich auch
dem ruſſiſchen Hofe ganz unbekannt geblieben, und indem die Hofburg
ſich darauf berief, gab ſie unzweideutig zu verſtehen, daß ſie Neapel
als ihr Vaſallenland anſah, daß ſie dort nicht eine gemäßigte Regierung,
ſondern „die alten monarchiſchen Inſtitutionen“, den Abſolutismus wieder-
herſtellen wollte. Am 2. November ließ der Czar die öſterreichiſche Denk-
ſchrift beantworten; er fand es anſtößig, daß die großen Mächte ſich
auf die Klagen des meineidigen Bourbonen berufen ſollten, und wünſchte
durch einen Aufruf die Neapolitaner über ihre politiſche Unabhängigkeit
zu beruhigen; jedenfalls müſſe man den Schein vermeiden, als ob die
Intervention nicht um Europas willen, ſondern zum Beſten einer ein-
zigen Macht erfolge.
Die preußiſchen Staatsmänner erriethen ſogleich, wie wenig Wider-
ſtandskraft aus dieſen wohlgemeinten Bedenken ſprach; ſie ſetzten ihre
vermittelnde Thätigkeit eifrig fort, und am 6. Nov. erlebte der kranke
Bernſtorff die Genugthuung, daß ſich die Staatsmänner der Kaiſerhöfe
vor ſeinem Bett leidlich ausſöhnten. Am folgenden Tage erklärte Ruß-
land im Weſentlichen ſeine Zuſtimmung zu den Plänen Metternich’s, und
fortan hielten die Vertreter der drei Oſtmächte unter ſich vertrauliche Confe-
renzen, ohne die Weſtmächte einer Mittheilung zu würdigen. Noch waren
ſie nicht völlig handelseins. Der Czar erbot ſich noch einmal, in Neapel
zunächſt eine Vermittlung zu verſuchen, jedoch die beiden deutſchen Mächte
verwarfen den Vorſchlag, weil Rußland mit ſeinen Verbündeten durchaus
auf einer Linie bleiben müſſe (10. Nov.). Als die Ruſſen das Zimmer
verlaſſen hatten, überraſchte Metternich ſeine preußiſchen Freunde durch
einen neuen Einfall, der dem Czaren eine goldene Brücke bauen ſollte. *)
Wie nun, wenn man den König Ferdinand einlud, perſönlich vor dem
Congreſſe zu erſcheinen? Ließen ihn ſeine Miniſter nicht ziehen, dann
war ſeine Unfreiheit erwieſen und das Einſchreiten des öſterreichiſchen
Heeres vor aller Welt gerechtfertigt; folgte er der Ladung, ſo konnte er
ſein unglückliches Land mit den europäiſchen Mächten verſöhnen.
Welch ein Gedanke! Dieſer meineidige Bourbone, der von allen Mit-
gliedern des Congreſſes gleichmäßig verachtet wurde, der ſoeben ſein eigenes
Volk vor den Großmächten leidenſchaftlich verklagt hatte, er ſollte den Ver-
mittler ſpielen zwiſchen Europa und ſeinem Lande! Aber der ſchlaue Plan
ſchmeichelte ſich ein durch den Schein des Wohlwollens. Es klang gar
ſo menſchenfreundlich und entſprach auch buchſtäblich den Aachener Ver-
*) Preußiſche Denkſchrift, 28. Okt.; ruſſiſche Denkſchrift, 2. Nov.; Hardenberg’s
und Bernſtorff’s Bericht, 4. Nov.; Bernſtorff an Ancillon, 8. Nov.; Hardenberg’s Tage-
buch, 7., 10. Nov. 1820.
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