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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Italien und die Großmächte.
der Oesterreichische Beobachter den getreuen Unterthanen, der Geist des
Verderbens habe sich eines glücklichen, weise verwalteten Landes bemäch-
tigt, und alsbald erklärte Metternich dem preußischen Gesandten seinen
festen Entschluß, diesen Aufruhr um jeden Preis niederzuwerfen.*) Er
sah nicht nur die Machtstellung Oesterreichs in dem einen ihrer beiden
mitteleuropäischen Bollwerke bedroht, er durfte sich auch über Verletzung
der Verträge beschweren, da die italienischen Bourbonen ihm in dem ge-
heimen Wiener Vertrage vom 12. Juni 1815 versprochen hatten, ihre
alten monarchischen Institutionen nicht zu verändern. Mit rastlosem Eifer
bereitete er seinen Gegenschlag vor. Selbst der Verlust einer zweiten Tochter,
der ihn in diesem Frühjahr getroffen hatte, lähmte ihm die Thatkraft
nicht, obgleich er im häuslichen Leben nicht ohne Gemüth war und die
zweifache Heimsuchung schwer empfand. Bei dem kläglichen Zustande des
Heeres und des Staatshaushalts schritten die Rüstungen freilich sehr lang-
sam vorwärts; es währte viele Wochen, bis die Garnisonen in dem un-
ruhigen Oberitalien genügend verstärkt waren, und dann noch mehrere
Monate, bis man den Kreuzzug nach Unteritalien wagen konnte. Metter-
nich mußte dies wissen; die Unwahrheit war ihm aber schon so zur an-
dern Natur geworden, daß er sich nicht enthalten konnte, selbst in einem
Privatbriefe, wo die Lüge gar keinen Zweck hatte, mit dem ruhigen und
doch raschen Vorschreiten der Rüstungen Oesterreichs zu prahlen. Auch
bei Leipzig, fuhr er fort, habe dies bescheidene alte Oesterreich zwei Drittel
des gesammten verbündeten Heeres auf das Schlachtfeld gestellt, während
sich in Wahrheit unter den 255,000 Mann der Verbündeten nur etwa
100,000 Oesterreicher befunden hatten. Zum würdigen Abschluß seines
Selbstlobes fügte er noch hinzu: "wir sind recht schlechte Marktschreier!"

Doch was verschlug es, wenn die Rüstung sich etwas verspätete?
Der Ausgang eines Krieges gegen Neapel war um so weniger zweifelhaft,
da die Stimmung der großen Mächte den Plänen der Hofburg zu statten
kam. Die italienische Revolution wurde an allen Höfen von Haus aus
ungleich härter verurtheilt als die spanische Erhebung, schon weil die Re-
gierung von Neapel bei Weitem nicht so übel berufen war wie die allgemein
mißachtete Madrider Camarilla. Inmitten der streitenden Interessen und
der wechselseitigen Eifersucht unserer Staatengesellschaft kann jede Nation
nur durch die vollendete That das Recht ihres Daseins erweisen und sich
die Achtung der Nachbarn erzwingen. Da der Bau der Wiener Ver-
träge auf der politischen Nichtigkeit der beiden Culturvölker Mitteleuropas
ruhte, so galt es unter den Staatsmännern dieses Zeitalters jahrzehnte-
lang als ein Glaubenssatz, daß die Italiener zu nationaler Selbständig-
keit gänzlich unfähig seien. Und leider thaten auch die preußischen Diplo-
maten das Ihre um dies allgemeine Vorurtheil zu nähren; sie ahnten

*) Krusemark's Bericht, 2. Aug. 1820.

Italien und die Großmächte.
der Oeſterreichiſche Beobachter den getreuen Unterthanen, der Geiſt des
Verderbens habe ſich eines glücklichen, weiſe verwalteten Landes bemäch-
tigt, und alsbald erklärte Metternich dem preußiſchen Geſandten ſeinen
feſten Entſchluß, dieſen Aufruhr um jeden Preis niederzuwerfen.*) Er
ſah nicht nur die Machtſtellung Oeſterreichs in dem einen ihrer beiden
mitteleuropäiſchen Bollwerke bedroht, er durfte ſich auch über Verletzung
der Verträge beſchweren, da die italieniſchen Bourbonen ihm in dem ge-
heimen Wiener Vertrage vom 12. Juni 1815 verſprochen hatten, ihre
alten monarchiſchen Inſtitutionen nicht zu verändern. Mit raſtloſem Eifer
bereitete er ſeinen Gegenſchlag vor. Selbſt der Verluſt einer zweiten Tochter,
der ihn in dieſem Frühjahr getroffen hatte, lähmte ihm die Thatkraft
nicht, obgleich er im häuslichen Leben nicht ohne Gemüth war und die
zweifache Heimſuchung ſchwer empfand. Bei dem kläglichen Zuſtande des
Heeres und des Staatshaushalts ſchritten die Rüſtungen freilich ſehr lang-
ſam vorwärts; es währte viele Wochen, bis die Garniſonen in dem un-
ruhigen Oberitalien genügend verſtärkt waren, und dann noch mehrere
Monate, bis man den Kreuzzug nach Unteritalien wagen konnte. Metter-
nich mußte dies wiſſen; die Unwahrheit war ihm aber ſchon ſo zur an-
dern Natur geworden, daß er ſich nicht enthalten konnte, ſelbſt in einem
Privatbriefe, wo die Lüge gar keinen Zweck hatte, mit dem ruhigen und
doch raſchen Vorſchreiten der Rüſtungen Oeſterreichs zu prahlen. Auch
bei Leipzig, fuhr er fort, habe dies beſcheidene alte Oeſterreich zwei Drittel
des geſammten verbündeten Heeres auf das Schlachtfeld geſtellt, während
ſich in Wahrheit unter den 255,000 Mann der Verbündeten nur etwa
100,000 Oeſterreicher befunden hatten. Zum würdigen Abſchluß ſeines
Selbſtlobes fügte er noch hinzu: „wir ſind recht ſchlechte Marktſchreier!“

Doch was verſchlug es, wenn die Rüſtung ſich etwas verſpätete?
Der Ausgang eines Krieges gegen Neapel war um ſo weniger zweifelhaft,
da die Stimmung der großen Mächte den Plänen der Hofburg zu ſtatten
kam. Die italieniſche Revolution wurde an allen Höfen von Haus aus
ungleich härter verurtheilt als die ſpaniſche Erhebung, ſchon weil die Re-
gierung von Neapel bei Weitem nicht ſo übel berufen war wie die allgemein
mißachtete Madrider Camarilla. Inmitten der ſtreitenden Intereſſen und
der wechſelſeitigen Eiferſucht unſerer Staatengeſellſchaft kann jede Nation
nur durch die vollendete That das Recht ihres Daſeins erweiſen und ſich
die Achtung der Nachbarn erzwingen. Da der Bau der Wiener Ver-
träge auf der politiſchen Nichtigkeit der beiden Culturvölker Mitteleuropas
ruhte, ſo galt es unter den Staatsmännern dieſes Zeitalters jahrzehnte-
lang als ein Glaubensſatz, daß die Italiener zu nationaler Selbſtändig-
keit gänzlich unfähig ſeien. Und leider thaten auch die preußiſchen Diplo-
maten das Ihre um dies allgemeine Vorurtheil zu nähren; ſie ahnten

*) Kruſemark’s Bericht, 2. Aug. 1820.
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[155/0171] Italien und die Großmächte. der Oeſterreichiſche Beobachter den getreuen Unterthanen, der Geiſt des Verderbens habe ſich eines glücklichen, weiſe verwalteten Landes bemäch- tigt, und alsbald erklärte Metternich dem preußiſchen Geſandten ſeinen feſten Entſchluß, dieſen Aufruhr um jeden Preis niederzuwerfen. *) Er ſah nicht nur die Machtſtellung Oeſterreichs in dem einen ihrer beiden mitteleuropäiſchen Bollwerke bedroht, er durfte ſich auch über Verletzung der Verträge beſchweren, da die italieniſchen Bourbonen ihm in dem ge- heimen Wiener Vertrage vom 12. Juni 1815 verſprochen hatten, ihre alten monarchiſchen Inſtitutionen nicht zu verändern. Mit raſtloſem Eifer bereitete er ſeinen Gegenſchlag vor. Selbſt der Verluſt einer zweiten Tochter, der ihn in dieſem Frühjahr getroffen hatte, lähmte ihm die Thatkraft nicht, obgleich er im häuslichen Leben nicht ohne Gemüth war und die zweifache Heimſuchung ſchwer empfand. Bei dem kläglichen Zuſtande des Heeres und des Staatshaushalts ſchritten die Rüſtungen freilich ſehr lang- ſam vorwärts; es währte viele Wochen, bis die Garniſonen in dem un- ruhigen Oberitalien genügend verſtärkt waren, und dann noch mehrere Monate, bis man den Kreuzzug nach Unteritalien wagen konnte. Metter- nich mußte dies wiſſen; die Unwahrheit war ihm aber ſchon ſo zur an- dern Natur geworden, daß er ſich nicht enthalten konnte, ſelbſt in einem Privatbriefe, wo die Lüge gar keinen Zweck hatte, mit dem ruhigen und doch raſchen Vorſchreiten der Rüſtungen Oeſterreichs zu prahlen. Auch bei Leipzig, fuhr er fort, habe dies beſcheidene alte Oeſterreich zwei Drittel des geſammten verbündeten Heeres auf das Schlachtfeld geſtellt, während ſich in Wahrheit unter den 255,000 Mann der Verbündeten nur etwa 100,000 Oeſterreicher befunden hatten. Zum würdigen Abſchluß ſeines Selbſtlobes fügte er noch hinzu: „wir ſind recht ſchlechte Marktſchreier!“ Doch was verſchlug es, wenn die Rüſtung ſich etwas verſpätete? Der Ausgang eines Krieges gegen Neapel war um ſo weniger zweifelhaft, da die Stimmung der großen Mächte den Plänen der Hofburg zu ſtatten kam. Die italieniſche Revolution wurde an allen Höfen von Haus aus ungleich härter verurtheilt als die ſpaniſche Erhebung, ſchon weil die Re- gierung von Neapel bei Weitem nicht ſo übel berufen war wie die allgemein mißachtete Madrider Camarilla. Inmitten der ſtreitenden Intereſſen und der wechſelſeitigen Eiferſucht unſerer Staatengeſellſchaft kann jede Nation nur durch die vollendete That das Recht ihres Daſeins erweiſen und ſich die Achtung der Nachbarn erzwingen. Da der Bau der Wiener Ver- träge auf der politiſchen Nichtigkeit der beiden Culturvölker Mitteleuropas ruhte, ſo galt es unter den Staatsmännern dieſes Zeitalters jahrzehnte- lang als ein Glaubensſatz, daß die Italiener zu nationaler Selbſtändig- keit gänzlich unfähig ſeien. Und leider thaten auch die preußiſchen Diplo- maten das Ihre um dies allgemeine Vorurtheil zu nähren; ſie ahnten *) Kruſemark’s Bericht, 2. Aug. 1820.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/171>, abgerufen am 25.11.2024.